Sprache und Bild im Haiku

Ruth Franke

 

Das Haiku ist, wie Volker Friebel sagt, eine besonders bildbetonte Form. Seine Bilder sollten klar, konkret und so anschaulich sein, dass sie dem Leser sofort vor Augen stehen und eigene Erlebnisse evozieren. Durch Kontraste mehrerer Bilder sowie durch Zoom-Effekt vom Weitwinkel- zum Nahbereich können Spannung und Tiefe erreicht werden. Im zeitgenössischen Haiku zeigen Experimente mit der Form, dass auch die graphische Gestaltung zu einem aussagekräftigen Bild beitragen kann. Bilder können mehrere Sinne ansprechen, sie können (andeutungsweise) Metaphern enthalten, mit denen eine Empfindung ausgedrückt wird. Dabei müssen es nicht ungewöhnliche Motive sein; auch mit einfachen Bildern kann man eindrucksvolle Wirkung erzielen. Ein Beispiel:

first light
between the snow and snow
the pencilled woods

John Wills

Wie in einer Bleistiftzeichnung, steht im grauen Morgenlicht die unendliche Weite des Schnees, nur durch die kahlen Bäume des Waldes getrennt, vor uns.

Den Eindruck eines Augenblicks fasst der Autor, bevor er wieder im Nichts verschwindet, in Worte. Diese sollten so klar, einfach und prägnant wie möglich sein, mit Konzentration auf das Wesentliche. „Haiku ist eine asketische Kunst,“ heißt es bei R.H. Blyth, und der japanische Keramik-Künstler Aisako Suzuki nimmt in seinen „Gedanken zur japanischen Ästhetik“ auf Bashô Bezug:

Wenn man ein Ding sagt
werden die Lippen kalt
Herbstwind

Suzuki interpretiert: „Darin stecken, so scheint mir, seine tiefen Gedanken über die Sprache. Wenn wir das Schweigen unterbrechen und etwas sagen, dann merken wir, dass wir durch dieses Verhalten die vorhandene Beziehung zwischen uns und der Welt verändern oder sogar zerstören. Die Sprache ist ein Mittel, durch das wir unseren Gedankengegenstand objektivieren und begrenzen. Sie veranlasst uns, dualistisch zu denken, zwischen Subjekt und Objekt zu trennen.“ Suzuki nimmt auf Bashôs bekanntes Wort Bezug: „Was eine Kiefer ist, lerne von der Kiefer. Was Bambus ist, lerne vom Bambus,“ und zitiert Sanzoshi: „Wenn du so tust, musst du dein subjektives Vorurteil zurücklassen. Sonst drängst du dich dem Objekt auf und lernst davon nichts. Dein Gedicht wird aus eigenem Antrieb entspringen, wenn du und das Objekt eins werden, wenn du in Objekt tief genug eintauchst und etwas wie einen versteckten Schimmer siehst. Wie gut dein Gedicht formuliert sein mag, wenn dein Gefühl nicht natürlich ist, wenn das Objekt und du selbst getrennt sind, dann ist dein Gedicht nicht echt, sondern nur eine subjektive Fälschung.“

Haiku ist, laut Tôhta Kaneko, „gleichzeitig volkstümliche Dichtung und höchste Kunst.“ Sollen wir, wie Volker Friebel fragt, mehr Wert auf die sprachliche, literarische Ausgestaltung von Haiku legen? Ja und nein. Die Haiku-Sprache muss einfach und unverschnörkelt sein, nicht blumenreich ausschmückend. Die Qualität der sprachlichen Gestaltung erkennt man daran, dass mit wenigen Worten viel gesagt wird und einiges offen bleibt. Der Leser ist gefordert, er muss das Unausgesprochene wahrnehmen und mit seiner eigenen Einbildungskraft füllen (Resonanz). Andererseits kann man die kurze Form durch literarische Stilmittel wie Alliteration, Assonanz und Wortspiele bereichern sowie ihren Bedeutungsspielraum durch Zitate und Anspielungen auf andere literarische Werke erweitern.

Im deutschen Haiku sollte viel mehr auf die Kriterien geachtet werden, welche diese Kurzform von anderen Gedichten unterscheidet, dazu gehören außer der Begegnung zwischen Betrachter und Gegenstand auch Objektivität und Augenblicklichkeit. Ogiwara Seisensui drückt es so aus: „Haiku sind (im Gegensatz zur linearen Struktur freier Verse) zentripetal, eine unmittelbare, intuitive Wahrnehmung scharf einstellend. Die Empfindung ist in einem Aufglühen verdichtet, dann wird dieser Blitz verbalisiert, und alle Worte dienen dazu, die Lichtstrahlen in einem einzigen Punkt zusammen-zufassen.“ Diese Grundstruktur von Haiku verdeutlicht er noch an einem Beispiel: „Wenn des Dichters Empfindung in einem stromähnlichen Rhythmus fließt, wird ein langes Gedicht daraus. Aber wenn das Fließen schneller wird und schließlich über ein Kliff fällt, wird der Ausdruck kürzer und schießt wie ein Wasserfall.“ Als Beispiel für die Einheit zwischen Dichter und Objekt führt Seisensui ein Haiku von Ozaki Hosai an:

I meditate
a mud snake walks

Wenn das Haiku einen Platz in der deutschen Literaturlandschaft einnehmen soll, muss auf breiter Basis auf Qualität geachtet werden und auf Beachtung der Merkmale, die es von anderen Literaturformen abgrenzt – vor allem von der romantischen Naturlyrik. Fortschritte sind durchaus zu verzeichnen, aber der große Durchbruch ist noch nicht gelungen. Vielleicht sollten wir auch noch mehr auf die Faszination dieser kleinen Form aufmerksam machen und nicht nachlassen, sie ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, damit das Haiku mehr Verbreitung und Anerkennung findet.

Literaturhinweise

Aisako Suzuki: „Gedanken zur japanischen Ästhetik“: www.keramiksuzuki.de

Makoto Ueda: „Modern Japanese Poets and The Nature of Literature“

Frogpond XXVII No.I: „Images of John Wills“ by Efren Estevez

 

Ersteinstellung: 14.02.2004