Ruth Franke
Literarische Anspielung, Variation oder Gedankenklau? Zunächst sollte man die Begriffe klären. Literarische Anspielungen, ein in Japan sehr gebräuchliches Stilmittel, werden bei uns im Westen leider sehr selten verwendet. Der Autor bezieht sich dabei auf frühere literarische Texte (auch mit Zitaten) und erschließt dadurch dem Haiku eine weitere, tiefere Bedeutungsebene. Wenn Mario Fitterer dichtet:
im watt
nicht denken
an den schuh
bald schon zu schnüren
so denkt der Leser – vorausgesetzt, er kennt das Gedicht – an Ingeborg Bachmanns „Die gestundete Zeit“ („Es kommen härtere Tage / Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont. / Bald musst du den Schuh schnüren“). Auch Anspielungen auf geschichtliche Ereignisse oder Themen aus der Mythologie können den Assoziationsreichtum vergrößern. Voraussetzung dafür ist, dass der Autor mit der literarischen Welt und dem Kulturkreis, in dem er lebt, vertraut ist. Mit „Gedankenklau“ hat dies nichts zu tun, im Gegenteil: das Haiku weitet sich in eine zusätzliche Dimension.
Die Grenze zur Variation eines Haiku beginnt vielleicht dort, wo der Autor ein Gedicht liest und sich von ihm anregen lässt, mit dem Autor in Dialog zu treten, Stellung zu nehmen. Ich las vor einiger Zeit das Gedicht der jüdischen Autorin Rose Ausländer „Wann ziehn wir ein“, in dem das Wort Verheißung ist und mittels des Löwenzahn-Bildes eine eschatologische Friedensvision vermittelt wird. Angesichts der aktuellen Situation im Nahen Osten regte mich das zu folgendem Haiku an:
Löwenzahnkugel –
in den Wind geblasen
das besamte Wort
Für den, der den Hintergrund nicht kennt, ist ein solches Haiku allerdings nur vordergründig verstehbar, aber jeder interpretiert ein Gedicht entsprechend seinem Erfahrungshintergrund. – Variationen mit direktem Bezug auf ein Gedicht/Haiku sind sehr häufig, ich erinnere nur an die unzähligen Nachdichtungen, auch Parodien, von Bashos Frosch-Haiku. In der modernen Lyrik führen solche Variationen oft zu interessanten Neudichtungen.
Mit der Behandlung gleicher Themen wird es schon schwieriger. Es gibt viele, immer wiederkehrende Sujets, wie z.B. die reizvollen Spiegelungen und Schatten, zu denen man sich schon etwas Besonderes einfallen lassen muss, um originell zu sein. Ein Beispiel für eine besondere Bearbeitung eines häufigen Motivs ist Hubertus Thums „Das Haus der Kindheit. / Mein Hauch / am kalten Spiegel“.
Nicht nur das Glücksgefühl beim Schaukeln wird häufig dargestellt, sondern auch das Gefühl von Trauer und Vergänglichkeit beim Anblick leerer Schaukeln. Von den vielen Haiku, die ich zu diesem Motiv las, ist David Cobb bisher unerreicht:
first day of school
in the garden only the wind
swinging the swing
weil hier noch der Abschied von einer Kindheitsphase deutlich wird.
Es gibt in der ganzen Welt zahlreiche Variationen des Themas „Streit“ oder „Ehekrach“ mit oft recht kontrastreicher Bewältigung der Situation – vom „Dampf-Ablassen“, indem man auf die Straße geht, um zu einem Motorrad zu werden, bis zur Betrachtung des Mondes oder von Freesien. Besonders gut löst George Swede die Spannung und lässt sein (älteres) Paar nach dem Streit einander Tee einschenken. Auch das Haiku von Udo Wenzel in der April-Monatswertung „Heftiger Streit. / Ihre Schatten fallen / ineinander“ gehört hierher. Kann man hier von Imitation sprechen? Ich glaube, kaum. Viele Haiku behandeln grundlegende menschliche Erfahrungen, die uns berühren und für die jeder seine eigene Darstellung findet.
Die Grenze zum „Gedankenklau“ ist schwierig zu ziehen. Wer viele Haiku liest, wird häufig stutzen und sich an ähnlich lautende Gedichte erinnern. Aber wer kann entscheiden, ob der Autor nicht wirklich das gleiche Erlebnis hatte und von dem anderen Gedicht nichts wusste? Wichtig ist, dass wir als Leser, Kritiker und Autoren genau prüfen, ob die Variante eines altbekannten Themas eine neue Sichtweise bringt und nicht nur Bekanntes wiederholt.
Wir sollten – das ist meine Meinung – literarische Anspielungen fördern, Variationen häufiger Sujets nach ihrer Qualität beurteilen und im übrigen originellen und überzeugenden Ideen den Vorzug geben. Ein gutes Haiku spiegelt die Persönlichkeit des Dichters wieder, es ist authentisch – frei von Klischees und abgenutzten Motiven.
Ersteinstellung: 17.05.2004