von Volker Friebel
Claus Hansson & Ilse Jacobson (2020): ausgesetzt dem Wind. Haiku-Vielfalt. BoD, Norderstedt. 160 Seiten, 9,50 € (eBuch 4,99 €).
Ein schönes Buch, das zeigt gleich der geschmackvoll gestaltete Einband! Und der Inhalt? Im Taschenbuchformat finde ich auf 160 Seiten eine „Haiku-Vielfalt“ von zwei Autoren, mit zahlreichen Haiku und haiku-artigen Kurzgedichten, einigen Tanka, einigen Kettengedichten (Tan-Renga und Renhai), zwei Haibun. Die meisten Seiten enthalten einen Text des Autors und einen Text der Autorin, Kettengedichte nehmen immer eine Seite ein.
blätterrauschen …
beginne
die leere zu lieben
Ilse Jacobson
Vermisst die Autorin das Rauschen der Blätter, spricht sie also aus einer Erinnerung? Oder werden ihre Gedanken vom Rauschen der Blätter bewegt: Es ist Herbst, bald fällt das Laub und der Winter ist da?
Eine Bewegung, ein Vergehen der Zeit jedenfalls wird angesprochen. Und gar nicht mal die Erwartung genannt, die kahlen Bäume, der Winter, sondern das eigene Gefühl, das schon auf den Umgang mit der Veränderung, auf das Neue sich einschwingt.
Ist das nicht schön, im Sommer sich auf den Herbst, im Herbst auf den Winter, im Winter auf den Frühling, im Frühling auf den Sommer freuen zu können?
Der zögernde Ton des Haiku macht mich lächeln: Ja, manchmal müssen wir unseren Gefühlen ein wenig nachhelfen. Vor allem im Herbst.
voller Schwermut
er vergreift sich
am Akkordeon
Claus Hansson
Wie unser Verhalten von unseren Gefühlen beeinflusst wird. Nicht nur, dass Gefühle uns dazu bringen, dies und jenes zu tun. Sie beeinflussen auch die Art, wie wir etwas tun.
Ein Gefühl führt zu einem Fehler, der Musiker verspielt sich – so etwas ist selten zu lesen. Die Schwermut lässt vielleicht erst zum Akkordeon greifen – aber sie beugt nicht nur das Gemüt, sondern auch die Finger.
Dass das Gefühl, dass „Schwermut“ direkt benannt ist, werden manche als Fehler des Haiku ansehen. Eigentlich sollten keine Erklärungen im Text gegeben werden, auch Gefühle sollten durch ihre Anzeichen, durch beobachtbares Verhalten auszudrücken sein. Aber es gibt keine Dogmen. Manchmal ist die direkte Benennung des Gefühls dennoch der beste, der einfachste Weg.
Fischfang
im Käscher stumm
der Mond
Ilse Jacobson
Ein raffinierter Text. Den Mond als stumm zu bezeichnen, ist eigentlich belanglos, natürlich ist er das. Aber das „stumm“ zieht es, ja reißt es mächtig nach vorne, zum Anfang des Textes, zu den Fischen. Zwar stimmt es gar nicht, dass Fische stumm sind, aber als Redewendung ist es uns geläufig: „stumm wie ein Fisch“.
Auch die Verbindung von „Fisch“ und „stumm“, ist also eigentlich banal. Und dennoch ist „stumm“ offensichtlich das Zentrum des Textes und außerdem das Wort, das die beiden Enden verbindet.
Die Autorin sagt gar nichts dazu, tippt mit ihren Worten und der Art, wie sie gesetzt sind, nur die Assoziationskraft der Leser an.
In dieser Offenheit mag mancher Leser eine romantische Nacht am See erinnern. Mancher wird eine Anklage eben dieser schönen Nacht, durch den spiegelnden Mond darin vermuten, warum denn die Schönheit zu betrachten nicht genügt, warum ein Handeln, Besitzergreifen, Töten dazukommen muss.
Die möglichen Assoziationen sind breit. Und dennoch wirkt der sparsame Text nicht beliebig. Es wird nichts im Text weggelassen, um ihn durch künstliche Offenheit interessanter scheinen zu lassen, das geschilderte Bild ist vollständig. Das ist Offenheit, die den Leser nicht zu überreden braucht, sondern in die er sich gern begibt.
altes Pallholz
geblieben vom Traum
eine Möwe ruft
Claus Hansson
Pallholz ist Rüstholz, lese ich, das sind Keile oder Bohlen, die etwa von der Feuerwehr zur Sicherung von Gruben und Fahrzeugen mitgeführt werden. Da der Autor auf einer Werft tätig war und eine Möwe erwähnt wird, dürfte hier die Verwendung beim Bau oder der Reparatur eines Schiffes Hintergrund sein.
Ein altes Nutzholz jedenfalls, zu was es gut war, welche Träume es mit erfüllen half, liegt im Dunkel, ist wohl schon lang von der Zeit überholt. Aber die Möwe, die damals für die Weite, die Freiheit, den offenen Horizont stand, ruft noch immer.
Es ist nicht dieselbe Möwe wie damals, aber der Traum ist derselbe. Liegt Wehmut darin, wenn wir alte Träume erinnern? Und Nachsicht? Oder Trauer? Verbitterung? Oder Rührung? Freude?
Das ist die Stelle, an der der Autor sein Haiku uns Lesern überlässt, in die Offenheit. Die Stimmung des Textes ist weniger durch die ungenannten Erfahrungen des Autors und weit mehr aus den Lebenserfahrungen oder den Lebenshoffnungen des Lesers bestimmt.
Einige weitere Haiku zeigen die Vielzahl der Themen, die „Haiku-Vielfalt“, wie es im Untertitel des Buchs heißt.
Könnte ich Güte malen …
Großmutters Augen
Ilse Jacobson
Schwäne rufen
durch den Nebel –
er legt Holz nach
Claus Hansson
sonnenwarm
die Kiesel in meiner Hand
erzählen
Ilse Jacobson
das alte Boot
wie es kämpft
mit der Brandung
Claus Hansson
Ein nicht nur schönes, sondern auch gehaltvolles Buch, das zu lesen Freude macht!