Von Freiburg nach Otsu

Ein Gespräch über das Haiku
zwischen Saskia Ishikawa-Franke und Volker Friebel

 

Volker Friebel: Was ist für Sie ein Haiku, wie würden Sie es definieren?

Saskia Ishikawa-Franke: Für mich ist ein Haiku ein Gedicht, das 17 Silben oder kürzer sein kann, möglichst ein Jahreszeitenwort hat, leicht verständlich ist, aber auch Tiefe und Offenheit für den Leser bietet.

Volker Friebel: Was reizt Sie am Haiku besonders?

Saskia Ishikawa-Franke: Die Kürze, für mich schon früh durch Lichtenbergs Aphorismen entdeckt, reizt zum Präsentsein, direkten Erleben, genauen Beobachten und Fühlen. Ausdruck von mehr Menschlichkeit in dieser hochtechnisierten Welt. Das Lesen von Haiku von anderen bringt mir mehr Erleben, Fühlen, Freude. Haiku schreiben und lesen bringt mir mehr Kreativität, und das besonders in der Pandemie, wo ich nicht viel außerhalb des Hauses komme. Beobachtung und Freude an kleinen Dingen, z. B. Blätterfall, Rauschen des Bambuswaldes, ein Käfer schwingt auf einem Blatt …

Volker Friebel: Wie sehen Sie die Bedeutung von Haiku, von Lyrik, Literatur, Kunst insgesamt in der Welt?

Saskia Ishikawa-Franke: Das aktive Erleben ist wichtig, alle Kunst erfordert Einsatz, Leben, Ausdruck, Kreativität. Solche Leute, die das ausüben oder zumindest passiv genießen, werden selten, auch nicht in der Pandemie, von Unlust oder Langeweile geplagt. Lange Zeit war ich Mitglied von einer Bewegung „Frieden durch Kultur“. Auch heute noch glaube ich, dass Kultur zum Frieden beitragen kann.

Volker Friebel: Das wäre sehr schön, habe ich doch den Eindruck, dass die Gräben zwischen den Kulturen wieder größer werden. Und dass sich zwar die Musiker und Dichter verstehen, wenn sie sich begegnen, dass die Medien und die Politik, vor allem auf Seiten des Westens, aber zunehmend auf „Kulturkampf“ setzen. Wie schätzen Sie denn die Weltoffenheit in Japan und in Deutschland im Vergleich sein? Gibt es da positive oder negative Entwicklungen?

Saskia Ishikawa-Franke: Lyrik, Literatur, Kunst und vieles andere gehören für mich im weitesten Sinn zur Kultur, z. B. Kochkultur, Gartenkultur, politische Kultur, alle Wissenschaften, gute menschliche Eigenschaften, wie teilen, wie zuhören können, gelten lassen anderer Meinungen, anderer Kunst, anderer Religionen, Sitten usw. Das Internet stärkt nicht diese Offenheit, sondern wird meist nur dazu benutzt, einen großen sogenannten ‚Freundeskreis‘, Anhänger, zu erwerben, selbst im Mittelpunkt zu stehen. Das Netz ermöglicht also einen Egotrip. Die Offenheit für die anderen geht verloren. Im Haiku soll gerade das ‚Ich‘ voll in der Natur, im Ganzen oder Kleinen, aufgehen.

Nicht durch Zufall gibt es seit der Pandemie, wo das Internet eine immer größere Rolle spielt, immer mehr Despoten als Präsidenten, demokratisch oder undemokratisch gewählt. Machtsucht, Ruhmsucht, Egotrips herrschen vor. So entsteht Kulturkampf …

Was einige der Unterschiede von Japan und Deutschland in Bezug auf Weltoffenheit ausmacht, möchte ich an Beispielen erläutern.
Nicht durch Zufall ist in Japan seit längerer Zeit die zweite Fremdsprache an den Universitäten oft abgeschafft, das selbstgewählte Studienfach wird verstärkt. Auch Englisch, die erste Fremdsprache, während 3 Jahren Mittelstufe und 3 Jahren Oberstufe gelehrt, findet bei den Schülern laut Umfrage zu 80 % Abneigung. ‚Englisch brauchen wir nicht‘. Die meisten Japaner gehen in Gruppenreisen ins Ausland. Ein japanischer Kollege, der Germanistik studiert hat, ging nie nach Deutschland, obwohl er ein Forschungsjahr bekommen hatte.

Die Japanische Regierung gibt ganz wenigen Menschen Asyl. Unter 20 pro Jahr. Auch wenn man wie ich Japanisch spricht, Umgangsjapanisch, kommt man doch nicht nah an Japaner heran. Oft auch nicht die Japaner unter sich, denn alle Situationen sind irgendwie geregelt. Man muss lernen, wo jeweils die Grenzen liegen. Das Fremde schauen sich die Japaner lieber aus der Ferne an, auch wenn sie ganz nahe am Fremden dran sind. Deshalb sind internationale Ehen mit Japanern die beste Möglichkeit zum Kulturaustausch und dazu, sich gegenseitig zu öffnen. Fast zwei Millionen Ausländer/innen gibt es in Japan, darunter sind natürlich auch viele Singles …

Ich habe das Glück, durch Musik und Kunst einige Freundschaften gemacht zu haben. Intensiver werden die, wo der/die andere mal im Ausland gelebt hat. Generell sind die Japaner/innen höflich, distanziert, tolerant und selten neugierig auf Fremdes, Ausländisches.

Das spürte ich immer wieder, als ich über zwanzig Jahre fest an einer japanischen Universität angestellt war, viele Sitzungen mitmachen musste und auch sonst zu Arbeiten eingeteilt wurde. In meiner Abteilung, Literaturwissenschaft, später umgewandelt in Interkulturelle Geisteswissenschaft, gab es sieben japanische Deutschlehrer, Professoren, und mich, als Frau und dazu noch Ausländerin. Ein wohlmeinender jüngerer Kollege sagte mir kurz nach meinem Eintritt, dass ich zwei Nachteile habe, die ich nicht verändern könne. ‚Sie sind hier Ausländerin und eben eine Frau.‘

Wie man mit einer Kollegin auf gleichem Niveau umgehen soll, wussten die Kollegen nicht, dafür gibt es wenig sprachliche Muster. Sie kennen nur ihre Frauen und Kinder als Gesprächspartner … Dazu kommt noch, dass fast alle Kollegen schwache Hör- und Sprechfähigkeiten hatten …

In Japan bleibt man mehr oder weniger für sich, vermeidet ernsthafte Diskussionen, selten gibt es Demos, und wenn, kleine, z.B. gegen die Todesstrafe in Japan.

In Deutschland sind doch einige Leute weltoffener, was Sprachen lernen, Neugierde auf fremde Kulturen etc. angeht. Aber leicht können Diskussionen auch hitzig, ja radikal werden.

In Deutschland ist der Anteil an Ausländern sehr viel höher, so gibt es doch viele Ausländer, die integriert sind, wenn auch noch viel zu wünschen übrig bleibt, besonders wenn es um verschiedene Religionen geht. In Japan kann jeder frei und ungehindert seine Religion ausüben, es gibt kaum Fanatismus, das ist sehr erfreulich.

Ich habe an der Uni versucht, Sprachunterricht mit gezielter Kulturvermittlung zu verbinden, z.B. „Wie wohnen japanische und deutsche Studenten/innen?“

In Japan wohnt man zu Hause oder im Studenten/innen-Heim oder mietet ein eigenes Apartment, nie mit einer Freundin zusammen, denn wenn es Probleme gibt, weiß man nicht, wie man sie friedlich lösen kann. Diskussion fehlt in der Erziehung, sogar im Literaturunterricht an den Schulen, auch nach wissenschaftlichen Vorträgen gibt es nur gelenkte kurze Fragen und Antworten, danach bricht man zur Party auf, mit viel Trinkerei.
Sehr erstaunt waren meine Studenten/innen, als sie hörten, dass viele Studierende in Deutschland zusammen eine Wohnung mieten. Da hatten wir viel Diskussionsstoff, viele Fragen kamen …

Gleich im ersten Studienjahr für Deutsch fing ich an, mit den Studenten/innen Haiku auf Deutsch zu schreiben. Sie hatten alles über Haiku, was sie in der Volksschule gelernt hatten, vergessen …

Dadurch, dass 1871, nachdem die Deutschen die Franzosen besiegt hatten, die Franzosen, die drei Jahre seit 1868, der Öffnung Japans, in Japan Kultur vermittelt hatten, durch die Deutschen ersetzt wurden, kam viel deutsche Kultur nach Japan, Musik, Architektur, Literatur, Malerei, Philosophie, Sport und Medizin. Da Deutschland und Japan im 2. Weltkrieg Verbündete waren, haben viele ältere Japaner eine Art emotionale Nähe zu den Deutschen. Und nach dem 2. Weltkrieg die Jüngeren zu den USA.

Hoffentlich werden die Herzen aller Völker weiter, offener für anders Denkende, Handelnde, andere Künste und Religionen. Auf diese Weise und durch teilen lernen entstehen Frieden und eine geschlossene Bereitschaft auf der Welt, die Welt für alle erhaltend zu leben.

Volker Friebel: Wie kann man sich die japanische Haiku-Szene im Vergleich zur europäischen vorstellen? Stimmt die Beobachtung eines deutlich stärkeren Bezugs der Dichter zu Leitern von Haiku-Kreisen und Haiku-Schulen in Japan gegenüber einem sehr individualistischen Europa, wie man das gelegentlich hört?

Saskia Ishikawa-Franke: Die Japanische Haiku-Szene ist sehr verschieden von der in Deutschland. Im ganzen Japan gibt es Haikulehrer, die Gruppen unterrichten, auch Uniprofessoren der Japanischen Literatur, wie unser im Jahr 2000 verstorbener Renkulehrer einer war. Oft veröffentlichen diese Gruppen eine eigene Zeitschrift. Die Lehrer haben manchmal an verschiedenen Orten Gruppen, die sie leiten. In der Pandemie geht alles natürlich online.

Basho besuchte mit seinem Schüler Sora auf seiner größten Nordlandreise ‚Oku no hosomichi‘ viele Schüler, konnte oft auch bei ihnen wohnen. Basho besuchte, wie seine Vorgänger, viele historische Orte und auch Plätze, wo früher Dichter gereist waren. Basho nahm selbstverständlich auch Gedichte seines Schülers Sora in die Veröffentlichung seines Werkes mit auf. Dies ist undenkbar in Europa bei einem so eminenten Dichter.

Das japanische Verhalten zeigt Bescheidenheit, bei den Deutschen, siehe Goethe, ist Reisen mit mehr Bildung, Sammeln, Ich-Verstärkung verbunden.

Haiku schreiben wirkt auf viele Japaner wohltuend, hilft, aus der Isolation in einer Gruppe aufgehoben zu sein.

Eine gute japanische Freundin, die Kunstlehrerin am Gymnasium war, sich früh pensionieren ließ, weil der Beruf sie krank machte, war einige Jahre unfähig, irgendetwas zu tun, depressiv, wurde langsam gesund, begann, wieder zu malen, auszustellen, einzeln und in Gruppen, begann Haiku in einer Gruppe zu schreiben, entwickelte Talent und Freude. All das half ihr, volle Lebensfreude zu bekommen.

Mit einem Studenten, der 1976 in Matsumoto an der Shinshu-Universität Germanistik absolviert hat, korrespondiere ich noch heute. Durch meine Anregung hat er (von mir als Therapie gemeint) bis zum heutigen Tag Haiku auf Deutsch geschrieben. Es gab in seinem Jahrgang nur fünf Studenten/innen, er fühlte sich als der schlechteste Student, obwohl ich ihn oft lobte.

In Japan lernt man früh, sich ständig zu vergleichen, auch durch die Notengebung bei Tests. Bei vier Parallelklassen beispielsweise müssen alle Lehrer die gleiche Arbeit zur selben Zeit mit dem selben Bewertungssystem schreiben lassen. Man kann sich die extreme Zusatzarbeit der Lehrer/innen (viele hören früher auf und/oder werden krank) und die Reaktion der Schüler/innen vorstellen, wenn man (bei 40 Schülern pro Klasse) unter seiner Arbeit stehen hat: Nr. 159! Der einzige Trost bleibt dann: Eine/r war noch schlechter … Mein Schüler bekam Arzthilfe, arbeitete nie, liest viel Deutsch und hofft, einmal zu heiraten, zitiert Goethe: ‚Ein Weib wird mich erlösen’. Immer wieder schreibt er mir, dass er stolz und froh ist, dass seine ehemalige Deutschlehrerin ihm immer noch schreibt … Wie gut, dass ich nur eine solche intensive Korrespondenz habe. Haiku als Lebenshilfe und Steigerung des Selbstwertgefühls.
Haiku hat sich von Japan aus in andere Länder, Frankreich, USA, England usw. verbreitet. Die Rezeption fand überwiegend am Schreibtisch statt, Theorie wie Praxis. So ist Haiku individuell geblieben, verbreitet durch immer mehr Zeitschriften, Miniverlage, Haiku-Veröffentlichungen.

Erfreulich, dass interkulturell gearbeitet und veröffentlicht wird, wie das ‚Sommergras‘ beweist. Auch das Internet trägt zur Verbreitung bei.

Erfreulich ist, dass in Deutschland das Haiku an vielen Schulen gelehrt wird, auch Wettbewerbe existieren.

Volker Friebel: Neben Ihrem Einsatz für das Haiku sind Sie der Meditation zugeneigt. Gibt es Verbindungen? Persönlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass jede Beschäftigung des Geistes während der Meditation nur stört. Wie sehen Sie das?

Saskia Ishikawa-Franke: Ja, bei der Meditation soll man gerade sitzen, die Augen schließen, an nichts denken. Da stört jedes ‚Sprechen‘, jeder Gedanke. Bei der Meditation, die ich mache, die Vipassana-Meditation, die Meditation, die Buddha wiederentdeckte und die ihn schließlich zur Erleuchtung führte, soll man nur den Atem und später die Körperempfindungen fühlen, dabei in allen Situationen versuchen, Gleichmut zu wahren, nicht zu reagieren. Durch die Meditation kommen mir oft ganz direkt Haiku zu. Natürlich bin ich dann an der Oberfläche, arbeite nicht mit der Atemempfindung oder den Körpergefühlen.

Aber auch sonstige Störungen treten auf, Denken an die Vergangenheit oder die Zukunft, an Angenehmes oder Unangenehmes. Dann versuche ich, wieder nach innen zu gehen, mich nur auf den Atem und/oder auf die Körperempfindungen zu konzentrieren.

Beim Meditieren merke ich immer wieder, wie viel da noch geschrieben werden will. In meiner Kindheit habe ich sehr viel verarbeitet, indem ich im Kopf ganze Geschichten geschrieben habe. Immer überlegte ich, wohin ich das Versteckte, Geschriebene unauffindbar für andere hinlegen soll …

Ich fand keinen sicheren Ort, so blieb alles nur formuliert im Kopf. Oft denke ich, ich hätte ‚Creative writing‘ studieren sollen, was es damals gar nicht gab, heute noch nicht in Japan, aber in den USA.

Bevor ich die Vipassana-Meditation 1987 kennenlernte, nahm ich etwa 1984 in einem japanischen Tempel in Kyoto, dem Ryoanji, einem Tempel mit einem wunderbaren Steingarten und Kieswellen um ihn, an einer Zen-Meditation teil. Wir durften übernachten. Der Vollmond leuchtete. Bis früh am Morgen saß ich am Rand des Gartens, erfreute mich am wechselnden Licht, kam immer wieder vom Meditieren ab. Stattdessen kamen mir viele Gedanken für einen Aufsatz, den ich bald abliefern sollte. Ich hatte kein Schreibzeug, immer wieder durchkreuzten Gedanken meine Meditationsversuche. Gleichzeitig genoss ich die wundervolle Stimmung der Nacht.

Als ich nach einigen Tagen mit dem Aufsatzschreiben anfing, kamen, oh Wunder, die meisten Ideen wieder zurück, so dass ich schnell meine Arbeit beenden konnte. Man muss nur in sich horchen, dachte ich, da ist so viel Vorrat.

Interessanterweise habe ich ein Notizheft, worin ich seit einigen Monaten anfing, meine Biografie zu schreiben, an einem reißenden Bergbach verloren. Ich saß dort mit meinem Mann auf zwei Felsen in interessanten Gesprächen, vergaß, dass ich schreiben wollte und ließ das Manuskript liegen … Na ja, ich soll wohl jetzt etwas anderes machen, dachte ich. Schon einige Tage später kamen zu meiner Verblüffung gleich zwei Anfragen von Volker Friebel … Haiku betreffend …

Meine Meditation half mir im Leben, beim Unterrichten und beim Kreativsein, vor allem in Krisensituationen.

Leider habe ich für Meditation und künstlerische Tätigkeiten (Musik machen, malen, schreiben, Gartengestaltung) zu wenig Zeit, Haus, Garten, Mails etc. erfordern Zeit. Meinem Mann, Germanist, der täglich kocht, bin ich für diese Entlastung sehr dankbar. Da er auch Haiku schreibt, auch durch meine Anregung, kann ich viel von ihm über japanische traditionelle Haiku lernen. Hilferufe aus Indien (wegen Corona) und aus Afghanistan (wegen der Taliban ‚Regierung‘) erreichen mich.

Volker Friebel: Wann und wie sind Sie eigentlich zum Haiku gekommen, was sind dabei wichtige Stationen?

Saskia Ishikawa-Franke: Haiku schreibe ich seit 1978, nachdem ich an meiner Universität gleichzeitig als Gaststudentin ein Jahr „Japanisch für Ausländer“ mitmachen durfte. Im Literaturunterricht auf Englisch wurde ich mit Haiku bekannt, Basho hat mich am meisten begeistert. Seitdem schreibe ich auch Haibun, durch Basho inspiriert.

Volker Friebel: Wie sehen Sie für sich die Rolle der japanischen Klassiker?

Saskia Ishikawa-Franke: Die Klassiker gaben mir einen guten Einstieg, ich glaube, freier zu arbeiten ist auch eine Möglichkeit.

Volker Friebel: Gibt es Haiku-Dichter oder überhaupt Dichter, die Sie besonders interessiert und vielleicht auch beeinflusst haben?

Saskia Ishikawa-Franke: Basho, Buson, Issa, Kyoshi … Goethe, Lichtenberg, viele deutsche und französische Lyriker … auch die Haibun- und Haiga-Autoren …

Volker Friebel: Sie haben 2012 einen Haiku-Wettbewerb für japanische Oberschüler und Studenten ins Leben gerufen: Haiku auf Deutsch, der seitdem jährlich durchgeführt wird, ausgerichtet von der Frauenuniversität Kyoto. Wie würden Sie die Unterschiede der eingehenden Haiku zu den Haiku charakterisieren, die in Europa erscheinen, etwa im Sommergras (Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft), auf Haiku heute (und im Haiku-Jahrbuch), auf Chrysanthemum?

Saskia Ishikawa-Franke: Da die Schüler und Studenten in Japan alles über Haiku vergessen haben, werden traditionelle Haiku als Beispiele vorgeführt, ins Deutsche übersetzte japanische Haiku z. B. von Basho, Issa, Buson … oder auf Deutsch geschriebene Haiku … Ein Jahreszeitwort darf nicht fehlen, 5-7-5 Silben sind vorgeschrieben, damit die Dichter/innen ein festes Gerüst haben. Eine Jahreszeit ist vorgegeben, in Japan kommt da noch eine fünfte Jahreszeit dazu, Neujahr.

Interessant ist, dass die Japaner/innen vielleicht zum ersten Mal eine Möglichkeit sehen, ihr Gefühl auszudrücken. Sie freuen sich, nehmen oft über Jahre an den Wettbewerben teil.

Die Zahl der Teilnehmenden, Schüler und Studenten, wächst, Dichter/innen von Okinawa bis Hokkaido gibt es. Aus vielen Fachgebieten, medizinischen, künstlerischen, naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen melden sich die Dichter/innen.

Natürlich entstehen so traditionelle Haiku, so wie auch in vielen Haiku-Gruppen in Japan, da oft ältere Leute sich für Haiku interessieren. Moderne Haiku und vom Haiku schon sehr weit entfernte Verse entstehen ebenfalls in Japan, aber auch mein Mann interessiert sich nicht dafür und auch die anderen Mitglieder unserer Renkugruppe nicht. In den japanischen Zeitungen werden fast nur traditionelle Haiku veröffentlicht. Der Gegensatz z. B. zum ‚Sommergras‘ ist groß.

Volker Friebel: Wie sehen Sie die Entwicklung des deutschsprachigen Haiku? Was gefällt Ihnen dabei, was missfällt Ihnen?

Saskia Ishikawa-Franke: Mir gefällt die Vielfalt, mir missfällt die manchmal Unverständlichkeit.

Volker Friebel: Einfache Sprache galt auch im Deutschen lange Zeit als wichtiges Charakteristikum für das Haiku. Derzeit ist davon nur mehr wenig zu merken, die Sprache des Haiku gleicht sich bei vielen Autoren der Sprache moderner deutscher Lyrik an. Sehen Sie das eher skeptisch oder als eine Bereicherung der Möglichkeiten des Haiku? Und gibt es in Japan eine ähnliche Entwicklung?

Saskia Ishikawa-Franke: Japan ist ein die Tradition liebendes Land, mit allen Vor- und Nachteilen. Überwiegend entstehen eher traditionelle Haiku, mit neuen Ideen, Erfahrungen, besonders jetzt in der Pandemie. Auch Verständlichkeit wird in Japan hoch geschätzt, obwohl oft viel Wissen nötig ist, um zum vollen Genuss zu kommen. Auch deshalb lernt man Haiku gern in Gruppen mit einem Lehrer. Interesse an Haiku-ähnlichen oder nicht mehr ähnlichen Haiku gibt es wohl meist nur bei Jüngeren, wenn überhaupt …

Die Tendenz in Deutschland, zumindest für mich oft unverständlich zu schreiben, nimmt zu, manches kommt auch von meinem Nichtwissen, da ich nicht in Deutschland lebe.

Oft fehlen mir Atmosphäre, Intensität, genaue Beobachtung und Einfühlung, das ‚Ich‘ ist mir manchmal zu groß.

Volker Friebel: Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung des deutschsprachigen Haiku?

Saskia Ishikawa-Franke: Neue Themen, Fantasie, Kürze, Verständlichkeit, Tiefe, Offenheit.

Weniger Ich, mehr Verständlichkeit, Naturnähe, Menschennähe, Intensität, Leichtigkeit …

Vielleicht würden neue Überschriften helfen: Haiku-artige Texte, an DADA angelehnt …

Zur Person

Saskia Ishikawa-Franke wurde September 1941 in Freiburg im Breisgau geboren.
Vater: Studienrat und Universitäts-Professor, guter Pianist und Maler als Hobbies.
Mutter: Gisela von Krogh, MTA und Krankengymnastin, gut im Zeichnen und Geigen. Sie starb leider an Krebs als ich 2,5 Jahre als war, mein älterer Bruder Florian war 6, wurde Künstler, Maler. Vier Halbgeschwister aus einer zweiter Ehe. Die zweite Mutter spielte sehr gut Geige wie auch ihre zweite Tochter.

Frühe Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens und dem Tod.

Einsteins Lehre im Gymnasium, dass sich alles atomar bewegt, bewegte mich sehr. Täglich auf dem Weg zum Gymnasium sah ich an der Universität in Freiburg den Spruch von Aristoteles: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“

Ich suchte nach dem Abitur viele Meditationsformen, fand 1987 in Japan endlich die Vipassana-Meditation. Keine Religionsgebundenheit ist da, Buddha zeigte nur den Weg, den man selbst gehen muss, um sich zu befreien von aller Gier, Abneigung und Desillusion.

1960 Abitur, 1966 Ing.grad. (damals, heute Dipl. Ing.).

Ein Jahr Journalistin beim Verein Deutscher Ingenieure in Düsseldorf, zwei Jahre Physik- und Mathematiklehrerin für die drei letzten Klassen an einem Wirtschaftsgymnasium in Waldshut am Rhein.

1973 Dr. Phil. in Kunstgeschichte in Saarbrücken, mit den Nebenfächern Archäologie und Philosophie.

Thyssen-Stipendium für die Doktorarbeit und das Kulturinstituts-Stipendium; für zwei Monate in Siena, Italien. 1978 als Buch erschienen.

1972 Heirat mit Mitsunobu Ishikawa, DAAD-Stipendiat, Germanist.

1974-76 Lehre an der Universität in Matsumoto, Naganoken.

1976-1997 Lehre an der Konan-Universität in Kobe: Sprache, Literatur, Creative Writing, Kreatives Schreiben, was es in Japan noch nicht gibt.

Gute Abschlussarbeiten auf Deutsch, selbst erfundene Novellen, Texte mit Illustration, teilweise á la DADA …

Seit 1997 nur noch Teilzeitarbeit an verschiedenen Unis, nur im Sommersemester, damit ich mehr Zeit zum Helfen in Kursen und zum eigenen Meditieren habe. Bis 2016 tätig.

Seit 2000 bin ich Meditationslehrerin und ging fast jedes Jahr nach Indien, um lange Kurse, 45 und 60 Tage, im ältesten Meditationszentrum von Vipassana, Dhammagiri, etwa 100 km von Mumbai entfernt, zu sitzen.

2012 Initiierung eines landesweiten und jährlichen Wettbewerbs „Haiku auf Deutsch“ für Gymnasiasten und Studenten in Japan. Die technische Organisation übernahm meine Freundin Gisela Doi, die damals an der Frauenuniversität Kyoto Professorin war.

Etwa 1980 an das damals noch existierende Freiburger Völkerkundemuseum eine Schenkung mit Katalog von japanischen Volkskundegegenständen gegeben.

Es folgten japanische, traditionelle Spielzeugsammlungen mit Katalog nach Kecskemet, Ungarn, und Cluj, Rumänien.

Etwa 1994 ging eine Volkskundesammlung mit Katalog nach Prag.

In den siebziger und achtziger Jahren wurden viele Dichter/innen zu den japanischen Germanistentagungen eingeladen. Sogar aus der DDR: Volker Braun, Prof. Taut, als Sohn von Bruno Taut, für den eine große Ausstellung gemacht wurde, Martin Walser, Luise Rinser, im Zuge der Gleichberechtigungsfragen, Achternbusch … Ich konnte engen Kontakt bekommen, auch in Deutschland, im Sommer bei Lesungen … mit Erich Fried, Hilde Domin …

1984 entdeckte ich in einer Buchhandlung in Deutschland das erste Buch von Herta Müller, war fasziniert, bekam vom Rotbuch-Verlag in Berlin ihre Adresse, begann einen Briefwechsel und besuchte sie 1985 und 1986. 1987 konnte sie ausreisen. Ich bin die erste in Japan, die Herta Müller in einem privaten Literaturkreis vorgestellt und in der Germanistenzeitschrift über sie geschrieben hat. Wie glücklich war ich, als ich von einem eintägigen Meditationskurs im Shinkansen zurückfuhr und im Zug auf dem elektronischen News-Band nach mehreren Runden entziffern konnte, dass Herta Müller den Literatur-Nobelpreis 2009 bekommen hatte.

Während der beiden Studien war ich Volontärin beim SFB Berlin und beim Fernsehen in Saarbrücken, machte freie Mitarbeit bei Zeitungen …

Bei der Volontärarbeit im größten Slum in Japan in Osaka, unterstützte ich eine Deutsche, die dort ein Café mit Bibliothek aufbaute. Im Winter gingen wir mit heißen Suppen und Tee durch die Straßen, wo schon Obdachlose an Feuern aus Müllresten warteten. In den Sommerferien gab ich Malkurse dort, ebenso als geflüchtete Vietnamesen in Japan angekommen waren.

Um das Naziregime zu verstehen, hatte ich Kontakt durch die „Zeit“ mit einem ‚letzten Juden‘ in Winsen aufgebaut und ihn besucht. Er freute sich und sagte, dass er auch mit meinen Studenten/innen Kontakt haben wollte. Alle schrieben über sich selbst mit Foto. Dann kam aber ein Brief  in dem er sagte, dass er selbst nicht schreiben könne, da er bis 17 im Ghetto war. Er war der einzige, der von seiner Familie überlebt hatte. Die Studenten waren schockiert. Ich erklärte …

Dann sprachen alle auf eine Kassette, und auch seine Antwort kam auf einer Kassette. Für die Studenten/innen war das eine gute Übung. Zwei Studentinnen besuchten ihn im nächsten Jahr bei sich zu Hause, waren schockiert, dass alle auf den Fotos, die an der Wand hingen, seine weite Familie, im Ghetto vergast worden waren.

Auch mit einem Dichter, Adolf Muschg, der ja selbst Lektor an einer Universität in Japan gewesen war, haben die Studenten/innen direkten Kontakt bekommen können. Sie wurden dadurch angespornt, mehr Deutsch zu lernen.

Nach dem Germanistikstudium haben drei Studentinnen Deutsche geheiratet. Also etwas mehr Völkerverständigung ist vielleicht dadurch möglich geworden.

Veröffentlichungen: Goethe und Basho (in einem Sammelband auf Japanisch), mehrere Aufsätze über die Romantik, Romantik und Goethe, über Paula Modersohn-Becker, Olga Bontjes van Beck (Mutter von Cato van Beck, die 1943 in Berlin hingerichtet wurde).

6 Haiku von Saskia Ishikawa-Franke, von der Autorin ausgewählt

Sonnenblumen,
sie träumen am Bahnhof
von Christian Modersohn.

1996. Maler, Sohn von Otto Modersohn, guter Pianist, guter Freund … zum 80 Geburtstag ein Haibun in einem Sammelband.

Kurz wie die Lieder
der Zikaden ist unser
Leben. Carpe diem.

1982 in Pomeyrol, Frankreich

Mild wie der Herbstmond
schaut ein junger Mönch aus seinen
Augensicheln.

1984, Otsu

Zwei Katzen fahren
im Korb dösend mit dem Zug
durch Weizenfelder.

1990

Der Vollmond strahlt grell
hinter dem Palmyra-Tor.
Nun zum letzten Mal.

2015

Take-out Laden,
im Hinterhof erster
Duft von Narzissen.

2021

6 Haiku von Saskia Ishikawa-Franke, von Volker Friebel ausgewählt

hochhausspiegelung
im reisfeld. am sonntag früh
pflanzt ein bauer.

Zwei Affen in den
Bergen, verschneit, am Rand des
Wegs Futter betteln.

Wieder sammle ich
Gingkoblätter, trage sie
einsam ins Nichts.

Mondfest im Tempel.
Die Gottesanbeterin
auf dem Reisweinfass.

Eine alte Frau,
versteckt hinter Melonen,
Markt in Mumbai.

Glücklos der Angler.
Die Märzsonne spielt auf den
Biwaseewellen.

 

Literatur

Ishikawa-Franke, Saskia (1981): Am Wegrand. Gedichte. Bundosha (Japan).

Ishikawa-Franke, Saskia (1992): Deutschlandreise. 15. Juli bis 23. August. Haiku – Senryu. Graphikum, Göttingen.

Wächtler, Christa & Saskia Ishikawa-Franke (2000): Band 1 (1975-1987): Im Wandel der Jahreszeiten. Und Band 2 (1987-2000): Jahreszeiten. Bilder und Verse. Haiku, Senryu, Tanka, Renga, Senku. In der Tradition japanischer Gedichtformen. Struve’s Verlag, Eutin.

Ishikawa-Franke, Saskia (2015): Mit Haiku durchs Jahr. (Herausgeber: Ingo Cesaro). Neue Cranach Presse, Kronach.

 

Der Haiku-Wettbewerb für japanische Oberschüler und Studenten: Haiku auf Deutsch, ausgerichtet von der Frauenuniversität Kyoto: https://deutschehaikukyoto.com/

Zur Vipassana-Meditation: http://www.dhamma.org

Haiku von Saskia Ishikawa-Franke sind in ihren Büchern, in mehreren Anthologien sowie in den Haiku-Jahrbüchern 2010-2014 sowie 2019-2020 zu lesen: https://www.haiku-heute.de/jahrbuch/

 

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