Traum eines Argonauten von einem uralten Ölbaum

Haiku von Panagiótis Tsoutákos, Agiris Chionis, Giorgos Sepheris und D. I. Antoniou
Mario Fitterer

 

′Εξω χιονίζει.
Επιδρομή θανάτου
για τους άστεγους.

Draußen schneit es.
Einbruch des Todes
für die Obdachlosen.

Παναγιώτης Τσουτάκος (Panagiotis Tsoutαkos)

Den von Licht, Meer und Ölbäumen in Griechenland Faszinierten mag dieses griechische Haiku überraschen. Ein Obdachloser im gefilterten Schatten eines Ölbaums wird die existentielle Unstetigkeit eines Mannes ohne festen Wohnsitz noch klarer hervortreten lassen. Der Ölbaum gedeiht langsam, zwanzig Jahre etwa braucht er bis zur vollen Ertragsfähigkeit. Seine Pflege erfordert Seßhaftigkeit. Der Ölbaum kann, Menschenleben überdauernd, Jahrhunderte existieren.

Εγώ θα φύγω,
αλλά οι ελιές που φύτεψα
εδώ θα μείνουν

Ich werde weggehen
aber die Ölbäume, die ich pflanzte,
werden hierbleiben.

Αργύρης Χιόνης (Argiris Chionis)

Giorgos Sepheris (Γιώργος Σεφέρης, 1900-1971), griechischer Literaturnobelpreisträger, wurde in Smyrna (Izmir) geboren und verbrachte dort seine Kindheit. 1914 wurde die Familie von den Türken vertrieben. Die Zerstörung der Stadt und seines Geburtshauses, sowie die Verfolgung, Vertreibung und Entwurzelung der Griechen in Kleinasien hinterließen tiefe Spuren in ihm. 1941 floh er vor den Deutschen aus Athen. Grund genug für Sepheris, sich den modernen Argonauten zugehörig zu fühlen, deren Seelen eins wurden „mit dem ernsten Antlitz des Bugs / mit der Furche hinter dem Ruder / mit dem Wasser das ihr Abbild in Stücke brach“. Das Echo der aus dem Gedicht „Die Argonauten“ zitierten Verse klingt im 12. seiner „Sechzehn Haikus“ (16 χαϊκού) nach:

’′Αγονος γραμμή       Το δοιάκι τί ’έχει ;
‛Η βάρκα γράφει κύκλους
κι’ ούτε ‛ένας γλάρος.

Unrentable Linie    Was ist am Ruder?
Unser Boot beschreibt Kreise
und nirgends Möwen.

Die „Sechzehn Haikus“ befanden sich in dem 1940 veröffentlichten „Übungsheft“ (Τετράδιο Γυμναςμάτων = Tedrαdio Gymnαston“) der 1928 bis 1937 entstandenen Gedichte. Sepheris bezeichnete die „Sechzehn Haikus“ als „beharrliche Übungen in dem schlichten elliptischen Stil dieser Form“. Er hat ihnen einen Ausspruch von Marc Aurel (III 10) vorangestellt: „Τοΰτο το ακαραĩον …“ („Diese kurze Zeitspanne …)“

Das oben zitierte Haiku ist von Meer und antikem Mythos geprägt. Der Bezug auf die Vergangenheit war für Sepheris stets auch ein Bezug auf die gegenwärtige Wirklichkeit. Stets hat er die Gegenwart „am Koordinatensystem des antiken Mythos gemessen“ (Günter Dietz).

In den Gedichten „Stratis der Seemann beschreibt einen Menschen“ stellt Sepheris den Lebensweg eines Mannes auf dem Meer dar. Stratis ist das alter ego des Dichters, jedoch keine autobiographische Figur. „Der Jugendliche“ will mit Sechzehn über das Meer fahren, verliebt sich in ein Mädchen und vergißt so das Meer, und kehrt, als es unvorhergesehen stirbt, zum Meer zurück. „In dieser Nacht auf dem Deck des ‚Ajos Nikolas’ / träumte ich von einem uralten Ölbaum und seinen Tränen.“ sagt der „Jugendliche“. Stratis hat Abenteuer, Irrfahrten, existentielle Kämpfe und Zweifel zu bestehen. Bei der Frage, „wie den Netzen der Welt entkommen“, vergegenwärtigt sich „Der Mann“ eine Nacht unter einer windgebeugten Pinie irgendwo am Meer. „Mittags schenkt sie dem erschöpften Leib einen Schatten kurz wie unser Leben, und abends, wenn der Wind durch ihre Nadeln streicht, schlägt er außergewöhnliche Töne an wie von Seelen, die mit dem Tod abgeschlossen haben in dem Augenblick, in dem sie wieder beginnen, Haut und Lippen zu bekommen. Einmal verbrachte ich eine ganze Nacht wach unter diesem Baum. Bei Sonenaufgang war ich ein neuer Mensch, wie zu dieser Stunde aus dem Steinbruch gebrochen.“

Χορεύουν πιάτα
χρυσαΜ στοΜ κύμα πάνω,
χίλια φεγγάρια.

Teller tanzen
golden auf der Woge,
Tausende von Monde.

Δ. Ι. Αντωνίου (D. I. Antoniou)

Auch in der Dichtung von D. I. Antoniou (1906-1995) ist das Meer Thema, ebenso die Musik. Nach einer Gedichtsammlung 1939 erschien 1944 der Gedichtband „Über die Musik“. Seine letzte Veröffentlichung waren 1972 „Χάι-Κάι και Τάνκα“ (Haikai und Tanka). Antoniou war Kapitän von Beruf und verbrachte seine Jugendjahre auf langen Seereisen. Nicht ohne Heimweh:

Μανιόλια πάλι∙
τόπων που ταξίδευες
‛η νοσταλγία …

Wieder Magnolien,
wohin du auch reist,
das Heimweh …

In Antonious Dichtung komme jedoch, so Linos Politos, weniger das gewöhnliche Heimweh des Seemanns zum Ausdruck „als vielmehr die meditative Konzentration der Gedanken eines einsamen Menschen auf den endlosen Fahrten über das Meer.“

Antoniou war der „’Seemann und Freund’, von dem Seferis mit soviel Sympathie spricht“ (Linos Politos). So erscheint es möglich, daß Antoniou in Kenntnis des 1. der 16 Haiku von Sepheris

Στάξε στη λίμνη
μόνο μια κρασι
και ςβήνει ‛ο ‛ήλιος

Träufle in den See
einzig einen Weintropfen
die Sonne erlischt.

dieses Haiku geschrieben hat:

Για να μη σβήςει
γράφω στο νερο τοΰτο :
‛έν’ ’άςτρο πέφτει ! . .

Daß er nicht erlösche,
schreibe ich dies ins Wasser :
ein Stern fällt! …

Literatur

D. I. Antoniou (Δ. Ι. Αντωνίου), „Χάι-Κάι και Τάνκα“ (Haikai und Tanka), ΑΘΗΝΑ, ΕΡΜΗΣ (Athen, Hermes), 1981.

Linos Politis, Geschichte der neugriechischen Literaur, Athen, 1979, deutsch 1984.

ΧΑΪΚΟΥ „τα φύλλα στο δέντρο ξανά“. ΠΑΓΚΟΣΜΙΑ ΑΝΘΟΛΟΓΙΑ. Γενική Επιμέλεια: Ζωή Σαβίνα. Πρόλογος: Ζωή Σαβίνα. Εισαγωγή: Sonō Uchida. ΑΘΗΝΑ 2002.

Haïku: „Die Blätter wieder an den Bäumen“ – Weltanthologie; herausgegeben von Zoe Savina mit einem Vorwort der Herausgeberin und einer Einführung von Sono Uchida, Athen, 2002.

Giorgos Sepheris, Sechzehn Haikus. Stratis der Seemann, Gedichte, ausgewählt und übersezt und mit Nachwort von Günter Dietz, 1983, Waldbrunn, Heiderhoff Verlag.

Mario Fitterer, Das griechische Hai-Kai und seine eigenen Wurzeln, VJS der DHG Nr. 42, September 1998.

Mario Fitterer, Das Sternbild / des Stiers und die Albatrosse mit mir / am Kap Prio. Hai-Kai und Tanka von D. I. Antoniou, VJS der DHG Nr. 42, September 1998.

 

Übersetzungen der Haiku von Giorgos Sepheris: Günter Dietz. – Im übrigen Mario Fitterer.

 

Ersteinstellung: 10.07.2005