Vorwort zum Schwerpunkt-Thema
Haiku und Tanka – zwei Formen der japanischen Lyrik, die auf den ersten Blick verwandt scheinen. Beide sind kurz, beide halten sich in ihrer traditionellen Variante an ein Versschema, dessen Zeilen aus 5 bzw. 7 Moren zusammengesetzt sind, auch scheint ihnen die Nähe zur Natur gemeinsam zu sein. Doch sehen wir von den zwei Zeilen mehr einmal ab, worin liegen wirklich die Unterschiede? Kann man, vom Haiku her kommend, einfach zwei Zeilen hinzufügen und das Endprodukt als Tanka bezeichnen? Welches Potenzial birgt das Tanka im Unterschied zum Haiku?
Wir gehen in einem Schwerpunkt diesen und weiteren Fragen nach und stellen zudem einige neue deutsche Tanka vor.
Im Mittelpunkt steht ein Interview mit Ingrid Kunschke, die sowohl Haiku als auch Tanka schreibt, sich aber seit einigen Jahren mit Erfolg vornehmlich dem Tanka widmet.
Ishikawa Takuboku (1886-1912) ist einer der populärsten Dichter Japans. Er hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlichen Anteil an einer Modernisierung der Tanka-Dichtung. Am 20. Dezember 1910 publizierte die Tôkyô Asahi Shinbun sein Essay „Uta no iroiro“ (Verschiedenes über das Tanka), aus dem wir den Teil „Trauriges Spielzeug“, in deutscher Übersetzung erschienen im Insel Verlag, übernehmen. [Veröffentlichungserlaubnis des Insel-Verlags abgelaufen]
Ingrid Kunschke hat die Haiku-heute-Redakteure Gerd Börner, Dietmar Tauchner und Udo Wenzel bei ihren Versuchen unterstützt, Tanka zu schreiben. Zudem hat sie uns mehrere Tanka, eine Tanka-Sequenz und zwei Prosa-Stücke mit Tanka zur Veröffentlichung bereitgestellt.
Ruth Franke beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der amerikanischen Haiku- und Tanka-Dichtung. In Sommergras, der Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, hat sie bereits einige Autoren vorgestellt. Wir bringen von ihr eine Rezension zu einem kürzlich erschienenen Tanka- und Haiku-Buch des amerikanischen Autors Michael McClintock. Die Rezension, die bereits in frogpond erschien, hat Ruth Franke für Haiku-heute in eine deutsche Fassung gebracht.
Werner Reichhold, der in den USA lebende langjährige Förderer des Haiku, des Tanka und ganz besonders der „symbiotischen Poesie“, schickte uns Ruf in Rot, eine Gedichtfolge, die formal als Tanka-Sequenz bezeichnet werden kann, inhaltlich und stilistisch aber ungewöhnliche Wege geht, indem sie sich abwendet von der gewohnten Orientierung am klaren und leicht verständlichen Bild. Zur Einführung zitieren wir einige erklärende Worte des Autors aus einem Briefwechsel.
Last but not least freuen wir uns besonders, dass die renommierte amerikanische Haiku- und Tanka-Dichterin und Übersetzerin Jane Reichhold uns fünf ihrer Tanka auf Deutsch und Englisch zur Verfügung gestellt hat und uns damit einen Einblick in ihr Werk gibt.
Ersteinstellung: 10.09.2006