44 gelungene deutschsprachige Haiku in zufälliger Reihenfolge,
eingeführt und zusammengestellt von Volker Friebel
Als wichtigste Merkmale von Haiku gelten:
Kürze: Haiku sind kurze Gedichte. Meist werden sie in drei Zeilen geschrieben.
Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Zeit. Und zwar fast immer in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Fantasien, die jemand in der Gegenwart hat.
Konkretheit: Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes nicht abstrakt, sondern konkret dar, für einen Leser miterlebbar, sinnenhaft erlebbar, beobachtbar. In erster Linie wird also die Wahrnehmung angesprochen, weniger das intellektuelle Denken.
Externe Orientierung: Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den allgemeinen Vorstellungen des Dichters.
Offenheit: Mit dem Lesen des Textes sollte das Haiku noch nicht zu Ende sein. Ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes, für den Leser weiter zu Dichtendes sollte noch bleiben.
Endreime oder Überschriften gibt es beim Haiku nicht.
Diese Merkmale gibt es auch auf YouTube: https://youtu.be/JIotmkvimC4
Die folgenden Texte können als gute Beispiele für Haiku genommen werden. Zu den Kriterien dafür informiert ausführlicher die Seite Merkmale des Haiku.
Stromausfall.
In der Wohnung des Nachbarn
spielt jemand Klavier.
Sigrid Baurmann
Windstille.
Vom Ruderblatt tropft
der Abendhimmel.
Hubertus Thum
im drehkreuz
zur vollzugsanstalt
eine sonnenblume
Mario Fitterer
Sonnenuntergang.
Die leuchtenden Gesichter
verblassen wieder.
Udo Wenzel
keine Worte
für das Licht, das
mich streifte
Michael Denhoff
Allein gewandert.
Am Abend der fremde Klang
meiner Stimme
Jochen Hahn-Klimroth
Friedhofsbrunnen –
das Wasser nimmt Erde mit
von meinen Händen
Arno Herrmann
Beim Schlüsseldienst
Luigi erzählt mir
von der Sonne Siziliens
Andreas Marquardt
Schlaflos –
auf dem Kissen neben mir
Mondlicht
Roswitha Erler
Zwischen Amselstrophen
die Tiefe.
Mairegen.
Volker Friebel
Glockengießerei.
Vor der Klangprobe
den Atem anhalten
Angelika Wienert
kein Strafzettel
Herbstblätter
Martin Berner
Früher Fang.
Dieses Glitzern – wie es zurückperlt
ins Meer
Wolfgang Beutke
Behutsam
meine Hand über deine –
ein Schmetterling
Claudia Brefeld
Auf dem Kunstmarkt –
ein Portraitmaler zeichnet
mein zweites Gesicht
Andrea D’Alessandro
„Die ewig alten Geschichten“,
schreit sie.
Draußen fällt Schnee.
Marianne Kunz
wintergewitter –
vor seiner berührung
die augen schließen
Ramona Linke
Erster Januar.
In einem Schminktischspiegel
die offene Tür.
Horst Ludwig
Beim Entwirren
des Wollknäuels
eine Bach-Fuge
Rudi Pfaller
Kindereisenbahn
Opas Zigarrenstummel
qualmt im Schornstein
Werner Reichhold
Geständnis –
die Worte werden genauer
im Dunkeln
Kerstin Scharmberg
der alte Hippie –
Wind streicht über sein Herz
von Wiesenblumen
Helga Stania
die welt neu ordnen
beim sortieren der bücher
in meinem regal
Heinz Schneemann
Wieder verschont –
Jetzt bekommt die Fliege
einen Namen!
Ina Müller-Velten
Wolken am Hügel –
der Hund des Schäfers treibt sie
höher und höher.
Reiner Bonack
Zwischen Farbkübeln
das Weiß
der Orchidee
Ruth Franke
irgendwo musik
dem alten quadrillehengst
zucken die ohren
Eckhard Erxleben
Winterabend
mit kleinen Stichen kehrt es zurück,
das Lächeln der Puppe
Ingrid Kunschke
Allein –
ihre Winterdecke
noch über meine
Jörg Rakowski
Herbstsonne –
an den Bäumen entlang
über die Schatten springen
Gerd Börner
novembersonne
gelb leuchten die blätter auf
eh sie verlöschen
René Possél
SMS –
mit dem Finger die Lüge
wegdrücken
Christa Beau
Trauerfall –
als erstes schneidet sie
die Zwiebeln
Luise Eilers
Pflaumenblüten –
einen Atemzug lang
steht der Verkehr still
Georg Flamm
Gewitterluft
der Hofhund knurrt
seinen Schatten an
Gabriele Hartmann
Shinkansen –
Nach dem Tunnel rast das Licht
durch die Waggons.
Klaus-Dieter Wirth
Die Fähre legt ab.
Möwenschwärme
zwischen dir und mir.
Hans Lesener
Abendstunde –
im Klang der Gläser
ein neuer Ton
Ilse Jacobson
Reiseschach –
ein Jeansknopf ersetzt
den fehlenden König
Gerhard Winter
Mond auf dem See –
ein Fisch
zupft Wellenringe
Norbert Stein
ihre sms fliederduft
Dietmar Tauchner
Der Entwurf auf dem Schreibtisch.
Mein Chef zerklatscht Fliegen.
Beate Conrad
aufschauen
von seinem Ringfinger –
ein Schwarm Zugvögel
Claudia Melchior
Frühlingsanfang –
der alte Dackel springt
über den Graben …
Silvia Kempen
Etwa 600 weitere gute Beispiele sowie eine Einführung in das Haiku stehen im aktuellen Haiku-Jahrbuch.
Jeden Monat erscheint eine Auswahl eingereichter Texte. Beispiele:
Ausgabe Januar 2024
Ausgabe Februar 2024
Zu besonderen Punkten bei der Dichtung von Haiku:
● Ästhetische Momente 1 (Klang & Melodie, Rhythmus, Gestaltung, verkürzte Verbindung, lyrische Wahrheit, Übertragung)
● Ästhetische Momente 2 (Erweiterte Wahrnehmung, konkret und abstrakt, Nachhall, Gefühl, reine Beobachtung, wabi-sabi, Wortspiel, Bezug)
● Ästhetische Momente 3 (Überraschung, Humor, Nähe und Ferne, besondere Perspektive, Identifikation, Existenzielles, Politik, Psychologie, Einfachheit)
Einige Autoren haben auf Haiku heute eigene pdf-Dateien mit Haiku und verwandten Texten und Bildern veröffentlicht: Autorenseiten.
Alle Autoren der oberen 44 Haiku haben ihr Einverständnis für eine unentgeltliche Weiterverbreitung ihres Textes in Zeitungen, Zeitschriften und Online-Publikationen zur Berichterstattung über das Haiku gegeben. Bedingung ist die Nennung des jeweiligen Autors zum Text. Eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Für die Aufnahme von Haiku in Anthologien oder für die Verwendung in anderen Zusammenhängen muss die Erlaubnis der Autoren eingeholt werden. Autoren können dazu über Haiku heute kontaktiert werden. Die Zusammenstellung war erstmals am Fr. 21. März 2008 im Rahmen einer Pressedarstellung im Netz. Letzte Veränderung: Di. 20. Juni 2023.
Ausführlich zum Haiku informiert das Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. PapierBuch und eBuch. Erhältlich in den Buchhandlungen und Versanden.
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