Ein Haiku entsteht
Ruth Franke
Es gibt Momente, da fliegt uns ein Haiku zu, fügt sich wie von selbst in die richtige Sprache und Form und wird nie verändert. Leider ist das die Ausnahme. Die Regel ist harte Arbeit – immer wieder feilen, kürzen, verändern und vor allem hinterfragen. „der vers als furche / zeile für zeile pflügen“ hat das Roman York genannt. Wie lange dieser Prozess dauert, hängt auch von der Fähigkeit zur Selbstkritik ab und der Messlatte, die man sich selbst legt.
Unter den „Dauerbrennern“ in meiner Haiku-Datei befindet sich ein Text, dem ein Eindruck von besonderer „Erlebnistiefe“ zugrunde liegt – erfahrungsgemäß schwierig zu verbalisieren, weil meist zuviel Gefühl beteiligt ist.
Im Februar 1997, in einem eiskalten Winter, machte ich einen kleinen Spaziergang entlang der gefrorenen Felder. Der harte Altschnee knirschte unter den Füßen, als ich plötzlich etwas Dunkles seitlich auf dem Schnee liegen sah – einen toten Bussard. In diesem Moment wurde mir die unbarmherzige Kälte (die ich nicht liebe) besonders bewusst: die seit Wochen gefrorenen Felder, der harte Schnee, der mit Eisschollen bedeckte Bach. Der Himmel war grau und leer, kein Vogel zu sehen, kein Mensch war unterwegs. Der tote Bussard schien mir ein Sinnbild der (scheinbaren) Leblosigkeit des Winters zu sein. – Es erwies sich als schwierig, dieses Erlebnis in Worte zu fassen, sich selbst zurückzunehmen, um die Eindrücke für sich sprechen zu lassen, ohne Beeinflussung durch den Verstand. – Meine erste Fassung:
Ein Bussard im Schnee
auf gefrorenen Feldern
atmet nur Stille
fand bei den Teilnehmern unseres „Haiku-Stammtisches“ nicht nur Zustimmung. Die letzte Zeile wirke gekünstelt, und es komme nicht klar zum Ausdruck, dass der Bussard tot sei. Dies sei im übrigen ein normales Naturereignis, eine Art natürliche Auslese, ich solle das gefühlsmäßig nicht überbewerten. Der neue Vorschlag:
Ein Bussard im Schnee
nun selbst eine Beute
gefrorener Flur
gefiel mir wiederum nicht – zu kommentierend und zu wenig offen. Außerdem gab er nicht meinen Eindruck wieder. Das Haiku wanderte zum „Reifen“ in die Werkstatt, wo es ein Jahr liegen blieb.
Als es mir wieder in die Hände fiel, rief ich mir die Details in Erinnerung. Was war wichtig an diesem Eindruck? Die gefrorenen Felder, die bittere Kälte, der graue, leere Himmel, der harte Schnee und natürlich der steif gefrorene Bussard. Wie konnte ich das ausdrücken, ohne zu deutlich zu werden?
Dauerfrost
gefroren im Schnee
ein Bussard
gefiel mir schon besser, weil es objektiv die Bilder für sich sprechen ließ, doch die erste Zeile schien mir zu kurz, um das „Frostige“ wirklich zum Ausdruck zu bringen. Eine zu kurze Formulierung bringt manchmal die Atmosphäre nicht zur Geltung; „der Duft von Rosen“ zum Beispiel bringt ihn, laut gelesen, besser zur Entfaltung als „Rosenduft“. Außerdem schien mir dieses Haiku nicht geeignet für asketische Kürze.
Jahre schlummerten diese Entwürfe in der Ablage – ich hatte das Haiku schon abgeschrieben – bis ich im Februar 2004 eine Einsendung für die Monatsauswahl von Haiku-heute suchte. Ich erinnerte mich an den Bussard, der Eindruck war noch lebendig. Was war das Wesentliche an diesem Erlebnis? Die Kälte, der leere Himmel, an dem der Bussard nicht mehr kreisen konnte:
Ein Bussard im Schnee
vom leeren Himmel
nichts als Kälte
Arno Hermann bescheinigte dem Haiku eine „schöne Stimmung“, und Sigrid Baurmann erkannte richtig, warum der Himmel bei dieser Kälte leer war. Angelika Wienert fragte jedoch: „Kommt die Kälte nur vom Himmel“? Es bleibe zuviel offen bei diesem Text, war die allgemeine Ansicht.
Ich war etwas frustriert, gab dieses Haiku doch genau meine damalige Empfindung wieder. Nun setzte ich wieder auf klare Bilder und beschloss, ähnlich vorzugehen wie bei „Dauerfrost“: im Anfang der Weitwinkelblick, um dann durch Zoom-Effekt zum Nahbereich und zum am schärfsten fokussierten Bild zu gelangen. „Schnee“ und „leerer Himmel“ fielen weg, dafür rückte der Bussard in die letzte Zeile, was effektvoller ist.
Felder im Frost
am Wegesrand
ein toter Bussard
Hier sind die Bilder konkret und klar, die dezente Alliteration verbessert den Klang, und die Kälte ist zwischen den Zeilen zu spüren.
Dennoch war ich nicht zufrieden. Dem Haiku fehlte das Besondere, das die Haiku-heute-Version hatte, und es gab nicht meine Empfindung wieder. Ich diskutierte mit Haiku-Freunden darüber, die auch den leeren Himmel für wichtig hielten. Er war für mich eine existentielle Erfahrung, die ich nicht verfälschen durfte. Dass der Bussard tot ist, kann der Leser aus dem leeren Himmel schließen und aus der Atmosphäre des Gedichtes.
Der Vorschlag, „unter leerem Himmel“ zu sagen, eröffnete neue Möglichkeiten, Kälte und Tod auszudrücken. So entstand, nach acht Jahren, die (vorläufig?) letzte Variante, in der mein Erlebnis die bisher beste Ausdrucksform gefunden hat:
Klirrende Kälte
unter leerem Himmel
ein Bussard im Schnee
Ersteinstellung: 10.09.2005