Haiku und Gewalt

Mario Fitterer

 

In Windenranken
verstrickt der Brunneneimer,
Wasser vom Nachbarn

Chiyo-ni, die von 1703 bis 1775 lebte, war eine unter männlichen Kollegen angesehene Haikudichterin und eine für ihre Zeit emanzipierte Frau. Nach dem Tod ihrer Eltern führte sie deren Schriftrollengeschäft weiter, in dem sie schon früh Gelegenheit hatte, sich mit Dichtung, Kalligraphie und Malerei vertraut zu machen.

Ihr bekanntes Haiku in der Übersetzung von Dirk Lüdtke öffnet den Blick auf eine Alltagsszene. Auf dem Land war es damals üblich, täglich zu einem meist außerhalb liegenden Brunnen Wasser holen zu gehen und mit einem Eimer zu schöpfen. Die damals weithin vorkommende Winde stellte nichts Außergewöhnliches dar. Dennoch windet Chiyo-ni die Winde nicht los und schneidet sie nicht ab. Vielmehr geht sie Wasser holen, wahrscheinlich beim Nachbarn. Die Winde bleibt unangetastet.
Das Haiku ist ein Zeichen für die tiefe japanische Naturliebe. Es entspricht der japanischen Vorstellung, wonach Haiku „die eigentliche Naturdichtung der japanischen Seele“ sei (Toshimitsu Hasumi). Ein Haiku von Issa zeigt mißachtete Natur:

Jiguruma ni
oppishigareshi
sumire kana.

Vom schweren Wagen
wurde es niedergewalzt,
das kleine Veilchen.

Einen zivilisierten Eingriff in das Leben der Pflanzen zeigt Ozaki Hôsai (1885-1926):

An ailing person
watches
a flower
being cut.

Ein/e Kranke/e
schaut
geschnittene
Blumen an

Kirareru hana o byônin mite-iru

Blumen oder eine Blume (im Original beides möglich), abgeschnitten ihres Besitzes wegen. Auch im Haiku von Ryôkan geht es um Besitz:

Den Mond im Fenster
hat der Dieb
zurückgelassen.

Der dem Zugriff entzogene Mond überstrahlt den Verlust. Seine Schönheit ist unantastbar. Nicht so in

nach der tagesschau
beide betrachten ihre hälfte
des vollmonds

Der Dreizeiler von mir versetzte einige Japaner in eine lebhafte Diskussion. Die Halbierung des Monds verletzte ihre Idealvorstellung von seiner Schönheit und Vollkommenheit. Dies war nicht alles. Deutlicher wird der disharmonische Hintergrund im Haiku von Kaneko Tôta (geb. 1919)

Un’accesa discussione.
Poi, scendo in strada
e in moto mi muto

Eine hitzige Diskussion.
Dann gehe ich auf die Straße hinunter
und verwandle mich in ein Motorrad

Die italienische Übersetzung, in der eine dreifache Alliteration in der dritten Zeile die Einheit von Mensch und Motorrad plastisch vor Augen führt, erscheint, da sie dem Original näher kommt, überzeugender als die englische:

After a heated argument
I go out to the street
and become a motorcycle

Gekiron tsukushi
Machi yuki
Otobai to kasu

Wo ist der Übergang von latenter in tätliche Aggression? Katô Shûson (geb. 1905) tötet eine Ameise, Ozaki Hôsai mehrere:

Ari korosu ware o sannin-no ko ni mirarenu

I kill an ant
and realize my three children
have been watching.

Ich töte eine Ameise
und realisiere meine drei Kinder
haben zugeschaut.

A chaque fourmi
Que je tue
La suivante sort

Jeder Ameise
die ich töte
folgt die nächste

Die Ameise ist Symbol für Fleiß. Er kann zur Ausbeutung dienen. Dies könnte möglicherweise in einem Haiku von Hosoya Genji (1906-1970) angedeutet sein, der als erster Arbeiter seinen eigenen Haiku-Stil entwickelte. Häufig hat er Erlebnisse aus der Fabrik in seinen Haiku verarbeitet:

Beim Turnen in der
Fabrik tritt meinen Schatten
der Vorarbeiter.

Wer kennt seinen Schatten? Kaneko Tôta (geb. 1919)?

C’est mon lac intérieur –
dans l’ombre rôde
un tigre noir

Dies ist mein Binnensee –
im Schatten streift
ein schwarzer Tiger

Wie viele andere Dichter wurde Hakusen Watanabe (1913-1969) 1940 von der Staatssicherheitspolizei verhaftet. Darauf spielt eines seiner den Krieg thematisierenden Haiku an:

Soudain la guerre
debout
au fond du couloir

War stood
at the end of the corridor

Plötzlich der Krieg
aufrecht
am Ende des Korridors

Was bleibt am Ende? Der Blick zurück, Verflüchtigtes, ein Haiku, zeitlos:

Sommergras … !
Von all den Ruhmesträumen
die letzte Spur …

Bashô

Literatur

Atlan, Corinne et Bianu, Zéno, Anthologie du poème court japonais, Paris 2002.

Hasumi, Toshimitsu, Zen in der Kunst des Dichtens, 1986.

Krusche, Dietrich, Haiku. Bedingungen einer lyrischen Gattung, Tübingen, Basel, 1970.

Lüdtke Dirk, Haiku-Gedichte der kaga no Chiyo, http://www-nagao.kuee.kyoto-u.ac.jp/member/dludtke/chiyo/chiyo.html [September 2018 inaktiv.]

Matsuo Bashô, Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, Übertragung. Einführung, Annotationen von G.S. Dombrady, Mainz, 1985.

Modern Haiku Association (Gendai Haiku Kyokai) (Hg.), Japanese Haiku 2001, jap.-engl., Tokyo, 2001.

Ozaki, Hôsai. Portrait d’un moineau à une patte, Hg. Kervern, Alain, Romillé, 1991.

Sakanishi, Hachirô, (Hg.), Treibeis, Tôkyô, 1986.

Sakanishi, Hachirô, (Hg.), Issa, Nagano, 1981.

Ueda Makomoto, (Hg.), Modern Japanese. An Anthology, Toronto and Buffalo, 1976.

Zanzotto, Andrea, (Hg.,), Cento Haiku, In un’antologia commentata il meglio della grande tradizione poetica giapponese, a cura di Irene Iarocci, Milano, 1982.

 

Ersteinstellung: 15.07.2004