Rue Sedaine, 11 pm

Michael Denhoff

 

Paris, 1. Oktober 2007

Es ist etwa 23 Uhr.

Ich habe beide Fenster des kleinen Dach-Studios in der Rue Sedaine, das ich gemietet habe, weit geöffnet. Die Luft ist feucht. Es hatte tagsüber etwas geregnet, aber noch immer, auch zu dieser Stunde, ist es angenehm mild draußen.

Schon oft war ich hier, meist, um unabgelenkt von Familie, Schülern, Telefon (und neuerlich auch den Versuchungen, die uns das unendliche Kommunikationsnetz des Internets bietet) arbeiten zu können. Irgendwie scheint mir diese Stadt, die ich seit Studententagen so liebe, wohlgesonnen: jedesmal fand ich hier das, was ich erhoffte: In gewisser asketischer Zurückgezogenheit gelang stets die nötige Konzentration auf das, was im Kopf zwar schon seit Längerem „gärte“, was aber über ein paar skizzenhafte Ansätze noch nicht hinausgekommen war. (Hier entstanden zuletzt die „Skulptur III“, die „Neuf hommages brefs“ und die vier ersten Teile von „In unum Deum“.)

Seit drei Tagen wohne ich nun wieder in der Rue Sedaine. Diesmal ist allerdings alles ein bißchen anders. Seitdem Wolfgang dieses Studio nicht mehr besitzt, man es aber nun zu einem angemessen und für Pariser Verhältnisse günstigen Preis mieten kann, ist aus einer etwas verkramten aber durchaus atmosphärischen Bohemien-Wohnung (mit Toilette auf dem Gang) ein professionell konzipiertes Einzimmer-Appartement geworden.

Als ich diesmal die Tür aufschloß, war ich überrascht über diese gravierende Änderung, dachte aber gleich, hier ist alles so aufgeräumt, hell und freundlich eingerichtet, da wirst du wieder gut arbeiten können. Es gibt einen großen Schreibtisch und in der kleinen Kochnische ist alles Nötige vorhanden. Was brauchst du mehr?

Kaum angekommen, hatte ich gleich Notenpapier, Bleistift und Radiergummi (… der wichtigste Gegenstand auf meinem Schreibtisch! …) genommen und begonnen, das zu Hause schon Skizzierte weiterzudenken. Und tatsächlich gelang recht schnell der konkrete Einstieg in die Ausarbeitung der ersten Entwürfe.

Diesmal ist es ein Ensemble-Stück für zehn Musiker, mit dem ich hier ein gutes Stück vorankommen möchte. Vom WDR erhielt ich kürzlich den Auftrag, ein neues Stück für das Prager Agon-Ensemble zu schreiben. Die Zeit drängt, denn die Uraufführung ist schon für Januar in Köln angekündigt.
Fast pausenlos habe ich bisher gearbeitet. Nur kleine tägliche Spaziergänge hier im Viertel, bei denen ich meist die wunderbare Place des Vosges ansteuerte, um dort ein Buch lesend für ein paar Minuten zu verweilen, oder kurze Treffen zum Kaffee mit Freunden waren willkommene Unterbrechungen.

Place des Vosges.
Ein Herbstblatt fällt in das Gedicht
von Apollinaire.

Nun liegen die ersten zwölf ausgearbeiteten Partiturseiten vor mir auf dem Schreibtisch. Ein erster in sich geschlossener Abschnitt ist fertig. Viele Noten, aber vermutlich nicht mehr als gut zwei Minuten Musik.

Bei einer wohlverdienten Pfeife und einem Glas Cabernet Sauvignon lese ich das schon Fertige nochmals durch. Im inneren Ohr klingt nun fast in Realzeit das, was zu notieren natürlich einen viel längeren Zeitraum benötigte.

Während ich die Noten blättere, hier und dort noch kleine Änderungen vornehme, kommen mir plötzlich Zweifel. Ist das nicht alles nur mit handwerklichem Können und einer gewissen Routine geschrieben? Was ist hier wirklich neu für mich? Habe ich bisher irgend etwas noch Ungehörtes gefunden oder entdeckt bei dieser Arbeit, neue Klänge, neue Farben, die ich so noch nie geschrieben habe? –

Wie könnte, wie wird es morgen mit dem Stück weitergehen? –

Ich lege mich aufs Bett, schließe die Augen, entspanne mich und beginne zu meditieren.

Draußen hört man zu dieser Nachtstunde von der Straße unten nur noch wenige Geräusche: gelegentlich Schritte, ein paar ferne Stimmen, ab und an ein Auto oder Motorrad … eben sehr leise eine Kirchenglocke …

Dieser „Nachtklang“ von Paris beginnt sich mit den in den vergangenen Tagen komponierten Klängen, die nun durch meinen Kopf ziehen, zu mischen …

Halb dösend lausche ich weiter in die rauschende Stille der Nacht und denke plötzlich, dieses Grundrauschen ist „komponiert“ aus allen augenblicklichen Frequenzen von Paris … nicht nur die Geräusche des Straßenverkehrs, das brummende Rauschen der Metro-Lüftungen und Klimaanlagen, das leise Surren der Neonreklamen, sondern auch das gemeinsame Lachen von Freunden, die jetzt noch als staunende Besucher der Stadt durch die Straßen ziehen, die Gespräche und Diskussionen in den gut gefüllten Restaurants und Bars, ja auch das Stöhnen der Liebenden, das Weinen der gerade Verlassenen … all das klingt und schwingt, durch die Entfernung gefiltert und entrückt, mit in diesem leisen Rauschen …

… jetzt höre ich in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens: im Glissando der Kammerton A mit dem H als Wechselnote … da hört und analysiert mal wieder der Komponist in mir, denke ich … und beginne innerlich mitzusingen …

Das löst mit einem Mal ein seltsames Bündel an Assoziationen aus: Als kleines Kind habe ich oft im Bett liegend mit dem Kopf hin- und hergewackelt und dabei, mich selber einschläfernd, solch eine Pendelbewegung einer großen Sekund dazu gesungen. Das konnte Minuten lang so gehen und ich erinnere mich, wie ich manchmal dabei das Gefühl bekam, meine gleichförmigen und rhythmisch gekoppelten Kopf- und Singbewegungen retardierten wie in Trance, und ich erinnere, wie ich durch schnelleres Kopfwackeln und lauteres Dazusingen dem entgegenzuwirken suchte … der Zustand zwischen Wachen und Schlafen, der Übergang von wohliger Müdigkeit ins Reich der Träume. –

An das Schicksal dessen, der da jetzt irgendwo mit dem Krankenwagen transportiert wird, denke ich, an die Sorgen der ihm Nahestehenden … an die Ausweglosigkeit, mit der wir dem Lauf des Schicksals und der Vorbestimmung ausgeliefert sind … und mir fällt dabei wieder das Gedicht von Apollinaire ein, das ich heute nachmittags auf der Place des Vosges gelesen hatte: Toujour / Nous irons plus loin sans avancer jamais / Et de planète en planète … (Immerfort / Gehen weiter wir und kommen doch nicht weiter / Von Planet hin zu Planet …)

Und während ich die Sirene des Krankenwagens mitsumme, kommt mir gleichzeitig auch die Bedeutung der Sirenen in der griechischen Mythologie in den Sinn, ihr betörender Gesang, der die Menschen anlockt und ins Verderben stößt … und … ja, mit einem Mal bin ich wieder hellwach!

Ich erhebe mich vom Bett, gehe wieder zum Schreibtisch, lege die beschriebenen Notenblätter zur Seite (… eigentlich weiß ich in diesem Moment ganz genau, daß ich sie ruhig dem Papierkorb überlassen kann …), nehme einen neuen weißen und noch unbefleckten Bogen Notenpapier und beginne aufzuschreiben, was ich eben alles gehört habe …

Sirenen …
ich richte mein Ohr
in die Nacht

 

Paris, 4. Oktober 2007

Es ist genau 15:00 Uhr.
Ich öffne die Fenster meines Dachstudios.
Der Himmel zeigt erste blaue Flecken, nachdem es bisher am Vormittag eher neblig grau war.
Die Luft ist frisch, ein merklicher Wind weht.
Unten auf der Straße scheint einiges los zu sein.
Ein reges Treiben der Händler in ihren Läden.
Es ist laut.
Ich habe gerade mein neues Ensemble-Stück fertig.

Die letzten drei Tage habe ich mit geradezu fieberhafter Geschwindigkeit ohne irgendwelche Ermüdungserscheinungen von morgens bis tief in die Nacht die Notenblätter beschrieben. Die Musik floß fast wie von selbst vom inneren Ohr auf das Notenpapier; irritierend und beängstigend schnell …

Aber ich habe Töne und Klänge in mir entdeckt, die vergessen schienen … oder die ich so noch nicht entdeckt hatte …

durchlüften
mit realen Klängen
die inneren

 

Ersteinstellung: 15.12.2007