Stationen eines Haiku

Wolfgang Beutke

 

August 87. Auf dem Wege von Jacksonville nach Miami Beach verließ ich am späten Nachmittag den Highway 95 und mietete mich in einem dieser staubigen, heruntergekommenen Motels ein. Ich glaube, ich war der einzige Gast. Das übliche verschlissene Mobiliar, die Wände schon seit Jahren nicht renoviert. Ich saß auf der Bettkante und beobachtete, wie die letzten Sonnenstrahlen über die dunklen Tapeten wanderten. Es war ganz still und ich sah mich selbst in einem dieser melancholischen Bilder Edward Hoppers. Gleichzeitig eine Art Deja Vu, das mich schlagartig zurückführte in den

Herbst 57. Wir wohnten damals in einer der um 1900 entstandenen Mietskasernen in Berlin. Quergebäude, vier Treppen, direkt unter dem Dachboden mit Blick auf den Hinterhof. Ich war Schlüsselkind und nach der Schule allein in der elterlichen Wohnung. An den späten Nachmittagen betrachtete ich oft die Reflektionen der untergehenden Sonne auf den Tapeten: Es herrschte tiefe Stille.

Die Melancholie dieser Momente sollte der Ausgangpunkt für ein Haiku werden.

Zwei Zeilen warteten schon lange darauf, Bestandteil dieses Haiku zu werden:

„Wie die Sonne verglüht
auf alten Tapeten“

Den ersten spontanen Lösungsversuch verortete ich zunächst in den USA:

„Highway Motel –
wie die Sonne verglüht
auf alten Tapeten“

Obwohl die erste Zeile Hoppers melancholische Gemälde berührte und dadurch den zweiten Teil noch verstärkte, war ich nicht zufrieden mit dieser Fassung, denn ich fand das englische Fragment in diesem Kontext weniger passend.

Ich versuchte das Haiku allgemeiner zu fassen. Das hatte den Vorteil, dass die Leser ihre eigenen Erfahrungen einbringen konnten.

„Schweigende Stunde –
wie die Sonne verglüht auf
alten Tapeten“

Die Personifizierung der Stunde führte aus meiner Sicht zu einer schwachen Zeile und somit auch nicht zum Erfolg. Lange Zeit war ich dann mit:

„Stille Stunde –
wie die Sonne verglüht auf
alten Tapeten“

zufrieden, zumal die Lautung (Alliteration und Assonanz) dem Ganzen mehr Gelenkigkeit verlieh. Doch je öfter ich diesen Entwurf las, desto klarer wurde mir, dass eine „punch line“ fehlte, sowie ein zweites Bild, mit dem ein weiteres Fenster geöffnet werden könnte.

Ich legte erneut den Text zur Seite und wartete auf einen glücklichen Moment, einen Zufall.

Immer wieder reiste ich in Gedanken durch Zeit und Raum, um Orte zu finden, die mir vielleicht das noch fehlende Bild schenken könnten. Schließlich kam mir Amsterdam in den Sinn, die kleine Kammer der Anne Frank in der Prinsengracht 263, in der sie sich ab 1942 zwei Jahre versteckt hielt. 1974 besuchte ich mit meiner Frau die Gedenkstätte. Die kleine Kammer im Hinterhaus, hoch oben unter dem Dach, hatte sich tief in mein Gedächtnis gegraben. Der nächste Versuch war zunächst folgerichtig:

Prinsengracht …
wie die Sonne verglüht auf
alten Tapeten

Mit der ersten Zeile hatte ich zumindest das zweite Bild und damit ein weiteres Fenster des Haiku geöffnet.
Doch war mir jetzt alles zu direkt, und eine „punch line“ fehlte immer noch. Ich stellte wieder einmal um und gestaltete das Haiku erneut allgemeiner:

Wie die Sonne verglüht auf
alten Tapeten …
im Schatten die Gracht

Mit diesem Entwurf löste ich die sehr enge Verbindung zu Amsterdam und gestaltete mit Assonanz die dritte Zeile, die gleichzeitig einen Gegenpol bildete und somit den Fluss der Bewegung innerhalb des Haiku sicherstellte. Doch wurde mir sehr schnell klar, dass der Bezug zu Anne Frank verloren gegangen war.

Auf jeden Fall wollte ich dieses Anne-Frank-Fenster für alle Leser geöffnet halten und nichts dem Zufall überlassen, denn während der Entwicklung des Textes wurde mir dieser Bezug immer wichtiger.

Mit dem Zusatz:

In Memoriam
Annelies Marie „Anne“ Frank
2. Juni 1929 – März 1944)

verknüpfte ich daher dieses Haiku mit Anne Frank.

Ich habe es sehr zögerlich getan, weil dieser Zusatz den Lesern viel Freiraum für eigene Gedanken nimmt.

Doch der Fluss zwischen den Gegenpolen Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Wärme und Kälte, Hoffnung und Angst, immanente und transzendente Wirklichkeit, oder wie es Wilhelm Bodmershof nennt „die große Spannung zwischen Diesseits und Jenseits“ bestimmen nach wie vor den Text und bieten somit den Lesern noch genügend freie Räume, in denen sie ihre Haikugedanken verwirklichen können:

Wie die Sonne verglüht auf
alten Tapeten …
im Schatten die Gracht

In Memoriam
Annelies Marie „Anne“ Frank
12. Juni 1929 – März 1944

Fazit: Ausgehend von einer Kindheitserinnerung in Berlin und einer späteren Reiseerinnerung in den USA transformierte ich schließlich den Text ins Amsterdam der 40iger Jahre. Es war keine geradlinige Reise sondern ein kurvenreicher Pfad durch Raum und Zeit, der schließlich mit „In Memoriam“, einem Haiku „Stolperstein“, endete.

 

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“
(Gunter Demnig)

 

Ersteinstellung: 15.07.2013