Utamakura – Gedichtkopfkissen Tübingen

Volker Friebel

 

Über mehrere Monate wanderte Basho im Jahre 1689 durch das nördliche Japan. Seine Reise galt utamakura, Gedichtkopfkissen, Orten, die wegen ihrer Schönheit oder ihrer geschichtlichen Bedeutung besucht, bewundert und bedichtet wurden. Das aus dieser Reise entstandene Buch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland gilt als eines seiner bedeutendsten Werke.

Anne-Marie Käppeli aus Genf hatte während eines Aufenthalts in Tübingen die Idee, diese Tradition, im heutigen Japan als altertümlich belächelt, bei uns einzuführen und neu zu fundieren. Selbst mit und zwischen verschiedenen Sprachen lebend, wollte sie auch eine Begegnung der deutschen und der französischen Haiku-Gesellschaft initiieren, als Erkundung der literarischen Hinterlassenschaften einer daran besonders reichen Stadt. Franzosen und Deutsche sagten ihre Teilnahme zu, auch der Himmel wollte dabei sein, mit Kälte, Nässe und schweren Wolken – und so schritten nun am Himmelfahrt-Abend zwei Dutzend Haiku-Dichter im Hölderlinturm von Zimmer zu Zimmer und lauschten den Ausführungen der Turmführerin.

Hölderlin, sagt sie,
war krank im Geiste.
Vor ihr nur Dichter …

Georges Hartmann

 

Krank im Geiste? „Des Menschen Maaß ist’s“. Aber: „Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines.“ – Hölderlins Turm-Hymne hing im Treppenhaus. Über „jene Treppen“ ging es aus der Verse duftenden Luft hinaus in die Kälte, zur Stocherkahnfahrt. Fast alle trauten sich ins nasse Gefährt, nur der Berichterstatter zog es vor, an Land zu bleiben. Nicht aus Angst etwa, nein! Er blieb, um gegebenenfalls auch ein Kentern im schnellen Hochwasser mit der Kamera zu dokumentieren, ein Andenken für die Nachwelt erhalten zu können.

Blick auf den Turm
Über dem Kahn suchen Schwalben
die Tiefe

Winfried Benkel

 

Von der blumengeschmückten Neckarbrücke aus bangte der Berichterstatter mit dem Stocherer beim mühsamen Wenden des Kahns – alle anderen Kahnführer hatten nach den Regengüssen der vergangenen Tage eine Fahrt in die Flut abgelehnt.

Glücklich angelegt, vom schwankenden Kahn die Schritte an Land, die Stufen an den Trauerweiden hinauf zum engen Weg hinter der Flussmauer, auf der bei gutem Wetter Studenten sitzen, wo Beine baumeln, und Spatzen hüpfen, keck picken nach den Krümeln der stillen Leser oder der Liebespaare – da verliefen sich die Teilnehmer in den Lokalen der Stadt.

die Kähne
verlassen – Weiden
hängen Zweige ein

Gitta Hofrichter

 

Am nächsten Tag sollten die Dichter auf eigene Faust Stadt und Umgebung erkunden – und Haiku schreiben. Der Chronist wanderte mit Claudia Brefeld und Georges Hartmann über den Stadtfriedhof (Steinchen auf Hölderlins Grab, Besuch der Gräber von Ludwig Uhland und Isolde Kurz, Begegnung mit Winfried Benkel, der unterwegs zum Haiku-Stein auf dem Gelände des Neuen Klinikums war), weiter durch den Alten Botanischen Garten (lila Blüten des japanischen Kaiserbaums), in ein Eiscafee (Haiku dichten), und schließlich zum „Ratskeller“.

Was ließen wir nicht alles aus! Das heutige Antiquariat etwa, wo der Buchhändler-Lehrling Hermann Hesse in die Geschäftswelt des Schreibens eingeführt worden war, oder das Tübinger Stift, eine Anstalt zur Ausbildung protestantischer Geistlicher, von der der letzte württembergische „König“ behauptete: „Wer im Land etwas werden will, muß im Stift gewesen sein. Wer außerhalb des Landes etwas werden will, muß aus dem Stift geflogen sein.“ Hegel, Schelling und Hölderlin bewohnten dort zeitweise gemeinsam dieselbe Stube, und tanzten 1793, wohl zur Feier des Sturms auf die Bastille, um einen Freiheitsbaum.

Im „Ratskeller“, der Name weist mehr auf die Konterrevolution hin, versammelten sich nach und nach alle Teilnehmer des Haiku-Treffens, die Gedichte wurden zur Übersetzung abgegeben; nach dem Abendessen schrieben wir Tan-Renga.

Am nächsten Vormittag kamen zur Haiga-Ausstellung und öffentlichen Lesung im Deutsch-Französischen Kulturinstitut etwa 40-50 Personen. Zum Empfang in der repräsentativen Eingangshalle der Villa sprachen Jean Antonini und Georges Hartmann, die Vorsteher der beiden Haiku-Gesellschaften, zum Lesen ging es, der literarischen Form entsprechend, in den Untergrund. Von jedem Teilnehmer wurden im Klassenzimmer des Untergeschosses zweisprachig zwei der in Tübingen geschriebenen Haiku gelesen, anschließend gab es eine Diskussion. Noch ein bisschen in den ausliegenden Büchern blättern … Damit endete das Haiku-Treffen.

Kann aus Altem Neues entstehen, kann eine verstaubte Tradition aus einem fernen Land bei uns wieder lebendig werden, und jung? Von jedem Dichter eines der während der Lesung dargebotenen Haiku (aus Platzgründen nur in deutscher Version, die im Text oben schon berücksichtigten Autoren sind nicht noch einmal aufgeführt). Anschließend eine kleine Auswahl der Tan-Renga aus dem „Ratskeller“. Ob eine Weiterführung dieser Idee wünschenswert ist, werden die Teilnehmer entscheiden, und die Leser.

Weitere Haiku der Lesung

Dein Lächeln
zum Frühstück honigsüß
heute!

Elisabeth Kleineheismann

 

Hölderlins Schwäne
ihre Anmut beflügelt
zu neuen Versen

Renate Buddensiek

 

Vor grauen Wolken
strahlt ein rosa Fliederbusch
lichterloh empor

Helmut Hannig

 

Holzschnitte –
Kreuz und quer die Linien
in Hölderlins Gesicht

Angelika Holweger

 

Kopfüber
der Turm im Fluss
wir schöpfen Worte

Ilse Jacobson

 

holpriges Pflaster
hoch über der Stadt
die Archäologie

Helga Stania

 

Fensterkreuze
zerteilen den Neckar
„… Linien des Lebens …“

Claudia Brefeld

 

Gewitterhimmel.
Durch das letzte Gedicht
fliegen Schwalben.

Volker Friebel

 

Rapsfeld im Regen
Bienen haben Hausarrest
Ich kaufe Honig

Maria Pohlmann

 

alte Buchhandlung
Lobeslieder auf die Stadt
selbst der Lehrling schrieb

Rita Rosen

 

Lotte Reiniger:
von ihren Händen nur
die Scherenschnitte.

Germain Rehlinger

 

Würzige Neckarluft
von Hölderlins Turmfenster
starten Tauben

Marianne Kunz

 

Nieselregen im Frühling
aber der braune Neckar
zeigt sich gleichgültig

Klaus-Dieter Wirth

 

namen fliessen
auf der rostigen platte
ins seelenmeer

Anne-Marie Käppeli

 

Himmelfahrt
mit Kastanienkerzen
wie Samt-Weihnachtsbäume

Rob Flipse

 

Der Schiffer lacht
unser Kahn fährt rückwärts
der Neckar fliesst

Josette Pellet

 

Die Jakobskirche
auf dem Weg nach Compostella
zweifaches Ziel

Eliane Béguet

 

Bunte Fassaden
im Stadtgewirr
bei Regen

Emmanuelle Martin

 

Ist das ein Gedicht?
Beim Heft schliessen
an Hölderlin denken

Jean Antonini

 

Nonnenhaus –
vor seinem Bierbock aus Schaum
füllt er den Lottoschein aus

Danyel Borner

 

Kleine Auswahl der entstandenen Tan-Renga

 

Kreuzgang
abgetretene Namen
auf den Grabplatten

am Abendhimmel
Kreuzzug gen Süden

Winfried Benkel / Gitta Hofrichter

 

Wilde Träume –
ins Blau steigen
Vögel der Nacht

Lichter am Neckar-Ufer
zerfließen im Abenddunst

Ilse Jacobson / Renate Buddensiek

 

Aschewolken
Im Biergarten rechnen
die Piloten

Die Kellnerin klopft hastig
ihre Zigarette ab.

Winfried Benkel / Klaus-Dieter Wirth

 

Eine Affenhitze
in diesem Sommer, sagt er
Sie mustert ihn kühl.

Er versinkt im Senf
seiner alten Jahre

ohne Namen / Rob Flipse

 

Eine Fliege läuft
kreuz und quer an der Decke
über dem Rollstuhl.

Armes Ding, denkt er.
Kann sie nicht fliegen?

Klaus-Dieter Wirth / Maria Pohlmann

 

Kirschblüten
lauschen in die Kuppel
von Licht

höher und höher
ein Vogellied

Helga Stania / Claudia Brefeld

 

Ersteinstellung: 15.07.2010