Vom Anschauen der Welt zur Weltanschauung
Hubertus Thum
Was ist Haiku? Ist es überhaupt ein Gedicht, ein literarisches Genre? Sollten westliche „Haiku“-Autoren sich Haijin nennen? Schreiben wir im Westen Haiku? Oder verfassen wir Kurz- oder Kürzestgedichte westlicher Prägung, die allenfalls äußere und einige strukturelle Aspekte mit ihm teilen? Ist das Haiku etwa, wie das Nō-Theater, eine durch und durch japanische Angelegenheit? Fragen wie diese haben mich im Lauf eines langen, nicht ausschließlich, aber immer wieder dem Haiku gewidmeten Lebens bewegt.
Bereits in einem Interview, das Dietmar Tauchner 2007 mit mir führte, habe ich angedeutet, dass die für das Schreiben klassischer japanischer Haiku geltenden Kriterien nicht eins zu eins von uns übernommen und auf die eigene Arbeit übertragen werden dürfen. Die hierfür maßgeblichen Passagen des Interviews lauten wie folgt:
„D.T.: Hubertus, du lehnst die Ausdrücke ‚Haijin‘ und ‚Haiku-Autor‘ für dich ab. Warum? Und welche Bezeichnung wäre zutreffend für jemanden, der Haiku schreibt?
H.T.: Ich bin nur ein Kind, das nicht aufgehört hat zu zeichnen, und es ist reiner Zufall, dass ich mein Staunen über die Welt in Vokalen und Konsonanten skizziere. Der Haijin ist hingegen ein Mensch, dessen Leben zum Haiku geworden ist, so wie die Maler Ostasiens ‚zum Bambus‘ werden: ‚Bis frisches Grün endlos aus Lunge und Leber sprießt‘, sagt Su Tung p’o über seinen Freund, den Bambusmaler Yü k’o. Wer von uns Europäern kann dieses Einswerden mit dem Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ernsthaft von sich behaupten?
D.T.: Könntest du definieren, was das Haiku ist?
H.T.: Ein Fenster zum Meer. […]
D.T.: Welche Bedeutung hat das Haiku für dich?
H.T.: Das Haiku bedeutet nichts. Es ist.“
Skepsis, wenn nicht Gewissheit, lassen auch die Worte erkennen, die ein Autor wie R.H. Blyth zu fest etablierten Vorstellungen über die Natur des Haiku gefunden hat. Ich werde weiter unten noch auf ihn und seine bekannte vierbändige Anthologie zu sprechen kommen:
„A haiku is not a poem, it is not literature; it is a hand beckoning, a door halfopened, a mirror wiped clean. It is a way of returning to nature, to our moon nature, our cherry blossom nature, our falling leaf nature, in short, to our Buddha nature. It is the way in which the cold winter rain, the swallows of evening, even the very day in its hotness, and the length of the night become truly alive, share in our humanity, speak their own silent and expressive language.
How long the day: The boat is talking / With the shore. (Shiki)
It is a silent language because it only beckons to a certain region and does not explain why and where and how. In the above verse by Shiki, the simple meaning that the man in the boat is talking to the man in the shore, is not, for all its poetic brevity, the really significant point of the verse. This lies in quite another realm, where boats and shores speak freely to each other and continue their eternal conversations, indifferent to our prosaic and intellectual expostulation.“ (Ein Haiku ist kein Gedicht, es ist keine Literatur; es ist eine winkende Hand, eine halb geöffnete Tür, ein vom Staub befreiter Spiegel. Es ist eine Art und Weise, zur Natur zurückzukehren, zu unserer Mondnatur, unserer Kirschblütennatur, unserer Natur fallender Blätter, kurz gesagt, zu unserer Buddha-Natur. Es ist die Art und Weise, in der der kalte Winterregen, die Schwalben des Abends, selbst der Tag in seiner Hitze und die Länge der Nacht wirklich lebendig werden, an unserem Menschsein teilhaben, ihre eigene stille und ausdrucksstarke Sprache sprechen.
Wie lang der Tag: / Das Boot spricht / mit dem Ufer. (Shiki)
Es ist eine stumme Sprache, weil sie nur in eine bestimmte Region weist und nicht erklärt, warum und wo und wie. In dem obigen Vers von Shiki ist die einfache Bedeutung, dass der Mann im Boot mit dem Mann am Ufer spricht, trotz seiner poetischen Kürze nicht der wirklich wichtige Punkt des Verses. Dieser liegt in einem ganz anderen Bereich, wo Boot und Ufer frei miteinander reden und ihre ewigen Gespräche führen, gleichgültig gegenüber unseren prosaischen oder intellektuellen Einwänden.)
Blyth spricht hier aus, was ich seit langem vermute: Das klassische japanische Haiku verbalisiert unter dem Deckmantel poetischer Sprache und objektiver Darstellung auch bestimmte subjektive Erlebnisse und / oder spirituelle Erfahrungen, die es über die Bedeutung und den ästhetischen Wert von Lyrik hinausheben. Das klassische Haiku – denken wir etwa an Bashō und seine Schule – war etwas anderes als lediglich ein Gedicht; es gehört einem umfassenderen Bereich menschlicher Wahrnehmung an.
Auch von anderer, durchaus berufener Seite wurde des öfteren in Frage gestellt, ob es sich beim Haiku um ein Gedicht im westlichen Sinn handelt. Anlässlich einer Umfrage des amerikanischen E-Journals Simply Haiku im Jahr 2004 verneinten 3 von 11 der namhaften Autorinnen und Autoren die Definition als Gedicht und bezeichneten es als Genre (Brooks), Moment (Ross) und Report, also Aufzeichnung, Protokoll bzw. Bericht (Missias). Charles Trumbull hat sich besonders intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt und im Jahr 2007 sogar einen Workshop zum Thema veranstaltet. Er kam zu dem Schluss, das Haiku sei kein Gedicht im westlichen Sinn: „So, a haiku is not a poem – though it may be poetry.“ (Ein Haiku ist also kein Gedicht, obwohl es Poesie sein kann), ein dem Thema angemessenes spitzfindiges Paradoxon. An anderer Stelle führt er aus: „I think haiku, or haikai, is a genre. Moreover, I question whether haiku should be considered a poem in a Western sense at all. Standard definitions of (Western) poetry fit haiku badly, and everything about a haiku makes it different from a Western-style poem: length, format, content, structure, poetics, aesthetics, etc.“ (Ich denke, das Haiku oder Haikai ist ein Genre. Außerdem stelle ich die Frage, ob das Haiku überhaupt als Gedicht im westlichen Sinn betrachtet werden sollte. Standarddefinitionen von (westlicher) Dichtung passen schlecht zum Haiku, und alles an einem Haiku unterscheidet es von einem Gedicht westlichen Stils: Länge, Format, Inhalt, Struktur, Poetik, Ästhetik
usw.).
Ebenso verdient die Auffassung Beachtung, das Haiku sei eine ausschließlich Japan und den Japanern vorbehaltene Praxis des Schreibens. Das Haiku entstand und entwickelte sich während der letzten vierhundert Jahre in Japan; es ist immer noch ein wesentlicher und lebendiger Teil seines Kulturerbes. Charles Trumbull schreibt dazu in Simply Haiku:
„Because it is so intertwined in Japanese culture, the haiku cannot successfully be grafted onto other cultures. Most Japanese believe this deep down, much as Americans are suspicious of Japanese playing jazz. Even today, when referring to non-Japanese verse, the word ‚haiku‘ is likely to be written in katakana, the script used for foreign words, to distinguish the efforts of gaijin from homegrown Japanese haiku. We also see this perspective in the ’segregationist‘ policy of Japanese institutions such as Haiku International, which maintains separate but equal clubs for Japanese and foreigners. Mainstream American Poets of the reputation of Robert Bly, Sam Hamill, and Robert Hass believe that haiku is better left to the Japanese. At various times all of these poets have indicated their dismissal of English-language haiku. Remember too that at the beginning even pioneers of Western haiku such as R.R. Blyth and Harold G. Henderson seriously debated whether haiku could be written in languages other than Japanese.“ (Da das Haiku so sehr mit der japanischen Kultur verflochten ist, kann es nicht erfolgreich auf andere Kulturen übertragen werden. Die meisten Japaner sind hiervon zutiefst überzeugt, so wie die Amerikaner misstrauisch gegenüber Japanern sind, die Jazzmusik machen. Selbst heute noch wird das Wort ‚Haiku‘, wenn es sich auf nichtjapanische Verse bezieht, wahrscheinlich in Katakana, der für Fremdwörter verwendeten Schrift, geschrieben, um die Bestrebungen der Gaijin [Ausländer] vom einheimischen japanischen Haiku zu unterscheiden. Diese Perspektive zeigt sich auch in der ‚segregationistischen‘ Vorgehensweise japanischer Institutionen wie Haiku International, die getrennte, aber gleichberechtigte Clubs für Japaner und Ausländer unterhalten. Amerikanische Mainstream-Dichter wie Robert Bly, Sam Hamill und Robert Hass sind der Meinung, dass das Haiku besser den Japanern überlassen bleiben sollte. Alle diese Dichter haben zu verschiedenen Zeiten ihre Ablehnung des englischsprachigen Haiku zum Ausdruck gebracht. Bedenken Sie auch, dass selbst Pioniere des westlichen Haiku wie R.H. Blyth und Harold G. Henderson anfangs ernsthaft darüber debattierten, ob Haiku in anderen Sprachen als Japanisch geschrieben werden können).
Der Westen kennt das Haiku praktisch nur aus Übersetzungen, geschrieben in uns verständlichen Schriftzeichen und belastet von all dem, was den Philosophen José Ortega y Gasset einst zu der ironischen, aber berechtigten Bemerkung veranlasst hat, der Übersetzer sei ein Verräter.
Beginnen wir daher mit der Frage, wie das klassische Haiku sich dem japanischen Leser, der aufgrund der Bildhaftigkeit der sino-japanischen Schriftzeichen zugleich sein Betrachter ist, überhaupt darbietet. Gegenstand muss hierbei zunächst die übliche handschriftliche (pinselschriftliche) Gestaltung durch den Urheber oder die später angefertigte Version eines Kalligraphen sein.
Dabei ist zu beachten, dass auch der Haijin nahezu immer über die Fähigkeit verfügt, seinen Schriftzeugnissen einen mehr oder weniger ausgeprägten kalligraphischen Charakter zu verleihen.
Als Beispiel habe ich ein Haiku von Bashō ausgewählt, weil es für mich von besonderer persönlicher Bedeutung ist, worauf ich aber hier nicht eingehen kann. Die abgebildete großformatige Arbeit, ein wirkliches Schrift-Bild, wurde Ende der 1980er Jahre von einem japanischen Kalligraphen angefertigt. Sie ist seitdem der Blickfang meines Arbeitszimmers. Aus dem japanischen Schrifttum sind unzählige Kalligraphien und historische Rollbilder überliefert, die zur Hängung in der Bildnische (Tokonoma) bestimmt waren und Haiku auf diese oder ähnliche Weise verschriften.
Abb. 1: Haiku (Kalligraphie)
Das dargestellte Haiku setzt sich regelgerecht aus exakt 17 japanischen Lauteinheiten zusammen. Die Schrift, im Japanischen bestehend aus chinesischen Kanji und den Zeichen der Silbenschrift Hiragana, wird von rechts nach links in drei senkrechten Reihen, von oben nach unten wie folgt gelesen:
ara tōto
aoba wakaba no
hi no hikari
Am äußeren linken Rand findet sich zusätzlich der aus zwei Kanji bestehende Name des Verfassers, Bashō, sowie der Abdruck des Siegels des modernen Kalligraphen.
Nach Makoto Ueda resultiert im Englischen die nachfolgende wörtliche Übersetzung:
ah ǀ solemn
green-leaf ǀ young-leaf ǀ’s
sun ǀ‘s ǀ light
Mithin, entsprechend der Tatsache, dass das Japanische üblicherweise zwischen Singular und Plural nicht unterscheidet, übersetzt Ueda:
how solemn!
green leaves, young leaves, and through them
the rays of the sun
In seiner Version trägt er der Tatsache Rechnung, dass „hikari“ im Japanischen neben der Bedeutung „Licht“ auch die von „(Licht-)Strahl“ hat. Im Deutschen, etwas vereinfacht, aber durchaus der Prägnanz des Originals entsprechend, ergibt sich somit folgende Lesung:
Wie feierlich!
Grüne Blätter, junge Blätter
im Sonnenlicht
R.H. Blyth, seinerzeit Privatlehrer des damaligen japanischen Kronprinzen und späteren Kaisers Akihito und Verfasser der bekannten vierbändigen Anthologie klassischer Haiku in englischer Sprache, übersetzt folgendermaßen:
Ah, how glorious!
The young leaves, the green leaves
Glittering in sunshine!
Ah, wie herrlich!
Die jungen Blätter, die grünen Blätter
Glänzen im Sonnenlicht!
Werfen wir nun – nach Kenntnis des durch die Übersetzungen von Ueda und Blyth annähernd erschlossenen Wortlauts – gemeinsam einen hoffentlich ausdauernden Blick auf das Schriftbild. Von den dreizehn Schriftzeichen des Haiku sind 6 Kanji; 7 Zeichen sind der japanischen Silbenschrift Hiragana zuzurechnen. Man muss den Inhalt des damit Ausgedrückten nicht unbedingt verstehen, um von der graphischen Wirkung und Ästhetik des Geschriebenen beeindruckt zu sein. Auf den der japanischen Sprache und Schrift Unkundigen wirkt die Kalligraphie rein visuell wie ein mit Bedeutung aufgeladenes Beispiel asemischen Schreibens. Der aufgeschlossene westliche Betrachter ahnt geradezu, dass hier etwas Wesentliches mitgeteilt wird. Zwei Zeichen lassen dabei eine besondere Dynamik erkennen, die Nummern 9 und 13 (in Leserichtung von rechts oben nach unten gezählt):
Abb. 2: Das Kanji „ba“ = Blatt, Blätter, Laub
Abb. 3: Das Kanji „hikari“ = Licht, Lichtstrahl, Glanz
Das Kanji „ba“ (Blatt, Blätter, Laub) scheint die dynamische Bewegung, das vom Wind und dem Licht hervorgerufene Flirren des Laubes vorwegzunehmen, das der Kritiker Komiya (s. weiter unten) in seinem Kommentar zu Bashōs Haiku schildert, während das Zeichen „hikari“ (Licht, Lichtstrahl, Glanz), aus dem sich trotz aller Abstraktion noch das ursprüngliche Bild der Öllampe oder eines Leuchters ablesen lässt, durch die blitzförmige Gestaltung der Flamme die Bedeutungsebene „Licht“ um den Begriff des „Leuchtens“ oder gar der „Erleuchtung“ erweitert. Ich glaube, in der sorgfältigen Auswahl dieses Schriftzeichens hat Bashō den Sinn deutlich machen wollen, den das in Nikkō geschriebene Haiku für ihn besaß. Er hätte auch andere Zeichen benutzen können. Der Kalligraph hat jedenfalls mit seiner Kursivschrift intuitiv darauf reagiert, ist das Zeichen „hikari“ im Druck doch ungleich prosaischer gestaltet (in Abb. 4 ganz rechts). Es wird aber deutlich, dass sogar im steifen Buchdruck die
Abb. 4: Bashōs Haiku im einzeiligen Druck
Graphik der japanischen Schrift zur Visualisierung und Ästhetik des Haiku beiträgt. Wortlaut und Schriftzeichen korrespondieren in der Kalligraphie miteinander; sie führen gewissermaßen ein Zwiegespräch wie Boot und Ufer in Shikis Gedicht und sind eine aufeinander abgestimmte, kongeniale Verbindung eingegangen.
Der inspirierenden Bildhaftigkeit der Kanji hat unsere lateinische Schrift in ihrer Abstraktion nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Wird dem westlichen Leser ein Haiku lediglich in der – zudem von etlichen Unsicherheiten behafteten – Übersetzung und nicht in der originalen Verschriftung angeboten, wird er nur einen Teil des Ganzen wahrnehmen können. Ebenso verschlossen bleiben ihm die mit Lautung und Klang zusammenhängenden Phänomene, also das, was er, wäre er Japaner, als „Musik“ oder Melodie der Sprache wahrnehmen würde. Auf die Besonderheiten der Lautgestaltung, etwa Alliterationen und die Reihung bestimmter Anlaute, die einen melodischen Silbenfluss bewirken, hat dankenswerterweise der Japanologe Ekkehard May in seinen Übersetzungen der Bashō-Schule (Shōmon II) hingewiesen. Haiku ist seinem Wesen nach eine für westliche Leser bzw. Autoren nicht oder nur bedingt reproduzierbare Schöpfung und entscheidend mitgeprägt vom Charakter der japanischen Sprache und der Suggestionskraft ihrer sino-japanischen Schrift. Fehlen all diese Kenntnisse, erscheint ihnen das Haiku wie ein Baum, dessen Laub und Wurzelwerk entfernt wurde. Wenn selbst der Stamm und die nackten Äste und Zweige sie noch zu beeindrucken vermögen, ändert das nichts an der Tatsache, dass das, was den ganzen Baum ausmacht, nicht sicht- und erfahrbar ist.
Bashō schrieb dieses Haiku auf seiner berühmten Fußwanderung durch Japans Norden (1689 – 1691). Seine damals entstandenen Verse sind in den von künftigen Generationen als meisterhaft empfundenen Reisebericht Oku no hosomichi (dt.: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland) eingeflossen. Es entstand am 19. Mai 1689 beim Besuch des Tōshō-Schreines in Nikkō. Gemäß Ueda hat der Ortsname Nikkō im Japanischen ebenfalls die wörtliche Bedeutung „Sonnenlicht.“ Im uns vorliegenden Beispiel wird dafür der ebenso oder ähnlich konnotierte Begriff „hi no hikari“ (Sonnenlicht, Sonnenstrahl) benutzt.
Der Schrein selbst liegt in einem herrlichen Wald und besteht aus über einem Dutzend mit buddhistischen und schintoistischen Motiven reich verzierten Gebäuden; er ist dem Andenken des Tokugawa Ieyasu gewidmet, dem Begründer des Tokugawa-Shogunats. Sein Aufstieg zum Shogun leitete die Edo-Zeit ein, die Japan durch mehr als 250 Jahre Frieden, Wohlstand und zehntausende Haiku bescherte. Ieyasu ist dort als Tōshō Daigongen bestattet, die „Große göttliche Manifestation des den Osten erleuchtenden Lichts.“
Wesentlich ist, was einige japanische Kritiker, deren Kommentare Ueda in sein Buch aufgenommen hat, zu diesem Haiku Bashōs bemerkten:
„The mountain was covered with verdant leaves, on which the sunlight was falling. Perhaps it was a windy day: all the trees were shaking, and the entire mountain seemed to quiver in the abundant sunlight of an early summer day. At such a sight, the word ‚How solemn!‘ automatically escaped the poet’s lips. To put it in another way, the poet was inspired directly by nature, and not by admiration for the local deity.“ (Der Berg war mit grünem Laub bedeckt, worauf das Sonnenlicht fiel. Vielleicht war es ein windiger Tag. Alle Bäume bewegten sich, und der ganze Berg schien im strahlenden Licht des Frühsommertags zu beben. Bei diesem Anblick kamen dem Dichter unwillkürlich die Worte „Wie feierlich!“ über die Lippen. Mit anderen Worten: Der Dichter war direkt von der Natur inspiriert und nicht von der Bewunderung für die lokale Gottheit).
Offenbar ignoriert Komiya bewusst die Tatsache, dass der Schrein einer Licht-Gottheit geweiht ist. Darauf reagiert Mizuho, ein weiterer Kritiker, indem er erwidert: „I disagree with Komiya. I think the solemn feeling the poet had toward the deity on Mt. Nikkō led him to the image of the sunlight.“ (Ich stimme nicht mit Komiya überein. Ich denke, das feierliche Gefühl, das der Dichter gegenüber der Gottheit des Berges Nikkō hatte, führte ihn zum Bild des Sonnenlichts).
Und Handa ergänzt: „Everyone feels something akin to the joy of living when he sees the glossy sheen of rich, luxuriant foliage bathed in sunlight. It may be going too far to describe that feeling as a religious sentiment, but, if it is to be described in terms bordering on that state, one will have to say, ‚How solemn!‘ (Jeder empfindet so etwas wie Lebensfreude, wenn er den Glanz des üppigen Laubes im Sonnenlicht sieht. Es geht vielleicht zu weit, dieses Gefühl als religiös zu bezeichnen, aber wenn man es mit Begriffen beschreiben will, die an diesen Zustand grenzen, muss man sagen: ‚Wie feierlich!‘).
Ich glaube, der letzte Kommentator trifft den Nagel auf den Kopf und geht alles andere als zu weit, wenn er das Gefühl des Numinosen anspricht, das die Lichtfülle des von der Sonne beschienenen und durchstrahlten Laubes in einem japanischen Haijin des 17. Jahrhunderts, der zudem – mindestens zeitweise – der buddhistischen Zen-Sekte nahe stand und die Praxis der Meditation übte, hervorrufen musste. In allen Kulturen und Religionen der Welt verweist Licht, vornehmlich Sonnenlicht, auf eine spirituelle Dimension. Erinnert sei nur an den amerikanischen Lichtkünstler James Turrell, dessen gigantisches Projekt Roden Crater, ebenso wie seine Skyspaces und Installationen, seit langem in der Kunstwelt Furore machen. Noch heute, selbst unter der Bevölkerung der Megastadt Tōkyō, ist Naturverehrung, und hier besonders die Verehrung der aufgehenden Sonne und somit des Lichtes, in Japan weit mehr als ein Relikt aus vergangenen Tagen, auch wenn Umweltkatastrophen wie die von Fukushima eine andere Sprache sprechen mögen.
Dass Schönheit, Anmut und Zauber einer lichterfüllten Landschaft uns plötzlich aus der scheinbaren Banalität des Hier und Jetzt in eine Dimension der Freude und geradezu ekstatischen Verzückung versetzen können, hat wohl jeder fühlende und mitfühlende Mensch mehr als einmal erlebt. Bekannt ist auch die besondere Empfänglichkeit des fernöstlichen Menschen für die Erscheinungen der Natur, die unzählige Kunstwerke Ostasiens überzeugend zum Ausdruck bringen. Ich verweise nur auf die chinesische und, ursprünglich davon inspiriert, die japanische Landschaftsmalerei, deren philosophische bzw. religiöse Bedeutung unbestritten ist. Kaum zu negieren ist auch, dass in der Kunst und Philosophie China der gebende Teil und Japan der empfangende war. Über China ist schließlich auch der in Indien beheimatete Buddhismus nach Japan gelangt; Zen ist eine chinesische Errungenschaft, die als Ch‘an nach Japan kam und sich dort unter dem Begriff „Zen“ verbreitete.
„Gott oder die Natur (Deus sive natura)“, schreibt bei uns im Abendland Spinoza (1632-1677), ein Zeitgenosse Bashōs, und benennt damit nicht den Gegensatz, sondern das Synonym.
Zur Verdeutlichung der Tatsache, worum es sich bei Bashōs Haiku im Kern handelt, sei das weitere Beispiel einer sehr ähnlichen Erfahrung angefügt. Der indische Schriftsteller, Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore (1861-1941), 1913 mit dem Nobelpreis für Literatur bedacht, hat im Sommer 1930 auf Einladung des Religionswissenschaftlers Rudolf Otto bei einem Vortrag in der Philipps-Universität Marburg geschildert, wie das Erlebnis der aufgehenden Sonne in seinem Gedächtnis für immer die Spuren einer spirituellen Realität hinterließ:
„Ich stand eines Morgens und beobachtete in früher Dämmerung die aufsteigende Sonne, wie sie ihre Strahlen hinter den Bäumen emporsandte. Und plötzlich war mir, als ob ein dichter Nebelschleier für einen Augenblick vor meinem Blicke emporgehoben sei, und das morgendliche Licht offenbarte auf dem Angesicht der Welt einen seltsamen Widerglanz entzückter Freude. Der Vorhang des Alltäglichen und Gemeinen war hinweggezogen von allen Dingen und von allen Menschen, und ihre tiefste und letzte Bedeutung schien mir offen[bart] zu werden, die selber nichts anderes ist als die tiefere Bedeutung der Schönheit. Das Bedeutende in dieser Erfahrung war zugleich ihr allgemein menschlicher Sinn, nämlich die plötzliche Erweiterung des Bewusstseins in die überpersönliche Welt […] überhaupt.“
Der Vollständigkeit halber sei hier noch das Beispiel eines die spirituelle Bedeutung des Lichtes thematisierenden Epigramms des deutschen Barock-Dichters Johannes Scheffler (Angelus Silesius) zitiert, dessen Lebensdaten (1624-1677) sich ebenfalls mit denen Bashōs (1644-1694) teilweise überschneiden. Es scheint auf ähnlichen Erfahrungen wie denen des japanischen Haijin und des bengalischen Schriftstellers zu beruhen:
Ich selbst muss Sonne sein,
ich muss mit meinen Strahlen
Das farbenlose Meer
der ganzen Gottheit malen.
Gegen die Allgemeingültigkeit solcher Erlebnisse mag eingewendet werden, dass sie vielleicht verhältnismäßig selten und nur besonderen Menschen zugänglich sind. Seit den Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow um die Mitte des 20. Jahrhunderts wissen wir jedoch, dass Erfahrungen dieser und ähnlicher Art alles andere als selten sind und von Menschen aller sozialen Schichten gemacht werden. Er hat sie als „Peak Experiences“, also „Gipfelerlebnisse“ bezeichnet. Maslow interviewte unzählige Probanden anhand eines Fragebogens, den sie schriftlich beantworteten. Die Fragestellung war folgende:
„Ich möchte, dass Sie an die wunderbarste Erfahrung oder die wunderbarsten Erfahrungen Ihres Lebens denken; die glücklichsten Augenblicke, die ekstatischsten Augenblicke, Augenblicke des Entzückens, vielleicht des Verliebtseins, eines Musikerlebnisses oder des plötzlichen Getroffenseins durch ein Buch oder ein Gemälde, irgendeinen großen kreativen Augenblick. […] Und dann versuchen Sie mir zu berichten, was Sie in solchen akuten Augenblicken fühlen, wie verschieden Sie im Verhältnis zu anderen Zeiten empfinden, wie Sie in diesem Augenblick in mancher Hinsicht ein verschiedener Mensch sind. (In anderen Fällen betraf die Frage eher die Art und Weise, in der die Welt anders ausgesehen hat).“ Wenn Maslow in seinem Fragebogen das Erlebnis der Landschaft nicht ausdrücklich erwähnt hat, so ist sie, als gut bekannte Quelle der Inspiration, stillschweigend darin enthalten.
Ich meine, was Bashō in seinem Haiku aus Nikkō, Tagore in seiner Schilderung und Johannes Scheffler im Epigramm aussprechen, ist eng mit dem verwandt, was Maslow als Peak Experience definiert hat. Bashō fasst seinen Bericht in den Ausruf ekstatischer Verzückung und skizziert mit wenigen Pinselstrichen den transzendenten Glanz des Sonnenlichts auf dem Grün des jungen Laubes, während Tagore angesichts der aufgehenden Sonne beschreibt, was diese Erscheinung in seinem Inneren auslöst. Scheffler findet ein anderes, nicht weniger ausdrucksstarkes Bild für seine Erfahrung des Lichts. Alle reden, jeder auf seine Weise, von ein und demselben spirituellen Erlebnis und der Wahrnehmung eines Ganzen, das befreit ist aus den Verstrickungen des Alltags und seinen Hindernissen.
Kenneth Yasuda, einer der Ersten, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner viele Male wiederaufgelegten Dissertation das Haiku in den Vereinigten Staaten und im Ausland bekannt machte, sieht diese und ähnliche Erlebnisse im Hinblick auf das Haiku so:
„When one happens to see a beautiful sunrise or lovely flower, for instance, one is often so delighted that one merely stands still. This state of mind might be called ‚ah-ness‘, for the beholder can only give one breath-long exclamation of delight: ʾAh!ʾ The object has seized him and he is aware only of the shapes, the colors, the shadows. There is here no time or place explicitly for reflection or judgements, or for the observer’s feelings. […] To render such a moment is the intent of all haiku, and the discipline of the form.“ (Wenn man zum Beispiel einen schönen Sonnenuntergang oder eine herrliche Blume sieht, ist man oft so begeistert, dass man einfach innehält. Diesen Geisteszustand könnte man als ‚Aha-Erlebnis‘ [im Orig. ah-ness; Anm. d.Ü.] bezeichnen, denn der Betrachter kann nur einen Ausruf des Entzückens von der Länge eines Atemzuges ausstoßen: ‚Ah!‘ Das Objekt hat Besitz von ihm ergriffen und er ist sich nur der Formen, der Farben, der Schatten bewusst. Da ist ausdrücklich keine Zeit und kein Platz für Überlegungen, für Urteile oder die Gefühle des Betrachters. […] Einen solchen Augenblick wiederzugeben, ist die Absicht jedes Haiku und die Disziplin dieser Form.)
Es ist klar, dass bei weitem nicht jedes der überlieferten Haiku auf Erfahrungen von der Qualität oder Intensität der von Maslow, Bashō, Tagore und Scheffler geschilderten zurückgeht. Im Japan der Haiku-Klassik bedeutet Wahrnehmung dennoch kein flüchtiges Hinsehen, sondern Faszination und Versunkenheit des Betrachtenden in die Natur oder in den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit. Der Hintergrund verschwindet oder wird nur undeutlich wahrgenommen, „… als wäre die Welt vergessen und das Perzipierte für den Augenblick zum Ganzen des Seins geworden.“ So definiert Maslow die Tiefe dieser Versunkenheit, die als Kontemplation bzw. Meditation aufgefasst werden kann und wohl auch den meisten Teilnehmern der damals üblichen Dichtertreffen nicht unbekannt war.
Bashō hinterließ bezeichnenderweise keine Aufzeichnungen zu dem, was wir, wäre das Haiku nichts anderes als ein Gedicht, seine Poetik nennen könnten. Seine Schüler, allen voran Dohō Hattori (gest. 1730), hielten aber seine eher beiläufigen Bemerkungen darüber fest. In einer Sammlung solcher Notizen, dem sogenannten Roten Büchlein, berichtet Dohō Hattori:
„Es gibt einen Ausspruch des Meisters [Bashō]: Über die Kiefer lerne von der Kiefer, über den Bambus lerne vom Bambus. […] Lernen bedeutet hier, dass man ganz in eine Sache hineinschlüpft und mit ihr eins wird […] Wie sehr es einem Dichter beispielsweise auch gelingen mag, eine Sache in ihrer konkreten Gestalt genau zu beschreiben: wenn diese poetische Empfindung nicht der inneren Natur dieser Sache selbst entstammt, dann bilden die Sache und der Dichter eine Dualität und keine Einheit, und die poetische Empfindung erlangt keine Lauterkeit. Sie ist nichts anderes als ein Kunstgriff, der der Willkür entspringt.“
Dohō Hattori überliefert noch einen weiteren Ausspruch Bashōs: „Wenn dich etwas so hell wie ein Blitz durchzuckt, halte es mit Worten fest, solange der Lichtstrahl in deinem Geist noch nicht erloschen ist.“
Was bedeutet diese Art des „Lernens“ im Sinn des Fernen Ostens? Nach Bashōs Erläuterungen ist sie gleichzusetzen mit dem Einswerden von Subjekt und Objekt, Betrachter und Gegenstand, Mensch und Welt. Wenn man die Dinge lange anschaut, stehen sie plötzlich, einem Blitz oder Lichtstrahl vergleichbar, in ihrer einfachen Wahrheit da; zwischen dem Schauenden und dem Geschauten ist kein Unterschied mehr auszumachen. Es handelt sich um eine intuitive Erfahrung, die nicht auf intellektueller Erkenntnis beruht und mit dem Handwerkszeug exakter Wissenschaft nicht oder nur unvollständig erforscht werden kann. Anstrengungen im Kausalbereich können sie nicht bewirken.
Bashō definiert hier also die – zumindest angestrebte, wenn auch nur selten verwirklichte – Art der Wahrnehmung, die für die Haijin der klassischen Zeit bedeutsam war. Ihre Haiku sind daher in meiner Interpretation keine Gedichte im westlichen Sinn, sondern eher Erfahrungsberichte oder Aufzeichnungen. Die poetische Färbung ihrer Niederschrift steht dieser Auffassung nicht entgegen, da die Sprache, in der sich das Erlebnis ausdrückt, entweder ein Stammeln oder poetisch unterlegt ist. Entsprechende Beispiele lassen sich für unseren Kulturkreis z.B. in den biblischen Texten, den Psalmen oder dem Hohelied finden. Dass die Haijin ihre Skizzen aus Vokalen und Konsonanten aus traditioneller Gewohnheit – das Hokku oder Haiku entstand ursprünglich durch die Herauslösung des Oberstollens aus dem Kurzgedicht Waka – als Gedichte und sich selbst als Poeten empfanden, ändert nichts an dieser Einschätzung.
Die Frage, ob das in den Haiku Bashōs und seiner Schüler häufig festzustellende Phänomen der Synästhesie, also das Verschmelzen verschiedener Sinneseindrücke, z.B. das Sehen von Düften als Farben und das Hören von Farben, Gegenständen oder Bildern als Klänge, im Zusammenhang mit der Einswerdung von Subjekt und Objekt zu sehen ist, lässt sich nicht schlüssig beantworten. Bekannt durch die Übersetzung Ekkehard Mays ist beispielsweise ein berühmtes Haiku des Bashō-Schülers Yayū:
yami no ka wo
taoreba shiroshi
ume no hana
Der Duft der Dunkelheit,
als ich ihn pflückte, war er weiß.
Pflaumenblütenzweig
Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass der irische Schriftsteller James Joyce mit seinem in die Literatur eingeführten Begriff der „Epiphanie“ (Erscheinung), „der plötzlichen Offenbarung der Was-heit eines Dinges“ oder des Augenblicks, „in dem die Seele des gewöhnlichsten Gegenstandes zu erstrahlen scheint“, möglicherweise eine Erfahrung beschreibt, die Bashōs Diktum über Kiefer und Bambus zumindest ähnlich ist oder ihr sehr nahe kommt.
Der chinesische T’ang-Dichter Li Bai (auch Li Tai-bo, Li Po oder Li Tai-pe geschrieben, 701- 762 n.Chr.) hat die Suche nach der Einswerdung von Subjekt und Objekt in dem nachstehenden Vierzeiler, einem seiner in Ostasien bekanntesten Gedichte, thematisiert:
Allein am Djing-ting-Berg sitzend
Ein Vogelschwarm, der aufflog und entschwand.
Und eine Wolke, die gemächlich wich.
Wir haben keinen Überdruss empfunden,
einander anzuschaun, der Berg und ich.
Ähnliches scheint der Japaner Kyōtai (1732-1792) zu erfahren, wenn er notiert:
dokuza
tsuki to ware to
mono omou koro
kumo okoru
Sein mit der Überschrift „Alleine sitzend“ (gleichbedeutend mit „Allein meditierend“) versehenes Haiku kann in enger Anlehnung an die Übersetzung von Ekkehard May folgendermaßen wiedergegeben werden:
Als der Mond und ich
etwas überlegen wollen
kommen Wolken auf
Dass wir den Anspruch, den dieses schwer erreichbare Ziel an die kontemplativen Fähigkeiten des chinesischen Dichters wie die des japanischen Haijin stellt, nicht unterschätzen dürfen, erhellt aus den tradierten Worten Bashōs an seine Schüler über die Seltenheit des perfekten Haiku und somit die Vollständigkeit der ihm zugrunde liegenden Erfahrung. Er bemerkte hierzu: „He who creates three to five haiku a lifetime is a haiku poet. He who attains to ten is a master.” (Wer drei bis fünf Haiku im Leben erschaffen kann, ist ein Haiku-Dichter. Derjenige, der zehn erreicht, ist ein Meister.) Diese wenigen Haiku im Leben des Haijin sind es, will er damit sagen, in denen er das letzte Ziel, die Einswerdung des Schauenden mit der Welt und den Dingen, verwirklicht sieht.
Kenneth Yasuda, der die extrem anspruchsvolle Position Bashōs kommentiert, ergänzt, dass der Dichter Ezra Pound offenbar seine Ansicht teilte: „It is better to present one image in a lifetime than to present voluminous work.“ (Es ist besser, ein einziges [poetisches] Bild im Leben zu präsentieren als ein umfangreiches Werk.)
Li Bais Gedicht, so auch Kyōtais und jedes andere Haiku, schweigen sich darüber aus, ob der Schauende die Zweiheit von Subjekt und Objekt überwunden hat. Wir werden darüber bewusst im Unklaren gelassen – das berühmte „offene Ende“, das leeren Raum schafft für die vielfältigen Assoziationen des Lesers. Das Notwendige sagen und alles Übrige verschweigen sind die beiden Tugenden des klassischen Haiku. Das Haiku ist die Stimme des Schweigens. Es verrät nichts Explizites über das Gelingen der Vereinigung von Subjekt und Objekt, von Haijin und Welt. Wir müssen es selbst in seinen Worten und Schriftzeichen entdecken.
Epilog
Nehmen wir an, es ist endlich Frühling geworden. Ein stiller Tag, vielleicht einer der ersten warmen Tage des Jahres überhaupt. Irgendwo draußen, im Freien, sitzt ein Mann und nimmt mit all seinen Sinnen wahr, was um ihn her geschieht. Plötzlich springt ein Frosch in den Teich. Der Mann hört das Geräusch des aufspritzenden Wassers, folgt mit den Augen seiner jähen Bewegtheit und sieht aufmerksam den allmählich verebbenden konzentrischen Wellenkreisen zu, bis die vollkommen beruhigte Oberfläche des alten Teiches wieder den Himmel und die Wolken spiegelt:
„Ein Frosch springt hinein
Geräusch des Wassers“,
sagt er leise.
Als sich ihm kurz danach die noch fehlende erste Zeile dessen erschließt, was er gleich aufschreiben wird, leuchtet etwas wie ein Blitz in ihm auf. Das Geschehen dieses der Zeit enthobenen Augenblicks sprengt die Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation und ist nur ein Notbehelf, wenn sie trotzdem versucht wird. „TAT TVAM ASI“, heißt es dazu lakonisch im Sanskrit der indischen Chāndogya-Upanishad, „DAS BIST DU!“
Von diesem Augenblick ist alles umfasst und durchdrungen: Die Landschaft und ihre Stille, der alte Teich, der Frosch und sein Sprung, das Geräusch des Wassers und die schnell vergehenden Wellen auf seiner Oberfläche, das Profane und das Erhabene, die ewige Beständigkeit und die Flüchtigkeit vorübergehenden Wandels, Leben und Tod. Die dualistische Trennung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt ist darin aufgehoben.
Unser Mann ergänzt die erste Zeile und notiert:
Der alte Teich
ein Frosch springt hinein
Geräusch des Wassers
* * *
Aus den vorstehenden Fakten und Überlegungen lassen sich folgende Thesen herausarbeiten:
1. Das klassische japanische Haiku ist kein Gedicht im westlichen Sinn, sondern die Aufzeichnung einer (Natur-) Erfahrung, Phantasie oder eines spirituellen Erlebnisses, deren Essenz es in knappen sprachlichen Bildern skizziert. Das (nur selten erreichte) Ziel des Praktizierens ist die Aufhebung der Dualität von Subjekt und Objekt. Durch diese Einschätzung wird das Haiku nicht ab-, sondern aufgewertet.
2. Das Haiku ist unauflöslich mit der japanischen Kultur, ihrer Sprache, Schrift und Weltanschauung verbunden. Es lässt sich in anderen, besonders westlichen Kulturkreisen und Sprachen nur unvollständig erschließen und bleibt unter dem Namen Haiku am besten eine allein auf Japan begrenzte kulturelle Errungenschaft und Praxis.
3. Daraus folgt, dass Autoren anderer (westlicher) Kulturkreise keine Haiku, sondern Kurz- oder Kürzestgedichte schreiben, deren Ähnlichkeit mit dem japanischen Original sich zumeist nur auf formale und strukturelle Kriterien stützen kann. Einschränkende Bezeichnungen wie „nach dem Vorbild“, „in der Tradition von“ oder „in der Art“ verbalisieren und bestätigen a priori die Andersartigkeit des japanischen Haiku. Übersetzer und Autoren wie Manfred Hausmann, Jan Ulenbrook, Imma von Bodmershof und viele andere der westlichen Hemisphäre haben in ihren Übertragungen und Werken keine Haiku, sondern deutsche bzw. in ihren Landessprachen verfasste Kurz- bzw. Kürzestgedichte vorgelegt.