Fokussieren!

Arno Herrmann

 

Als ich im Sommer 2002 mit dem Haikudichten begonnen hatte, versuchte ich, mich möglichst genau an die Regeln zu halten, soweit sie mir damals zugänglich waren. Als eine der wichtigsten erschien mir die von der Lidschlagkürze des beschriebenen Augenblicks! Das hat mich aber nicht davon abgehalten, in diese kurzen Augenblicke so viel wie möglich einfließen zu lassen. Am liebsten hätte ich mit jedem Haiku alle Sinne angesprochen!

Heute gehe ich mit den ‚Haikugesetzen‘ etwas freizügiger um. Ich glaube nicht, dass die Länge eines beschriebenen Augenblicks entscheidend ist, sondern die Fokussierung in der Beobachtung. Ein gutes Beispiel dafür scheint mir: „Rolltreppe abwärts / Wie häufig doch wechselt / das Rot ihres Haars.“ von Udo Wenzel zu sein. Der Autor ist hier auf die Beobachtung des Farbspiels der roten Haare konzentriert. Dadurch erhält das Haiku seinen eindeutigen Ausdruck. Eine Rolltreppenfahrt dauert wohl so zehn bis zwanzig Sekunden. Innerhalb dieser Zeit fokussiert sich die beschriebene Wahrnehmung auf einen Punkt. Damit ist für mich die ‚Qualifikation‘ zum Haiku erfüllt! Auch „Mein ganzes Leben / die Stille / der Sonne“ von Virginia Brady konzentriert sich ganz auf ein Thema, genauso wie „von der Wiege / bis zur Bahre – / unverständliches Geplapper“ von Issa!

Wenn ein längerer Zeitraum beschrieben wird und sich währenddessen auch die Schwerpunkte der Beobachtung verlagern, liegt wohl eher eine kurze Geschichte vor, als ein Haiku. Aber auch ein sehr kurzer Zeitraum, in dessen Beschreibung zu viel hineingepackt worden ist, sprengt ‚meinen‘ Haikurahmen!

 

Ersteinstellung: Dezember 2003