Volker Friebel & Gerd Börner
Bad Nauheim ist ein kleines Städtchen, mit dem Bummelzug keine halbe Stunde nördlich von Frankfurt, Steinfurth heißt ein Stadtteil davon. Hier fand, veranstaltet von der Deutschen Haiku-Gesellschaft (DHG), am Pfingstwochenende 14./15. Mai 2005 im Rosensaal der 1. Europäische Haikukongress statt. Gekommen waren etwa 60 Dichter aus mehr als einem Dutzend europäischer Länder sowie aus Japan. Die Eröffnungsrede hielt David Cobb aus England. Dann folgten elf Berichte aus den teilnehmenden Ländern, mit Darstellungen zur Situation des Haiku in Englisch und Deutsch, meist begleitet von Textbeispielen. In den Pausen hatten die Kongressteilnehmer Gelegenheit sich in persönlichen Gesprächen kennenzulernen. Es gab eine Führung durch die Kuranlagen der Stadt sowie eine Besichtigung des Rosenmuseums und des Haikusteins von Fuyuo Usaki (Japan) am Tagungsort in Steinfurth. Der Haijin Usaki war anwesend und schenkte allen Kongressteilnehmern einen Band über seine Haiku- und Renku-Reisen durch Europa. Begleitveranstaltungen sorgten für Sinnesvielfalt, so eine Ikebana-Vorstellung der „Frankfurter Schule“ von Erika Schwalm, ein Vortrag von Kaj Falkman über „Bilder in Haiku und Manga“, ein Konzert für Haiku und die Glastrompete von Peter Knodt sowie Ingo Cesaro mit seiner mobilen Druckerpresse und der Aktion „Gedichte zu verschenken“.
Grußworte
In seinem Grußwort brachte der japanische Generalkonsul Junichi Kosuge seine Freude über die Ausrichtung des 1. Europäischen Haiku-Kongresses zum Ausdruck. Er zollte der Stadt Bad Nauheim, seinem Bürgermeister Bernd Rohde, und dem Präsidenten der Deutschen Haiku-Gesellschaft Martin Berner seinen Respekt für die Realisierung dieses wichtigen Haiku-Ereignisses. Herr Kosuge wies darauf hin, dass die Rosenstadt Bad Nauheim in einer langen Tradition steht, Haiku-Dichtung in Deutschland zu würdigen. Haiku trägt dazu bei, die Verständigung der Menschen und der Völker dieser Welt zu vertiefen. In frohen sowie in sorgenvollen Momenten seien Haiku Partner in seinem Leben.
Auch auf der kleinsten Insel
hat der Bauer im Feld
über sich seine Lerche.
Issa
Martin Berner, Präsident der Deutschen Haiku-Gesellschaft (DHG), bedankte sich für die großzügige Unterstützung durch die Stadt Bad Nauheim und ihres Bürgermeisters – und bei den Aktivisten des Frankfurter Haiku-Kreises, insbesondere bei Erika Schwalm, für die Unterstützung bei der Vorbereitung zum Kongress. In seiner Begrüßungsrede erklärte Martin Berner den Schwerpunkt des Kongresses: Die Vertreter der teilnehmenden Nationen stellen Entwicklung und aktuellen Stand der Haiku-Dichtung vor, lernen sich kennen und starten gemeinsame Aktionen.
Heller Rosensaal
Zweige wachsen aus Rosen
Haiku schlägt Brücken
Bernd Rohde (Bürgermeister von Bad Nauheim)
Eröffnungsvortrag
David Cobb machte in der Eröffnungsrede auf die Unterscheidung von Prozess und Produkt bei der Haiku-Dichtung aufmerksam: Für manche Autoren ist der Prozess, die Gemeinschaft mit anderen Haikuschreibern, alles was zählt. Wichtig sei aber, die richtige Balance zwischen der Freude am Dichten und der Qualität des literarischen Ergebnisses zu finden. Als gutes Beispiel nennt Cobb hier Basho, der durch die Lande zog, um mit anderen zusammen Renku zu dichten – dann aber wieder seine „Tore schloss“, um am Haiku zu arbeiten.
Zum Produkt, dem Haiku selbst, greift Cobb auf eine Analyse des Waliser Haiku-Dichters Ken Jones zurück. Dieser unterscheidet vier Kategorien:
1. Das existenziell befreiende Haiku, das uns einen Moment mit einer neuen Einsicht in die Bedeutung unserer Existenz zeigt, ein Moment, der uns unser Dasein lebendig erfühlen lässt. Das Haiku, das uns alle Dinge so akzeptieren lässt, wie sie sind.
2. Das einfache Bild, das uns die Dinge zwar auch zeigt, wie sie sind, aber nicht durch die Oberfläche der Phänomene zu einer tieferen Wahrheit vordringt. Das ist shasei, das aber auch Shiki, der als sein großer Wegbereiter gilt, nur den Neulingen im Haiku als vorläufiges Ziel empfahl.
3. Das geschickt konstruierte Haiku, mit geschlossener Metapher, bei dem der Leser Geist und Witz bewundern kann, das aber ohne wirkliche Tiefe ist.
4. Symbolische Haiku, die über ein Bild etwa eine Beziehung darstellen, aber gleichfalls geschlossen bleiben und nirgendwohin durchbrechen.
Wenn das Haiku als Literatur akzeptiert werden möchte, dann gilt es, nach Cobb, das Haiku mit Tiefe, das existenziell befreiende Haiku, mehr zu betonen. Das aber finde sich in den Veröffentlichungen eher selten. Ihm stehe auch das entgegen, was Cobb als den Prozess der Haiku-Dichtung charakterisiert.
Denn im Austausch mit anderen Haikuautoren, auch in der Beurteilung durch die Gruppe, liege die große Gefahr, sich mit einem Durchschnittsniveau abzufinden, bereits akzeptierte Muster des Haikustrickens anzuwenden, sich über das Lob der anderen zu freuen und sich damit zufrieden zu geben. Das habe eine nivellierende Wirkung. Beurteilungsprozesse seien zu schnell, gerade inspirierte und inspirierende Haiku kämen dabei oft zu kurz, da diese Zeit zur Wirkung brauchen. So bleibt die Qualität auf der Strecke bzw. gute Texte werden übersehen. Zwar nennt David Cobb mit dem Muschelschalenspiel von Martin Lucas und dem Netzportal Haiku heute zwei europäische Ansätze zu einer respektablen Textauslese, seine Kritik sollte aber immer vergegenwärtigt werden, denn sie trifft grundsätzlich überall zu.
Ein zweiter Punkt liegt David Cobb sehr am Herzen, nämlich das Haiku in den einzelnen Ländern und Sprachen seiner Autoren zu etablieren, selbst wenn das bedeutet, vorübergehend die internationale Dimension des Haiku auszublenden. Jedes Land und jede Sprache sollte das Haiku in die eigene Kultur und Sprache aufnehmen und heimisch machen, warum nicht anders als die anderen.
Vorträge aus den teilnehmenden Ländern
Der Hauptteil des Kongresses bestand aus Vorträgen der einzelnen Haikugesellschaften. Wir haben sie kurz zusammengefasst und jeweils ein, zwei, drei Haiku aus den einzelnen Ländern hinzugefügt, die zum Teil dort gelesen, zum Teil von uns später herausgesucht wurden.
Niederlande (und Flandern): Max Verhart hat die Situation im niederländischen Sprachraum vorgestellt. Das erste veröffentlichte Haiku eines Niederländers stammt von Hendrik Doeff (1777-1835), der in Nagasaki arbeitete. Aber erst um 1980 herum begann das Haiku im Niederländischen heimisch zu werden, 1980 wurde der Haiku Kring Nederland (Haikukreis Niederlande) gegründet, der heute etwa 200 Mitglieder hat. Das Haiku Centre Flanders (Haikuzentrum Flandern) hat 90 Mitglieder. Außerdem gibt es regionale Haikukreise. Vuursteen, die Vierteljahresschrift von HKN und HCF, wurde 1981 gegründet und dürfte damit die älteste noch existierende Haiku-Zeitschrift Europas sein. Es gibt Anthologien und Einzel-Veröffentlichungen in kleinen Verlagen. Max Verhart mahnte zur Gelassenheit: Als Antwort auf die Ignoranz der Feuilletons sollten wir nicht um literarische Anerkennung buhlen, sondern uns darauf konzentrieren, exzellente Haiku zu schreiben, wenn auch eine Anerkennung der nationalen Literatur hilfreich wäre.
ze glijdt het bad in
het zacht voelende water
lijkt op zijn adem
sie gleitet ins Bad
das sanfte Wasser
gleicht seinem Atem
Paul Mercken
stille zondag
de schaduw van de iep
doet zijn ronde
stiller Sonntag
der Ulmenschatten
macht seine Runde
Max Verhart
kijk, die olifant –
langzaam wordt hij twee hondjes
wolken in de wind
schau, der Elefant –
allmählich werden es zwei Hunde
Wolken im Wind
Marianne Kiauta
Frankreich: Seit 1903 werden Haiku in Frankreich geschrieben, berichteten Jean Antonini und Georges Friedenkraft. Zwischen den Weltkriegen gab es einen Höhepunkt an Veröffentlichungen, zwischen 1945 und 1975 eine Schaffens-Pause, 1980 bis 2000 erfolgte, inspiriert durch Beatniks wie Jack Kerouac, ein Neuanfang, der ab 2000 in eine kraftvolle literarische Bewegung mündete. Bei der Realisierung ihrer Haiku versuchen die französischen Autoren durch eine Betonung der Semantik einen „French Touch“ in ihre Haiku-Dichtung zu bringen. Das soziale Engagement in der französischen Poesie findet sich auch in der Dichtkunst französischer Haiku wieder. Die französische Haiku-Gesellschaft wurde 2003 gegründet, aber in der französischen Literatur nimmt das Haiku noch eine Randstellung ein.
Qu’était ce poème?
Mots? Jambes? Petite pierre? Oubli?
Mon corps d’automne
Was war dieses Gedicht?
Wörter? Beine? Kiesel? Vergessen?
Mein herbstlicher Körper
Jean Antonini
Nous dégraferons
le soutiens-gorge de l’aube
à perpétuité
Wir werden den Büstenhalter
der Morgendämmerung aufhaken
für immer
Georges Friedenkraft
Deutschland (und Österreich): Das Haiku kam über französische Übersetzungen nach Deutschland, in den 1920er und 1930er Jahren gab es Versuche einiger bekannter Dichter mit dieser Lyrikform, so von Rainer Maria Rilke. Das 1962 veröffentliche Buch „Haiku“ der Österreicherin Imma von Bodmershof ist das erste bekannt gewordene eigenständige Haikubuch im deutschen Sprachraum. Martin Berner führte aus, dass viele deutschsprachigen Haiku in der Tradition des Interpretierens stehen, meist zu ihrem Nachteil. Zu großen Wert wurde lange Zeit auf die äußere Form eines 17-Silben-Schemas gelegt. Im allgemeinen literarischen Leben hat das Haiku im deutschsprachigen Raum eine Außenseiterposition. Großen Wert legt die Deutsche Haiku-Gesellschaft auf die Aktivitäten der Regionalgruppen und Haiku-Kreise.
ein Krähenflügelschatten
und alles
fällt wieder ins Dunkel
Martin Berner (Deutschland)
Ein Fenster geht auf
im oberen Stock
niemand zu sehen
Dietmar Tauchner (Österreich)
Serbien und Montenegro: Dragan Ristic verwies auf das Jahr 1927 als dem der ersten Übersetzung japanischer Haiku in das Serbische, noch aus anderen europäischen Sprachen. Aber erst in den 1950er und 1960er Jahren wurden in Serbien selbst die ersten Haiku geschrieben. Eine erste serbokroatische Zeitschrift („Haiku“) erschien zwischen 1977 und 1981 im heutigen Kroatien. Die schwere Zeit des Krieges der 1990er Jahre sah einen Aufbruch in der serbischen Haiku-Literatur, in der viele Haiku-Clubs und -Zeitschriften gegründet wurden, oft mit nur kurzer Lebensdauer. Eine gesamtserbische Vereinigung gibt es nicht, aber sehr viele Haiku-Autoren, Bücher, Anthologien und Wettbewerbe. Das Haiku ist in Serbien recht populär, wird aber von der offiziellen Literaturkritik noch zu wenig gewürdigt.
ein Falter folgt mir
und flattert ein Stück mit
auf dem Sonnenweg
Dragan J. Ristic
Slovenien: Alenka Zorman trug zur Situation in Slovenien vor. Erst in den 1970er Jahren erschienen erste Übersetzungen japanischer Haiku. Der Haiku Club of Slovenia (HCS, 1997 gegründet, heute etwa 40 Mitglieder), gibt eine Zeitschrift („Jahreszeiten“) heraus, zwei Doppelnummern im Jahr, mit einer Auflage von 200 Exemplaren. Der literarische Club Apokalipsa beschäftigt sich auch mit Haiku. Er organisiert jedes Jahr einen internationale Haiku-Wettbewerb und veröffentlicht in seiner Zeitschrift Apokalipsa von Zeit zu Zeit Haiku. Haiku wird auch in slowenischen Grund- und weiterführenden Schulen gelehrt, wo es jährlich einen Haiku-Wettbewerb gibt. Haiku sind nicht durchgehend als literarische Form anerkannt, die wichtigsten Zeitungen des Landes veröffentlichen aber Artikel und Buchbesprechungen.
po…itek v senci –
v ritmu mojega diha
skarabej
Rast im Schatten –
im Rhythmus meines Atems
ein Mistkäfer
Alenka Zorman
Rumänien: Mihaela Popescu trug den von ihr übersetzten Bericht von Radu Patrichi vor. Das Haiku gelangte schon vor dem 2. Weltkrieg über Frankreich nach Rumänien. Wohl im 2. Weltkrieg wurden die ersten rumänischen Haiku geschrieben, aber erst ab 1990 gab es zunehmend Veröffentlichungen. Die Haikugesellschaft von Konstanza (am Schwarzen Meer) entstand 1992, sie trifft sich einmal im Monat und gibt ein- bis zweimal im Jahr die Zeitschrift „Albatros“ heraus, in der Beiträge auf Rumänisch und Englisch erscheinen. Haikutreffen und Anthologien werden organisiert. Auch andere Haiku-Vereinigungen existieren und geben Zeitschriften heraus, so die 1991 entstandene „Rumänische Haikugesellschaft“ von Bukarest, die halbjährlich die Zeitschrift „Haiku“ veröffentlicht. Haikudichter geben auch Veranstaltungen an Schulen. „Der Rumäne ist für die Dichtung geboren“, endete der Vortrag, und mit dem Hinweis auf ein inzwischen typisches rumänisches Haiku.
O scrisoare de dragoste
in buzunarul de langa inima –
floarea de trandafir
Der Liebesbrief
in der Tasche, nah am Herz –
eine Rosenblume
Vasile Moldovan
Tunete si ploaie
acorduri de pian
imi potolesc nelinistea
Donner und Regen
Klavierakkorde stillen
meine Erregung
Mihaela Popescu
vorbind cu melcul
ajuns pe gardul verde
privire mirata
mit der Schnecke sprechen
auf dem grünen Zaun –
ein überraschter Blick
Radu Patrichi
Ungarn: Judit Vihar führte aus, dass das Haiku schon Anfang des 20. Jahrhunderts in englischen und französischen Übersetzungen nach Ungarn gekommen sei und von impressionistischen Schriftstellern aufgenommen worden war, manchmal recht frei, auch gereimt, manchmal mehr der japanischen Form angenähert. Etwa ab Anfang der 1980er Jahre wurde das Haiku in Ungarn populär, wieder in verschiedenen Strömungen. Der Ungarische Haiku-Club wurde im Jahr 2000 gegründet und hat gegenwärtig etwa 60-70 Mitglieder.
Fáradt hajnalon
kényelmesen feküszünk –
bombarobbanás
Am frühen Morgen
wir sind gemütlich im Bett
Bombenterror
Judit Vihar
Estland: Andres Ehin trug zur Situation in diesem baltischen Land vor. Es gibt etwa 100 Esten, die Haiku dichten – wohl keiner habe sich aber ausschließlich dieser Literaturgattung verschrieben, auch existiert keine Haikugesellschaft. Die ersten Haiku in estnischer Sprache wurden bereits vor dem 1. Weltkrieg geschrieben, sind aber nicht erhalten. Eine Anthologie estnischer Haiku wurde 1980 herausgegeben. Ehin hebt eine Verbindung des Haiku zu alten estnischen Volksgedichten sowie zwischen der Sprache des Estnischen und dem Japanischen hervor, auch Ähnlichkeiten zwischen dem Shintoismus und der vorchristlichen estnischen Religion würden bestehen.
Der Flug der Schwäne
die Wolkenwatte
noch weißer
Andres Ehin
Dänemark: Hanne Hansen berichtete über die Entwicklung des Haiku in Dänemark. 1963, in der Zeit des Vietnamkrieges, in der eigentlich politische Aktionen auf der Tagesordnung standen, machte Hans-Jørgen Nielsen dort das Haiku, das bereits vorher schon von einigen Autoren verwendet worden war, weiteren Kreisen bekannt. Viele Autoren nahmen seit dieser Veröffentlichung Haiku in ihr eigenes dichterisches Repertoire auf. Seit dem Jahr 2000 gibt es zunehmend Aktivitäten wie Aufsätze, Anthologien, Mitarbeit an Renku. Die dänische Sprache ist dem Deutschen sehr ähnlich, entsprechende Schwierigkeiten wie im Deutschen gibt es deshalb auch im Dänischen beispielsweise beim Vergleich der japanischen onji mit den dänischen Silben.
En smal gul stribe
Havens første rosenknop
åbnes mod solen
Schmaler gelber Streifen
Die allererste Rosenknospe
In meinem Garten
Sys Matthiesen
Orange roser
Klatrende op ad muren
Kun halvvejs endnu
Orange Rosen
Die Mauer
erst halb erklettert
Hanne Hansen
Over lilla lyng
Sensommerens månelys
Fasanen skriger
Die lila Heide
Das Mondlicht des Spätsommers
Der Schrei des Fasanes
Kate Larsen
Schweden: Die Besprechung des englischsprachigen Haikubuchs eines Japaners 1933 dürfte Helga Härle zufolge die erste Erwähnung des Haiku in schwedischer Sprache gewesen sein. 1959 erschien die erste Ausgabe japanischer Haiku in schwedischer Sprache, 1961 die erste Ausgabe von Haiku eines schwedischen Lyrikers. 1963 wurde aus dem Nachlass des 1961 ums Leben gekommenen UNO-Generalsekretärs Dag Hammarsköld eine tagebuchartige Sammlung von Notizen, Beobachtungen und Haiku veröffentlicht. Seit den 1970er Jahren gibt es Haiku in vielen Lehrmaterialien für alle Schulstufen, meist aber nur durch das Silbenzählen und allenfalls ein Jahreszeitenwort gekennzeichnet. Aber einige bekannte Lyriker veröffentlichen Haiku, so in eigenwilliger Form Tomas Tranströmer. 1999 wurde die Schwedische Haiku-Gesellschaft gegründet, die Anthologien und die Zeitschrift „Haiku“ veröffentlicht sowie Haiku-Wettbewerbe und Workshops veranstaltet. Gegenwärtig hat die Schwedische Haiku-Gesellschaft etwa 150 Mitglieder.
en liten hand
genom dagisstaketet –
plockar maskrosbukett
eine kleine Hand
langt durch den Kita-Zaun –
nach Pusteblumen
Helga Härle
På dörrhandtaget
möts deras händer
på väg ut
Auf dem Türgriff
ihre Hände treffen sich
auf dem Weg hinaus
Kaj Falkman
Großbritannien: Annie Bachini stellte die 1990 gegründete Britische Haikugesellschaft vor, die etwa 300 Mitglieder hat, davon 100 aus Ländern außerhalb Großbritanniens. Neben ihrer Vierteljahresschrift Blithe Spirit erscheint gleichfalls vierteljährlich ein internes Mitteilungsblatt. Vor allem werden Veranstaltungen wie Lesungen, Workshops und Haiku-Spaziergänge organisiert, außerdem finden Konferenzen und Wettbewerbe statt, es gibt eine verleihbare Plakatausstellung sowie einen Haiku-Bausatz für Schulen und Fortbildungen. Meist bei kleinen Verlagen erschienen viele Anthologien und Solo-Publikationen.
under the sea
a fish becomes human
in an air pocket
Im Meer
ein Fisch wird menschlich
in einer Luftblase
Annie Bachini
evening by the river,
red-painted toenails
sinking into silt
Abend am Fluß –
rote Zehennägel
versinken im Schlick
David Cobb
Aus zwei weiteren Ländern gab es keine Vorträge, aber beim Organisator waren schriftliche Berichte eingegangen.
So informierte Serge Tomé über eine eher tragische Situation im französischsprachigen Belgien insofern, als das Haiku dort so gut wie unbekannt sei. Während sich im flämischen (flämisch und niederländisch sprechenden) Norden die Menschen kulturell eher zu den Niederlanden hingezogen fühlen, gibt es eine enge kulturelle Bindung der Menschen in Wallonien zu Frankreich. Es gibt kaum 20 Haiku-Dichter, keine Haiku-Gesellschaft, keine Haiku-Zirkel, keine gemeinsamen Treffen der Haiku-Aktivisten, keine Haiku-Zeitschrift. und kaum Veröffentlichungen des Genre.
demain la pluie
la couleur dorée du vin
dans mon verre
Morgen Regen
die goldene Farbe des Weins
in meinem Glas
Serge Tomé
In Bulgarien erschien 1985 ein erstes Buch mit klassischen japanischen Haiku. 2000 wurde in Sofia ein Haiku-Club gegründet, der etwa 40 Mitglieder hat und sich zweimal im Monat trifft. Es gibt Wettbewerbe, recht viele Buchveröffentlichungen, die Beachtung in der Öffentlichkeit, in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen erscheint gut.
Geruch nach Regen
Ameisen rennen schnell:
„heim, heim, heim!“
Ginka Biliarska
Schlussfolgerungen
Aus den einzelnen Berichten fügt sich uns ein Gesamtbild. Das Haiku ist im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Europa angekommen, recht bald folgten schon eigene Versuche in den jeweiligen Landessprachen, von Anfang an und bis heute vom offiziellen Literaturbetrieb mehr oder weniger ignoriert. Ab 1980 bis etwa 1990 begann ein starker Schub in der Anzahl der Veröffentlichungen, und in der Gründung von Haiku-Clubs und -Gesellschaften. Mehrere Redner sprachen davon, dass die ersten Versuche in ihren Ländern recht unbeholfen gewesen seien, dass sich inzwischen aber nicht nur ein gutes Verständnis des japanischen Haiku entwickelt habe, sondern eine eigene Haiku-Kultur, ein heimisch Werden des Haiku in der eigenen Sprache. Die noch zu geringe Beachtung des Haiku durch den allgemeinen Literaturbetrieb wird fast überall mal etwas mehr, mal etwas weniger heftig beklagt.
Wo stehen wir heute mit dem deutschsprachigen Haiku? Wir stehen mitten in Europa, unsere Fragen um das Haiku, seine Gestaltung, seine Funktion, unser Bemühen um seine Verbreitung in unserer Kultur, werden überall in ähnlicher Weise gestellt. Wir können wohl voneinander lernen, aber unsere Antworten müssen schon die eigenen Antworten sein, um nicht nur das nachzureden, was anderswo unter anderen Verhältnissen Gültigkeit beanspruchen kann, bei uns aber falsch würde. Sie müssen getragen werden von unserer eigenen Kultur, um die Einbettung des Haiku in unser Leben zu verstärken.
Die Silbenzahl, im deutschsprachigen Raum noch bis vor wenigen Jahren hart umkämpft, scheint nirgendwo ein Problem darzustellen, denn die meisten Haiku-Dichter kommen mit weniger als 17 Silben aus. In manchen Ländern scheint es eine größere Nähe des Haiku zur „normalen“ Lyrik zu geben, ganz besonders ist das in Frankreich so. Ob das zu einer Bereicherung oder zu einer Infragestellung des Haiku als eigenständige Literaturform führt, wird sich zeigen müssen. Dass beim Haiku, anders als bei anderen Lyrikarten, Autorenvereinigungen eine so große Rolle spielen, ist interessant, die Wichtigkeit der einzelnen Gesellschaften für die Ausbreitung des Haiku wurde offenkundig. Einzelne Berichte deuten darauf hin, dass in vielen europäischen Ländern das Haiku von den Medien, der Öffentlichkeit, von Vertretern anderer Literaturformen stärker beachtet wird als im deutschsprachigen Raum.
Wir sehen den Kongress als eine Bestätigung des breiteren Weges, den das Haiku im deutschsprachigen Raum die letzten Jahre zu gehen versucht. Das Ringen um den Text, gemessen nicht an einer in fremder Kultur gefertigten äußeren Form, sondern in Befragung der inneren Wahrheit eines Textes, seiner Tiefe, seiner Kraft und seiner Relevanz für andere Menschen, ist einfach unverzichtbar – für jeden einzelnen Autoren in seiner Schreibstube und für die Zusammenarbeit der Autoren in Arbeitskreisen, Regionalgruppen oder im Netz.
Wir müssen weniger empfindlich werden, wenn unsere Texte bei anderen Menschen nicht den gleichen Nachhall finden wie bei uns selbst, wir müssen an ihnen arbeiten. Es ist wohl besser, eher noch kritischer bei der Aufnahme von Texten in Auswahlen zu werden, vielleicht müssen wir neue Formen der Kritik und Auslese finden. Das Potenzial des Haiku für die Bereicherung jeder europäischen Kultur ist offensichtlich, seine Bildhaftigkeit und sein Gegenwartsbezug mit der Faszination des Augenblicks sind einzig in der europäischen Literatur. Vielleicht kommt langsam die Zeit, sich nicht nur mit den inneren Problemen des Haiku und seiner Dichter-Gemeinschaft zu beschäftigen, sondern ausdrücklich die Stellung des Haiku in der Literatur zu thematisieren, damit nach außen zu gehen, sich offensiver der Auseinandersetzung mit anderen Literaturformen zu stellen.
Dichtung findet in der Stille statt, der kreative Prozess verläuft im Verborgenen, in der Abschließung – so war es sehr interessant zu erleben, dass die Zusammenkunft, das Gespräch mit anderen Autoren, das gemeinsame Handeln in der Verbreitung der Dichtung gleichfalls bereichern kann. Selbstverständlich ist das nicht – uns schien aber, dass der Haiku-Kongress mit seinen produktiven Begegnungen für alle Teilnehmer einen enormen Motivationsschub bot.
Nachspiel
Der erste Europäische Haiku-Kongress hatte noch ein dichterisches Nachspiel: Dick Pettit aus Dänemark leitete die gemeinsame Arbeit an einem 20-strophigen Renku (nijûi). Viele Teilnehmer des Haiku-Kongresses beteiligten sich daran und brachten ihre Ideen und ihre Dankbarkeit gegenüber der Stadt Bad Nauheim ein. Via email wurden die Renku-Autoren auf dem Laufenden gehalten, konnten das Wachsen des Renku verfolgen, Änderungswünsche vorschlagen und Übersetzungsversuche diskutieren. Das Renku ist in englischer und deutscher Sprache veröffentlicht. Über den Kongress hinaus ist so ein wunderbares Projekt gestartet und vollendet worden, das auch in Zukunft auf eine engere Zusammenarbeit der Haiku-Dichter in Europa hoffen lässt.
Ersteinstellung: 10.06.2005