Volker Friebel
Die „Artisten“-Fakultät, das heißt in vergangener Sprache: die Fakultät für Philosophie, ist seit dem 15. Jahrhundert in der Burse untergebracht. Eine Unterbrechung gab es allerdings, und die Nutzung als Klinikum; ein Patient war der geistesgestörte Hölderlin. Das Kopfsteinpflaster kommt ruhig gebogen von den Läden der Neckargasse herunter und strömt, noch hoch überm Neckar, an der Burse vorbei zum Evangelischen Stift; eine Staffel geht es dann wieder hinauf, wenn man möchte zum Marktplatz, oder zum Schloss. Hier bei der Burse, gelehnt an die Mauer der Neckarauen, mag manchmal jemand zur Platanenallee auf der Insel hinüberschauen. Studenten sitzen im Gespräch. Gerüche wechseln.
Alte Burse
im Fliederduft. Der Name Kant
fällt.
Abstrakte Gedanken, das Kopfsteinpflaster, der Wind … Immer noch die alten Namen.
Platanenallee.
Kinder jagen Tauben
in den Himmel zurück.
Am Hölderlinturm.
Ein Ruder taucht tief
in den Himmel.
Abenddämmern im Fluss.
Ein Hund schaut
über den Himmel.
An der vielbefahrenen Straße die Mauer einer verlassenen Kaserne, die nun, als historisches Gebäude geschützt, zu Geschäfts- und Wohnräumen umgebaut werden soll. Die ehemals fleißigen Sprüher, wer weiß, manch einer wird hier vielleicht bald eine Anwaltskanzlei oder ein Maklerbüro eröffnen, zu urteilen nach den verblassenden Farben und dem abblätternden Kalk.
Freiheits-Chiffren.
Der Putz, der sie trägt,
bröckelt.
Vom Neckartorcafee der Blick auf den Fluss. Hinter den Weiden am Hölderlinturm festgekettete Kähne. An der Mauer stehen Menschen, schauen ins Blinken. Was von ihnen mit dem Gleißen in einen Einklang kommt, wie dieser Einklang die Menschen bewegt.
Jemand tritt
in den Stocherkahn.
Der Fluss schwankt.
Blütenstaubteppich.
Hinter dem Stocherkahn
eine Spur Klarheit.
Adventnacht.
Durchs Stiftfenster spähen:
ein aufgeschlagenes Buch.
In der Stiftskirche, Motette. Orgelstücke. Das Programmblatt raschelt Buxtehude. Als ich die Augen schließe und lausche, erscheinen auf dem Vorhang der Klänge Gesichter von Menschen, die auch schon hier saßen, die in anderen Kirchen saßen, unter anderen Orgeln, die alle dieser Musik gelauscht haben, hell aufleuchtende, schnell wieder verblassende Gesichter durch die Jahrhunderte. Puder und Schminke, Mode der Kleidung, des Schnitts dieser Kleidung, des Stoffs, Augenlider gezupft oder natur. Ihr Schmuck, rasch umgegossen in neue Figuren. Das Knarren der Holzbank.
Orgelstücke durch Zeiten,
schnell wechseln
Gesichter.
Sommermorgen.
Oben im Hölderlinturm
ein offenes Fenster.
Bebenhausen
Um das Zisterzienserkloster im Schönbuch bei Tübingen entstand ein Dorf. Das Kloster ist aufgelöst, an die zeitweilige Nutzung von Teilen als Jagdschloss und Ruhesitz des letzten württembergischen Königs (und als Ort, an dem die Verfassung des Landes Württemberg-Hohenzollern nach dem zweiten Weltkrieg verabschiedet wurde) erinnern Tafeln.
Altes Gemäuer.
Durch die Schießscharte sehen
auf Wolken und Blau.
Im Schlossgarten.
Ein Sperling landet
auf der Kanone.
Die Klosterglocke.
Der Schnee hört
zu funkeln nicht auf.
Wanderabend am Kloster.
Das Spinnennetz
am Zeiger der Sonnenuhr.
Am Ende des Weges
das Kloster. Noch weiter:
Bäume.
Ersteinstellung: 13.10.2004