Musik und Haiku: Herangehensweisen

Volker Friebel

 

Das Haiku ist mit einer Vielzahl von Künsten und Ausdrucksformen eine Verbindung eingegangen, so auch mit der Musik. Musik als Unterlegung, Musik als Interpretation, Musik als Gegenüber, Musik als Partner des Haiku: Vier Aufnahmen zeigen Möglichkeiten, die Künste zusammenzubringen.

Unterlegung

„Grundkraft in Zeit und Ewigkeit“ heißt eine CD, welche die Enkel von Friedrich Wilhelm Schmidt (1892-1979) veröffentlicht haben. Sie enthält hundert der im Jahre 1975 geschriebenen Haiku des Volkskunstforschers. Die Texte bestehen fast ganz aus „Gedanken und Lebenserfahrungen“ in 17 Silben, wie auch das Beiheft mitteilt, in dem alle Haiku nachzulesen sind. Zwei Beispiele:

Vom Blitz getroffen,
zerrissen, im Kern zerglüht,
kannst neu du erstehn.

Hohe Lebensschau:
„Daheim ist, wo man mich liebt.“
Behalte dies Wort!

Die Haiku werden – mit kleinen Pausen – hintereinander gelesen, in einzeln anwählbaren thematischen Gruppen geordnet. Auch bei hundert Haiku in 30 Minuten kommt keine wirkliche Hast, aber doch eine Stimmung auf, dass eine langsamere Vortragsfolge noch besser wäre. Jede der thematischen Haiku-Gruppen hat eine eigene Musikuntermalung, auch mal Naturgeräusche wie Wellenrauschen, Vogelgesang oder Straßenszenen, offenbar im Tonstudio des beauftragten Verlags hergestellt. Die Musik ist zum Teil fernöstlich nachempfunden – durchaus gut, aber offensichtlich eine Auftragsarbeit, und ohne Angabe von Musikern. Sie versucht, musikalisch die Stimmung der jeweiligen Haiku-Themen aufzunehmen und zu verstärken, hat also die Haiku-Gruppe als Thema, nicht das einzelne Haiku.

Interpretation

Der Frankfurter Haiku-Kreis hat zusammen mit dem Musiker und Komponisten Peter Knodt eine CD herausgebracht. Enthalten sind Haiku und deren Vertonungen, die zuvor schon auf Konzerten und 2005 auf einer Abendveranstaltung des 1. Europäischen Haiku-Kongresses in Bad Nauheim zu hören waren. Nach jedem der achtzehn Haiku verschiedener Autoren ist eine Glastrompete zu hören, die das Thema in Klangminiaturen von bis zu einer Minute Dauer interpretiert.

Mehrfachzuspielungen, Hall, Echo, die Trompetenöffnung unter Wasser gehalten – Peter Knodt hat eine breite Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten gewählt. Seine Kompositionen bleiben oft sehr nahe am Haiku-Thema, er stellt tanzende Schneeflocken dar, das Geräusch einer Motorsäge, ein startendes Motorrad, ein Martinshorn, den Wind … Etwas Vertrautheit mit Neuer Musik sollte der Hörer schon mitbringen. Jedes Haiku und jedes Musikstück ist einzeln anwählbar. Das Beiheft enthält Informationen zum Projekt sowie die Texte der vertonten Haiku. Hier drei davon:

Die Schneeflocken tanzen,
doch der Schlitten im Keller
kennt nur noch den Staub

Georges Hartmann

Die nackte Weide
legt Ohrringe an; das Gras
feiert Auferstehung

Erika Schwalm

Stadtlärm und doch
Herbstabend

Martin Berner

Gegenüber

Mario Fitterer hat eine Reihe ganz ausgezeichneter Haiku- und Lyrikbücher veröffentlicht, Jens Egert ist Musiker und Leiter des West-Östlichen Kulturzentrums in Rheinau-Hausgereut. Im Herbst 1983 traten sie zusammen bei einer Veranstaltung im Wallgrabentheater Freiburg auf, von der ein unveröffentlichter Kassetten-Mitschnitt existiert. Texte und Musik sind hervorragend, die Tonqualität ist mäßig, streckenweise sogar sehr schlecht.

Jens Egert spielt Trommel, Maultrommel, Sarod, Gitarre und Flöte. Einzelne Stücke dauern bis zu neun Minuten. Ich habe 34 Haiku gezählt. Die Gesamtdauer der Aufnahme beträgt 80 Minuten. Lesung (ein bis sechs Haiku je Block) und einzelne Musikstücke, manches improvisiert, das meiste aber gut ausgearbeitet, wechseln sich ab, Wort und Ton stehen sich gegenüber. Es sind zwei Stimmen in Wechselrede – und damit haben wir eine dritte Herangehensweise kennen gelernt, um Haiku und Musik zusammenzubringen. Hier drei der Haiku von Mario Fitterer.

Den Blick loslassen
von den Wegweisern
nach und nach den Sand spüren

Die Wand durchlässig
der zarte blaue Ton
der Glockenblume

Den Atem in den Rhythmus
der Weizenfelder
ausströmen lassen

Durchdringung

Lilo Brentrup hat in den 1980er und 1990er-Jahren einige Haiku-Bücher veröffentlicht. In der Bildungs- und Begegnungsstätte Rütte im Süd-Schwarzwald veranstaltete sie zusammen mit der Musikerin Andrea Ulsamer Haiku-Meditationen. Ein Mitschnitt davon auf Kassette, der nicht im Handel erhältlich ist, fiel mir neulich wieder in die Hände.

Wenn ich richtig gezählt habe, sind es in der Meditation „Frühlingszeit“ 28, in der „Winterzeit“ 30 Haiku, die jeweils innerhalb einer halben Stunde in Blöcken von meist zwei oder drei Haiku dargeboten werden. Zwischen den Texten erklingt sparsam und abwechslungsreich Musik meditativer Art, die schon mal bis in ein Haiku hineinreicht – und doch viel Raum für die Stille lässt. Andrea Ulsamer bringt Flöten, Trommeln, Klangschalen, eine Harfe und andere Saiteninstrumente zum Einsatz, sie singt auch – und das ist bereits für sich genommen ein Erlebnis. Die locker hineingestreut wirkenden Haiku gehen mit der Musik eine überzeugende Verbindung ein. Musik und Wort durchdringen und ergänzen sich in seltener Weise.

Über die Haiku von Lilo Brentrup mag man streiten, mir persönlich kommen oft zu wenig Bilder und zu viel gewaltig-abstrakte Wörter wie „Sein“, „Welt“, „Wesen“, „Leben“ vor. Sie setzen beim Leser damit vielleicht zu selbstverständlich eine Identifizierung mit den Stimmungen und Erfahrungen der Verfasserin voraus. Hier drei Beispiele:

Manchmal schwingt die Welt
unhörbar im Klang des Seins.
Still hineinhorchen.

Kleine Schneeflocke,
Atemhauch im Wintertag
aus tiefer Stille.

Die Luft ist erfüllt.
Wer lernt hineinzuhorchen,
empfängt das Leben.

Der Mitschnitt allerdings ist beeindruckend, denn er zeigt eine weitere Herangehensweise an das Thema Haiku und Musik: das Miteinander, die lebendige Durchdringung.

Die Aufnahmen

Brentrup, Lilo (Haiku) und Andrea Ulsamer (Haiku-Musik): Haiku-Meditation im Rütte-Forum. So. 30.12.1990 „Winterzeit“, So. 02.06.1991 „Frühlingszeit“. Mitschnitt auf Kassette, nicht im Handel erhältlich.

Fitterer, Mario und Jens Egert: Haiku und Musik. Jens Egert spielt Improvisationen, Trommel, Maultrommel, Sarod, Gitarre, Flöte,. Mario Fitterer trägt eigene Haiku vor. Kassettenmitschnitt einer Veranstaltung am Sa. 3. September 1983 im Wallgrabentheater Freiburg, nicht im Handel erhältlich.

Frankfurter Haiku-Kreis und Peter Knodt: Haiku und Klangspuren in Glas. Gustl Meyer-Fürst liest Haiku des Frankfurter Haiku-Kreises zu Haiku-Vertonungen für Glastrompete von Peter Knodt. Audio-CD, 20:25 Minuten, Heft von 16 Seiten, ohne Jahr und Verlag (bestellbar für 12 Euro inklusive Versand beim Minimart-Verlag Martin Berner).

Schmidt, Friedrich Wilhelm: Grundkraft in Zeit & Ewigkeit. Entspannen & Träumen. 100 HaikuVerse aus dem Japanischen, untermalt mit Klängen & Musik. AWOS-Verlag, 2005 [www.Triple-Con.de], ISBN: 3-932-649-91-5, 29,90 Euro, Audio-CD (31:51 Minuten) mit 100 Haiku im achtseitigen Heft abgedruckt.

 

Ersteinstellung: 05.01.2006