Hans-Peter Kraus (2017): Das Knospen-Buch

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Buchbesprechung von Volker Friebel

 

Hans-Peter Kraus (2017): Das Knospen-Buch. Haiku und andere Kurzgedichte. epubli, Berlin. PapierBuch Hardcover, 154 Seiten, 16,50 Euro.

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Ich klappe das Buch zu, schließe die Augen und erinnere mich.

HaikuHaiku – der Beginn des deutschsprachigen Haikus im Netz. Hans-Peter Kraus hatte 1999 erstmals „Gäste-Haiku“ auf seiner Netzseite veröffentlicht und daraus dann eine Auswahl erstellt. 60 Haiku gingen das Jahr über ein, 12 davon veröffentlichte er als Auswahl. Im Jahr 2000 wurden schon 215 Haiku eingesandt und veröffentlicht – und über die Auswahl-Haiku entschied nun eine Jury. 2001 stieß ich selbst dazu. Etwa 580 Haiku gingen ein, Halbjahres-Auswahlen wurden erstellt. 2002 gingen über 1.400 Haiku ein und es gab Vierteljahres-Auswahlen. Erst ab 2003 wurde nicht mehr jedes eingehende Haiku auf die Netzseite gesetzt, es waren einfach zu viele, sondern nur noch die vierteljährlich von der Jury ausgewählten.

Das war eine spannende Zeit. Die Auseinandersetzungen im Forum von HaikuHaiku, das kann man so sagen, haben dem deutschsprachigen Haiku eine neue Richtung gewiesen.

Gerd Börner, der in der Jury von HaikuHaiku tätig war, baute parallel eine erste Netzseite für die Deutsche Haiku-Gesellschaft auf. Die Gesellschaft wurde damals als starr und fast tot wahrgenommen, nicht mehr als Plattform, sondern als Hindernis für die Entwicklung des deutschsprachigen Haikus. 2003 wurde dann Martin Berner Vorsitzender und riss das Steuer herum.

Mitte 2003 dann ein Schock: Hans-Peter Kraus kündigte die Schließung von HaikuHaiku an, das Forum für das neue deutschsprachige Haiku war damit selbst tot. Im Kreis der urplötzlich heimatlos gewordenen Autoren wurde noch erwogen, eine Nachfolgepräsenz zu eröffnen. Aber „Wer soll so etwas aufmachen?“, schrieb ich damals skeptisch.

 

Nun, anderthalb Jahrzehnte später, hat Hans-Peter Kraus in diesem Band seine Artikel zum Haiku versammelt, so wie sie auf HaikuHaiku erschienen sind, und eine Auswahl seiner eigenen Haiku, ergänzt um einiges Neue. Das Buch hat einen festen Einband und ist betont einfach gehalten: weißer Hintergrund, schwarze Schrift, dazu nur ein knospender Zweig, gemalt wie ein Scherenschnitt.

Die Prosa zeichnet sich durch Direktheit aus. Meist salopp geschrieben, weiß sie den Leser zu packen und die Dinge auf den Punkt zu bringen. Tatsächlich hat sie das deutschsprachige Haiku verändert.

Die Haiku von Hans-Peter Kraus scheinen oft schlicht. Shiki mit seinem Konzept des „shasei“ (Die Wirklichkeit so beschreiben, wie sie ist) stand hier offensichtlich Pate – aber auch die einfache Sprache von Richard Brautigan, einem US-amerikanischen Kult-Autor der 1960er- und 1970er-Jahre. Die neueren Texte, so schreibt Kraus in seinem Nachwort, experimentieren etwas mit Inhalt und Form. Einige Beispiele:

 

das neue Jahr beginnt
mit Regen aus dem alten

 

scharrende Schaufeln
lautlos
fällt weiter der Schnee

 

sonniger Morgen
in den Kirchenfenstern
spiegelt sich nichts

 

Menschen an der Haltestelle
schweigen
warten

 

vor dem Sitz des Weltkonzerns
die Rasenfläche
durchsetzt mit Erdhügeln

 

vor der Praxis der Frauenärztin
ein Mann und
eine Frau
umarmen sich

 

ein Regentropfen
lässt die Fische im Teich
auseinanderspritzen

 

ein Schatten fällt
ein Blatt folgt
im Licht der Laterne

 

die Witwe
nun sind auch
ihre Haare schwarz

 

eine perfekte Schneeflocke
landet auf dem Dachfenster
und schmilzt

 

„Der Haiku-Dichter begnügt sich damit, das Ereignis dem Leser unmittelbar hinzustellen, Kommentierungen oder kunstvolle Wortschöpfungen sind nicht gefragt“, schreibt Hans-Peter Kraus (Seite 116).

Das Haiku entwickelt sich bei uns allerdings in eine andere Richtung, gleicht sich westlicher Lyrik an, ist fast schon westliche Kurzlyrik geworden, immerhin meist (noch?) mit einem haikuesken Schuss Gegenständlichkeit und Gegenwärtigkeit.

Ist das gut oder schlecht? Es ist so. Ein bisschen Korrektur in die von Kraus favorisierte Richtung wäre allerdings günstig, um das Haiku als eigenständige Literaturform zu halten. Dieses Buch mit seinen Haiku und den Artikeln könnte dazu etwas beitragen. Ich finde es unbedingt empfehlenswert.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Sommergras. Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, 30. Jahrgang, Ausgabe 118, Septemberheft 2017, Seite 57-59. Auf Haiku heute ab Mo. 29.07.2024