Gehorcht der Muse

Jim Kacian im Gespräch mit Dietmar Tauchner

 

Dietmar Tauchner: Jim, könntest du bitte definieren, was ein Haiku ist?

Jim Kacian: Ich wünschte, ich könnte, aber ich glaube, dass Haiku ein sich ständig entwickelndes Genre ist, das zwar beschrieben werden kann, aber nicht definiert, zumindest nicht zur Gänze. Ich denke, es ist in 99% aller Fälle möglich darauf hinzuweisen, was ein Gedicht zu einem Haiku macht; aber da ist immer etwas außerhalb der Norm, was als Haiku funktioniert und das Genre erweitert. Das scheint mir der beste Beleg dafür, dass Haiku eine vitale und lebensfähige Dichtungsform ist und nichts so Unveränderliches, das in jeder Nuance definiert werden könnte. Einige der Charakteristika, die tatsächlich in allen Fällen vorkommen, beinhalten Kürze (ich kann mich an kein englischsprachiges Haiku mit mehr als 20 Silben erinnern, von dem der Autor behauptete, es sei ein Haiku), einen Sinn für die Umstände (gemeint ist, eine Wahrnehmung für die „reale“ Welt, sei sie nun natürlich, psychologisch oder eine Kombination von beidem, entgegengesetzt der ganz vorgestellten oder intentionalen „unwirklichen“), Aufmerksamkeit für die Veränderung des Verständnisses durch die im Gedicht ausgedrückte Erfahrung (folglich, der „Haiku Moment“ oder „Satori“, aber auch weniger großartig, „Einsicht“ oder nur Wahrnehmung).

Dietmar Tauchner: Was macht das Haiku einzigartig?

Jim Kacian: Einzigartig? Die Kombination der genannten Dinge. Großartig? Die Exaktheit, mit der so eine Erfahrung ausgedrückt wird, ohne Verschwendung, gekoppelt mit der Bedeutsamkeit der darin enthaltenen Einsicht. Es ist schwierig, von einer einfachen Aufzeichnung der Dinge, von einer Naturszene, besonders bewegt zu werden, einerlei wie genau das Geschriebene ist; gleichzeitig kann es etwas Großartiges sein, wenn dieselbe Szene sich eröffnet und etwas Wahres oder Schönes oder vielleicht nicht Augenfälliges nahelegt.

Dietmar Tauchner: Welche Techniken sind notwendig für das Haiku? Braucht das Haiku eine spezielle Form?

Jim Kacian:  Ich glaube, schon viel davon beantwortet zu haben, aber es ist wert, einige Punkte hervorzuheben: Ein Poet ist niemals einer Form verpflichtet, aber seinem (oder ihrem) poetischen Material und dessen exaktem Ausdruck. Deshalb kümmert es mich wenig, ob Haiku eine spezielle Form brauchen; um so viel mehr, ob ein Poet im Haiku den genauesten und besten Weg findet, das auszudrücken, was ausgedrückt werden muss.

Zu den Techniken: Es gibt Dutzende, obwohl die große Mehrheit jener, die als „klassische“ kodifiziert worden sind, in ein oder zwei Gruppen fallen: Nebeneinanderstellung oder innerer Vergleich; Allusion; Synästhesie. Eine Handvoll der gewöhnlich verwendeten Techniken werden als unpassend für das Haiku betrachtet, obwohl Ausnahmen zu diesen Regeln leicht entdeckt werden können: Vergleiche, Metaphern und Personifikation usw. Um die Frage zu beantworten: Keine Technik ist für Haiku „erforderlich“, aber der Poet wird jene Technik wählen, die am wirksamsten ist, um den Effekt zu erreichen, hinter dem er her ist.

Dietmar Tauchner: Was sind die Themen und Aufträge des Haiku? Gibt es Themen, die für das Haiku ungeeignet sind?

Jim Kacian: Meiner Meinung nach hat das Haiku keine bestimmten Aufträge. Das heißt nicht, dass solche nicht diskutiert werden könnten unter einem Haiku-Filter, aber das ist etwas anderes. Ein Beispiel: Man kann über die Wirksamkeit des „World Haiku“ unterschiedlicher Meinung sein, ob das Haiku ein lokales oder globales Genre ist, aber das gehört nicht zum Haiku per se, obwohl es Spaß machen kann, sich darüber zu unterhalten. Die Aufgabe des Dichters ist es nicht, die Lokalisten oder Globalisten zu erfreuen, sondern die Wahrheit seines Gedichtes exakt aufzuschreiben. Ist das geschehen, mögen andere über die Wirkungen debattieren.

Weiterhin meine ich, dass Haiku alles zum Inhalt haben können, was Energie und Interesse erweckt. Das Einzige, was Haiku nicht einschließen sollten: dummes, kraftloses Schreiben.

Dietmar Tauchner: Wie wichtig sind die Regeln der alten japanischen Meister, vor allem von Bashô und Shiki, heutzutage noch?

Jim Kacian: Sie sind wesentlich, wenn wir die Hoffnung auf Verständnis haben wollen, was Haiku für diese Poeten bedeutete, was sie zu vollenden versuchten und was sie faktisch erreichten. Wir können nicht hoffen, „klassische“ japanische Haiku zu verstehen, wenn wir kein sorgfältiges Fundament haben bezüglich Kigo, Kireji und das andere Drum und Dran des Genres. Wir sind verdammt, nur die Oberfläche solcher Gedichte zu lesen, und vermissen so viel von der Kunst und Bedeutung solcher Arbeiten. Insofern wir in der Tradition schreiben, die wir Haiku nennen, ist das Verständnis dafür, woher sie kommen wesentlich, um zu verstehen, was wir tun, wo wir in der Geschichte stehen und wohin wir vielleicht gehen werden. Jede Kunst wird in ihrem eigenen Kontext erschaffen. Ein Gedicht außerhalb der poetischen Tradition ist nicht nur bedeutungslos, sondern auch undenkbar.

Das bedeutet nicht, dass die Regeln, die für Bashôs Kompositionen maßgebend waren, auch für uns maßgeblich sein müssen. Wie Bashô seine Ausdrucksmittel in seiner Zeit gefunden hat, so müssen wir auch herausfinden, was für uns von Relevanz ist und was uns zum Schreiben in unserer eigenen Ära anspornt. Das ist nicht nur einfach eine Frage des Inhalts, sondern auch der Technik, des Kontexts und des Verständnisses. Jene, die versuchen Gedichte zu schreiben, die Bashô gutgeheißen hätte, negieren 400 Jahre menschlicher Entwicklung, inklusive Mondbegehungen, Autos, Elektrizität, Weltkriege, Globalisierung usw. Würde Bashô heute leben, schriebe er nicht über Walkrollen, außer in ironischer Weise.

Dietmar Tauchner: Wie wichtig ist der traditionelle Hintergrund, um Haiku zu schreiben? Wie wichtig ist die Forderung nach „Atarashimi“, also nach „Neuheit“?

Jim Kacian: Ich glaube, darauf schon geantwortet zu haben, aber vielleicht ist es wert, noch einmal zu sagen, dass ein größeres Verständnis nur hilfreich sein kann, um unsere Arbeiten und die unserer Zeitgenossen sehr viel klarer im Kontext wahrzunehmen, was als eine Art Gewinn betrachtet werden kann.
Bezüglich „Atarashimi“: Ich kann mir keinen wichtigeren Grundsatz vorstellen. Nicht in dem Sinn, dass wir Neuigkeiten, wie zum Beispiel in Zeitungen – im Haiku bräuchten, sondern mehr in dem Sinne, die Welt mit neuen Augen zu sehen, um sie zu erneuern. Haiku, die bloße Berichte sind, die uns die Welt nicht neu wahrnehmen lassen, sind eben Berichte und keine Kunst.

Dietmar Tauchner: Über die Zukunft des Haiku: Was sollte vermieden werden, was gefördert?

Jim Kacian: Harold G. Henderson schrieb 1967: „Welche Art von Gedichten (Haiku) sich vielleicht herausbilden werden, wird von den Poeten abhängen, die sie schreiben.“ Daran hat sich nichts geändert. Die Frage ist also: Welche Art von Gedichten werden Dichter in der Zukunft als Haiku verfassen? Wir können schon einige Richtungswechsel unterscheiden, ob diese aber eine permanente Veränderung bedeuten oder nur eine momentane Mode sind, können wir nur mutmaßen. Zum Beispiel in Bezug auf den Inhalt bemerke ich eine stärkere Betonung dessen, was wir einmal das „psychologische Haiku“ genannt haben, nicht so sehr Gedichte über das Selbst, sondern mehr über die Tätigkeit des Geistes. Ich sehe auch mehr Wagnisse im Bereich der Techniken als in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten, obwohl nicht mehr als in den 1970ern. Und bezüglich der Form, bin ich darüber entzückt, dass die willkürliche westliche Vorgabe von drei Zeilen ernsthaft ausgehöhlt wird, mit viel mehr einzeiligen Gedichten, aber auch zwei- und vierzeiligen, und auch mit vielen organisch arrangierten. Ich würde bestimmt keinem Dichter raten, irgendetwas zu vermeiden, wenn das zum Vorschein kommt, was zu sagen war, klar und ohne Verlust. Ich glaube, nur durch die genaue Auswahl dessen, was notwendig ist, und durch eine Formulierung, die so klar wie möglich ist, hält die Sprache die zugehörige Energie aufrecht, die das Ziel eines jeden Gedichtes ist. Die besten Gedichte behalten ihre Kraft für eine sehr lange Zeit. Wenn es irgendetwas zu fördern gilt, dann diese Energie.

Dietmar Tauchner: Wie steht es um die Akzeptanz des Genres heute in den USA?

Jim Kacian: Wir müssen einige Unterscheidungen vornehmen, um diese Frage zu beantworten.

1. Das Wort „Haiku“ ist inzwischen Teil unserer kulturellen Hauptströmung. Es ist ein Schlagwort, dem ziemlich viele kulturelle Kennzeichen zugeschrieben worden sind: exotisch, frisch, faszinierend, „cool“, tief und gleichzeitig einfach usw. Das Wort hat deshalb einige Kennzeichen mit jenen gemein, die den kulturellen Hauptstrom manipulieren wollen: Werbefachleute, Manufakturisten, Produzenten usw. Man wird das Wort Haiku von der Kosmetikindustie als Parfumname besetzt finden; die Erholungs- und Freizeitindustrie hat eine Art Rucksack, die Elektronikindustrie eine Art Laptop usw. „Haiku“ ist hier ein Teil der Alltagskultur.

2. Der weitere allgemeine Begriff „Haiku“, wie er von der Mehrheit literaturinteressierter Menschen in den USA verwendet wird, würde eine Art von Gedicht bezeichnen, mit der Silben-Struktur von 5-7-5, angeordnet in drei Zeilen. Alles, was in 17 Silben ausgedrückt werden kann, ist dann ein Haiku. Wir haben große Tageszeitungen, die kurze Biografien in „Haikuform“ anbieten (The Washington Post) , große Radio Talkshows, die Kommentare in diesem Format akzeptieren (die Jim Rome Show, um eine zu nennen), und natürlich das allgegenwärtige Internet Big Blue und andere Spam-Haiku, vorwiegend über gemeinsame Kultur und Politik.

Neben all dem gibt es noch „literarische“ Angebote solcher Gedichte, reichend von korporativen Haiku bis zu Haiku für Juden, Katzen-Haiku und einiges mehr. Diese einfache Kenntnisnahme dessen, was ein Haiku sein mag, ist die vorherrschende Erscheinungsform in den Vereinigten Staaten, ist faktisch die Art wie Haiku an den amerikanischen Schulen gelehrt wird.

3. Der literarische Ausdruck „Haiku“ ist einzig ein paar tausend Menschen bekannt, die vornehmlich der Haiku-Gemeinschaft angehören; und einigen anderen aus der literarischen Welt, aber nicht allen. (Einige etablierte Dichter würden eher die zweite Bedeutung anerkennen als diese.) Dieser Gebrauch, der nicht eingeschränkt wird durch Silben- und Zeilen-Anzahl oder durch den Inhalt, ist auch der weiteste und engste der drei Definitionen, und der am wenigsten wahrgenommene im Land.

Um also deine Frage zu beantworten: Haiku als literarischer Begriff in der Weise wie wir ihn verstehen, ist nicht sehr anerkannt in den Vereinigten Staaten, wobei die anderen Auffassungen zunehmen. Da diese Alternativen von der Wirtschaft und vom populären Verständnis angetrieben werden, scheinen sie die dominanten Versionen für die nächste Zeit zu bleiben.

Dietmar Tauchner: Wird das Haiku jemals als eigenständiges literarisches Genre anerkannt werden im Westen? Wenn ja, was ist für diese Akzeptanz erforderlich?

Jim Kacian: Das Haiku ist schon anerkannt, wie oben erwähnt, in einer populistischen und allgemeinen Weise. Als ein seriöses literarisches Genre braucht es die kulturellen Vorgehensweisen, die solche Unternehmungen im Westen legitimieren: fundierende und kritische Akzeptanz. Wenn Haiku in wichtigen Anthologien erscheinen, publiziert von großen Verlagen; kritisiert werden von Kulturkritikern und Studenten; gekauft werden können in den Buchläden der Einkaufspassagen; in Filmen und im Fernsehen erscheinen, ohne sich selbst zu parodieren; dann wird diese Authentizität garantiert sein. Solange es jedoch eine Amateur-Beschäftigung bleibt, wird es im literarischen Altwasser bleiben.

Dietmar Tauchner: Du bist ziemlich aktiv in der internationalen Haikugemeinschaft und mit der Entwicklung des Haiku in verschiedenen Ländern vertraut. Was sind die wichtigsten Argumente für das so genannte Welt-Haiku? Wo liegen die Schwierigkeiten?

Jim Kacian: Ob das Haiku in seiner ganz speziellen Erscheinung kulturelle Barrieren überqueren kann oder nicht, bleibt abzuwarten, aber meiner Meinung nach ist es eine Untersuchung wert.

Auf der niedrigsten Ebene steht einfach die Befriedigung darüber, mit einem Dichter irgendwo in der Welt verbunden zu sein, die Freude des „Schau, wir sind gleich, weltweit.“

Auf der höchsten Ebene steht die Möglichkeit, dass die Verständigungsbereitschaft des Haiku (die eine beträchtliche Portion seines Charmes und Wertes darstellt) eine Metapher für Harmonie und Aussöhnung sein kann.

Wir sind alle enttäuscht von der Unfähigkeit der Politik und Diplomatie, Frieden auf Erden zu schaffen. Wir können Schlechteres tun, als anzunehmen, dass das Haiku etwas in diesem Bereich anzubieten hat.

Die Schwierigkeiten jedoch sind real und beträchtlich. Das offenkundigste und größte Problem ist das der Sprache. Das spaltet sich in zwei Hälften: Erstens, das Fehlen guter Übersetzungen (nicht einmal darauf eingehend wie schwierig Übersetzungen allgemein sind und von Dichtung besonders), gekoppelt mit dem Fehlen eines Fundaments für gute Übersetzungen (der Wulst an Übersetzungen wird von ein paar gutgesinnten Freiwilligen getan), schafft eine fast aussichtslose Situation. Zweitens, und das scheint noch schwieriger: Es ist sehr hilfreich über eine „Basis-Sprache“ zu verfügen, eine einzige Sprache, die für die gesamte Meta-Konversation über das Haiku verwendet wird und in der sämtliche Haiku erscheinen. Die Tatsache, dass diese Sprache heute Englisch ist, ist vollbeladen mit Schwierigkeiten. Englisch wird mit einem Imperium identifiziert und mit den USA. Es ist müßig zu sagen, dass die US-Außenpolitik des letzten Jahrhunderts oder so uns bei niemandem beliebt gemacht hat. Englisch als zur Hilfe genommene Sprache wird folglich zu einem politischen Faktor, der potentiell mehr trennt als vereint. Andererseits gibt es wirklich keine gute Alternative. Da ist also eine Sackgasse, aus der herauszukommen große Zurückhaltung und Vertrauen erfordert.

Jenseits des Faktors Sprache gibt es noch das Problem der Organisation. Die gegenwärtigen Zugänge zur Haiku-Gemeinschaft laufen über regionale, nationale oder internationale Vereinigungen; und je höher man die Skala hinauf klettert, desto geringer werden die Wahlmöglichkeiten. Faktisch gibt es nur zwei Vereinigungen, die vorgeben, die „Welt“ im Blickfeld zu haben. Wenn die Leiter dieser Organisationen nicht in objektiver Weise dem Wachstum des Haiku verpflichtet sind, dann gibt es dort kaum eine bewohnbare Zuflucht für die meisten Dichter.

Dichter sind meistens nicht allzu geeignet für organisatorisches Denken. Es ist klar, dass wir immer noch den besten Weg für die Mehrheit der Dichter zu finden haben, um den Rest der Welt zu erkunden, der sie mit anderen Haiku-Dichtern verbindet.

Kurz gesagt, ich denke, dass das Unternehmen Welt-Haiku wert ist, angepackt zu werden, aber ich bezweifle, dass wir jetzt schon auf dem besten Wege sind, um es zu vollbringen.

Dietmar Tauchner: Warum schreibst du Haiku? Was beabsichtigst oder bezweckst du mit deinem Schreiben?

Jim Kacian: Ich schreibe keine Haiku mehr … Das suggeriert, dass ich einige Kontrolle über das Ereignis habe. Vielmehr schreibt das Haiku mich. Faktisch bin ich jetzt Sklave des Haiku, oder der Muse, wenn du das bevorzugst. Als Autor weiß ich, dass es unklug wäre, sich der Muse anzubieten oder zu verweigern, deshalb mache ich weiter, wie sie will.

Die Absicht oder der Zweck meines Schreibens (gewiss anderes als Geld, Ruhm und Macht) ist Teil dessen, wozu ich berufen bin. Ich werde durch das Schreiben immer wieder an die Kraft der Verbindung mit den Lesern erinnert. Wie oft wurden wir nicht alle von einem Buch inspiriert, einem Kapitel, einem Gedicht, manchmal von einem einzigen Satz oder einer einzigen Formulierung, gehaltvoll genug, um unsere Lebensführung zu ändern? Mein Ziel ist, die Themen, die mir am wichtigsten erscheinen (und tatsächlich oft kleine Dinge sind), so genau und klar und mit dem mir bestmöglichen Stil auszudrücken zu versuchen. Wenn ich diesem Streben und dieser Beschäftigung folge, berühre ich das Leben und das Denken anderer, je mehr, desto besser. Welchen Nutzen die anderen aus meiner Arbeit ziehen, kann ich mir nicht vorstellen; aber das ist die Art wie Kultur wächst, und ich bin gewillt, meinen Teil beizutragen.

Dietmar Tauchner: Welcher Haiku-Dichter hat dich am meisten beeinflusst? Und warum?

Jim Kacian: Das kann auf verschiedene Arten beantwortet werden. Ich werde nur ein paar wählen. Der Dichter, der meine frühesten Haiku-Tage am meisten beeinflusst hat, war Bashô, oder genauer, wie ich vermute: R.H. Blyth, durch seine Übersetzungen hatten wir den meisten Kontakt. Der Grund ist einfach, weil ich bei ihm zum ersten Mal vom Genre Haiku hörte, und Basho war der dominante Dichter im „Text“ dieses Lernens.

Das erste Gedicht in Englisch, das ich selbst gerne geschrieben hätte, war Ruth Yarrows:

warmer Regen vor Morgen:
meine Milch fließt in sie
ungesehen

Aus offensichtlichen Gründen konnte ich das Gedicht nicht geschrieben haben, aber ich verlangte immer noch danach.

Anita Virgils „objektivistische“ Haiku, wie:

Rot herausgeschnipst
Hühnerlunge
im kalten weißen Ausguss

ließen mich wertschätzen, dass viel mehr Dynamik verfügbar war als für gewöhnlich in den Haiku-Journalen einbezogen wurde.

Marlene Mountains Einsatz und Bilderstürmerei:

alter Teich ein Frosch taucht auf Bauch oben

halfen mir zu verstehen, dass Haiku als „Weg“ keine „Japanismen“ oder falsche Ästhetik beinhalten muss.

bob boldman:

Blätter wehen in einen Satz

machte das Reflexive ganz und gar adäquat für den Haikukontext, und Robert Grenier:

außer die Schaukel wird angestoßen vom Hund im Vorbeigehen

ließ den Kontext weg, ohne das Haiku wegzulassen.

Es gibt mehr, viel mehr, aber du kannst erkennen, dass wir alle etwas zu dieser Erweiterung hinzuzugeben haben. Ich hoffe, dass ich eines Tages auf der Liste von jemand erscheine.

Dietmar Tauchner: Einige Ratschläge für die deutschsprachigen Haiku-Schreibenden?

Jim Kacian: Sicher. Gehorcht der Muse. Lernt die Tradition. Übt unentwegt. Vertraut euch selbst. Seid wahrhaftig. Gebt euch nicht mit weniger zufrieden als ihr zu verdienen meint. Aber ich erwarte nicht, dass ihr meine Ratschläge annehmt. Wir kommen alle zu den entsprechenden Dingen, wenn wir dazu bereit sind. Wenn ihr dafür bereit seid, braucht ihr diese Dinge nicht von mir anzunehmen. Viel Glück.

Dietmar Tauchner: Kannst du bitte zum Schluss noch einige deiner Haiku vorstellen?

Jim Kacian: Was Beispiele meiner Dichtung betrifft: Du kennst mein Werk besser als die meisten, weil du einige Zeit damit verbracht hast, es ins Deutsche zu übersetzen, wofür ich ewig dankbar bin. Ich frage mich, ob jene Gedichte, die im Englischen am besten funktionieren, auch im Deutschen am wirksamsten sind, oder in irgend einer anderen Sprache? Mit anderen Worten, ich frage mich, ob es nicht besser ist, wenn du aus meinen Gedichten auswählst, zumal du geeigneter dafür bist zu sehen, was im Deutschen welche Bedeutung hat, ungeachtet dessen, was meine englischen Originale bedeuten mögen. Ich habe selbst eine schöne Menge an Übersetzungsarbeit geleistet, und ich frage mich oft, ob es nicht Zufälle und Nebensächlichkeiten der Korrespondenz oder des Schwerpunkts sind, die ein kulturübergreifendes Interesse antreiben. Wenn das stimmt, dann werden es nicht die Ähnlichkeit des Verhaltens und des Denkens sein, die Welt-Haiku zum Erfolg machen, sondern die kuriosen Verstecke der Sprache, mit ihren verborgenen Reservoirs an Andeutungen, Doppeldeutigkeiten und ihrer Gehör-Tektonik, die die Verbindung entfacht. Ich mag diesen Gedanken tatsächlich lieber, als jeden Glauben daran, dass wir im Herzen alle gleich sind. Es hat mich nie besonders berührt, ob ich gleich bin wie jeder andere meiner Landsleute in irgend einer tiefen Weise: Warum sollte ich erwarten, dass Menschen in Deutschland oder Simbabwe mehr wie ich sind?

Also bitte wähle aus den beigefügten Gedichten aus, was dir passend erscheint. Ich heiße jede Rückmeldung willkommen.

Verandagespräch
die Frühlingsböen wechseln
das Thema

gefrorenes Paradies
ein kleines Stück Hölle
im Holzofen

das Sofortbild ihres Geliebten
wird deutlich
mit der Zeit

beim Verlassen des Kinos
glauben, diese Welt
sei die wirkliche

den Krug weitergeben
die Wärme
vieler Hände

der Fluss
was der Fluss
aus dem Mond macht

Bodennebel
bis zu den Knöcheln
im Mondlicht

im Konzert
der Violinsolist
und seine Schatten

(alle Dreizeiler übersetzt von Ruth Franke & Dietmar Tauchner)

ohne inseln im toten zentrum einsamkeit

die lage der kirche festlegen die vielen götter die zu gehen haben

sternennacht etwas lärm vom urknall ist noch da

nachtwolken fort die zufuhr von unendlichkeit

weite sicht zu Sirius sogar die vergangenheit ist nicht vorbei

 

Jim Kacian ist Autor von zehn Büchern (Haiku- und anderen Gedicht-Bänden), Eigentümer der Red Moon Press, Gründer der World Haiku Association (gemeinsam mit Dimitar Anakiev und Ban’ya Natsuishi), und ehemaliger Redakteur von Frogpond, dem internationalen Journal der Haiku Society of America. Zurzeit arbeitet er an einer Anthologie für alternative Haiku in Englisch und an einem permanenten Platz, der die Entwicklung des Haiku im Westen fördert.

Weitere Haiku von Jim Kacian in deutscher Übersetzung sind auf www.bregengemme.com zu finden. [August 2018 nicht mehr aktiv.]

 

Ersteinstellung: 10.06.2006