Zum Kuckuck!

Haiku und moderne Haiku-Lyrik
Mario Fitterer

 

Im fremden Garten
blüht Jasmin. Ich vor dem Tor
atme den Duft ein.

Imma von Bodmershof (1)

 

ihre sms         fliederduft

Dietmar Tauchner (2)

 

der Pflaumenbaum
kaum einen Hauch
kahler Tag um Tag

Georg Jappe (3)

 

Drei Texte – doch welcher Art? Erfahrungs- bzw. Erlebnishaiku? Literatur zweiten Ranges?

Der Pflaumenbaum, sagen erste und dritte Zeile von Georg Jappes Haiku, wird „kahler Tag um Tag“. Die au-Assonanzen scheinen den Prozess des Schwindens beschwörend bremsen zu wollen. Der Pflaumenbaum ist, stellt die Mitte des Haiku und zugleich Raum augenblicklicher Wahrnehmung, fest: „kaum einen Hauch / kahler“. Der Zeitfluss scheint für einen Augenblick verlangsamt, die Luft „still, als atmete man kaum“, wie in Friedrich Hebbels „Herbstbild“. Eine Illusion, denn „kaum einen Hauch“ aus „Wandrers Nachtlied“ signalisiert: Bald wird die Natur zur Ruhe kommen.

Der kahler werdende Pflaumenbaum gibt ferner die Sicht frei auf eine künftige Situation, geprägt von Stille und Abschied. „Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt.“ beginnt Rilkes Gedicht „Abschied“. Zurückblieb, heißt es in der Schluss-Strophe, „ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen, / ein leise Weiterwinkendes –, schon kaum / erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum, / von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.“ (4)

D. T. Suzuki schildert (5) die nachtlange Qual der Dichterin Chiyo, ein Haiku zum Thema „Kuckuck“ zu finden, das vor dem Haikumeister bestehen könnte. Erst in der Dämmerung hätten „sich die Worte in ihr wie von selbst zu diesem Haiku“ geformt:

Hototogisu
Hototogisu tote
Akenikeri!

Kuckucksrufe
die ganze Nacht.
Nun die Dämmerung.

D. T. Suzuki sagt in diesem Zusammenhang, der Autor müsse „passives Ausdrucksinstrument“ der Inspiration bleiben, „ohne jede Einmischung“. Deutlicher als die umschreibende, mehr syntaktischen Einsatz verlangende Übersetzung zeigt das Original die Unmittelbarkeit des Ausdrucks: Hototogisu (Kuckuck), wiederholt und verstärkt durch das nachfolgende assonantische tote, bedeutet: viele Kuckucksrufe.

Der inspirative Moment geht im Haiku von Chiyo nicht in einer Konstruktion unter, wo der Stil über das Erlebnis dominiert und es überlagert und verformt. Bestimmt ist es von der unmittelbaren Bewegung und „Zeigegeste des kleinen Kindes, das mit dem Finger auf alles Mögliche zeigt […] und nur ‚das!’ sagt“, wie Roland Barthes, Worte Bashôs aufnehmend, formuliert (6).

Radikaler ist das deiktische, zeigende Moment im Haiku von Dietmar Tauchner. Extrem kurz, hat es die wesentlichen Elemente eines guten Haiku. Der Leerraum zwischen „sms“ und „fliederduft“, visueller Bestandteil des Haiku, konkretisiert die räumliche Distanz zwischen den Liebenden. Das Haiku bezieht seine Güte aus dem Nachklang. (7)

Das Gedicht im Unterschied zur Prosa wird von Dieter Lamping als Versrede bzw. Rede in Versen definiert. Als Versrede bezeichnet er jede Rede, „die durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht. Das Prinzip dieser Segmentierung ist die Setzung von Pausen, die durch den Satzrhythmus der Prosa und das heißt vor allem: durch die syntaktische Segmentierung des Satzes nicht gefordert werden.“ (8)

Das Pflaumenbaum-Haiku hat Züge moderner Lyrik. Bestimmend hierfür sind Form des freien Verses, Zeilenbruch, Enjambement, die Möglichkeit des Lesers, die Segmentierung zu variieren, und die sich daraus ergebende Spannung der Gegenbewegung, die Stilbetontheit. Der Pflaumenbaum zwischen Konkretheit und Abstraktheit steht in natürlicher und erinnerter Landschaft und zugleich in einem größeren Zusammenhang.

Zwei Haiku-Wege tun sich auf. Die eine Möglichkeit ist ein Haiku, bei dem belanglos ist, ob es Literatur ersten oder zweiten Ranges ist. Es ist ein Haiku, das dem inspirativen Moment, der Situation und dem Ereignis, wie sie urprünglich waren, unmittelbar entspricht, selbst auf das Risiko hin, schriftlich fixiert unter literarischen Gesichtspunkten banal zu sein. Wer darüber enttäuscht ist, vergegenwärtige sich, was Lu You (1125-1210) sagt: Dass die wahre dichterische Tätigkeit „außerhalb der Poesie geschieht“. Es handle sich hierbei, wie Pierre Courtaud folgert, darum, die Welt, die da ist, „ohne den geringsten Kunstgriff aufzunehmen“, sie als die authentischste zu enthüllen. Das bedeutet, „die Wege des Sinns verlassen“, „dem Weg ohne Weg zu“ folgen, ohne je Spuren zu hinterlassen. (9)

Der andere Weg ist Haiku als moderne Lyrik. Es erhebt nicht nur den Anspruch, Literatur ersten Ranges zu sein, sondern auch Gedicht, das, ungeachtet der Stildominanz, aufgrund wesentlicher Haikuelemente, die es enthält, in gleichem Maße Haiku ist.

 

Anmerkungen

1. Imma von Bodmershof, Im fremden Garten, Haiku-Gedichte, Zürich: Arche, 1980.
2. aus: Feine Kerben, Haiku-Jahrbuch 2006, Hg. von Volker Friebel, Tübingen: Wolkenpfad, 2007.
3. Georg Jappe, Aufenthalte – ein Haibun, Köln: Matto Verlag, 2005.
4. Hinweis von Georg Jappe auf „Rilkes Kuckuck / Pflaumenbaum“ im Brief vom 10.10.2003.
5. Daisetz T. Suzuki, Zen und die Kultur Japans, Bern, München, Wien: Scherz Verlag, 1959.
6. Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.
7. Nach Takahama Kyoshi sei „ein Haiku mit Nachklang (yoin) ein gutes Haiku“: Inahata Teiko, Welch eine Stille. Die Haiku-Lehre des Takahama Kyoshi, aus dem Japanischen von Takako von Zerssen, Hamburg: Hamburger Haiku Verlag, 2000.
8. Dieter Lamping, zitiert in: Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart, J. B. Metzler, 1997.
9. Pierre Courtaud, John Cage: le Sens dans tous ses écrits, in: GONG, revue française de haïku, juillet 2007, numéro 16, éditée par l’Association Française du haïku.

 

Ersteinstellung: 15.09.2007