Kokoro

Kokoro [1] ― ein Gespräch über das Haiku
zwischen Beate Conrad und Volker Friebel

 

Volker Friebel: Du bist sowohl als Haiku-Dichterin bekannt als auch in der Organisation der Haikuszene tätig. Wie bist du denn selbst zum Haiku gekommen? Gibt es Beziehungen zu deinem Beruf?

Beate Conrad: Das ist richtig. Das kürzeste Gedicht der Welt hat in Form eines Haikubändchens ― ein Geschenk in mehrfacher Hinsicht ― während eines Langstreckenflugs in 2004 den entscheidenden Eindruck hinterlassen. Aufgrund seiner Kürze bei prägnanter und komprimierter, aber einfacher Sprache vermag das Haiku die eigene Vorstellungskraft des Lesers stärker freizusetzen als jede andere Poesie. Derartig angeregt, begann ich ernsthaft Haiku zu lesen und suchte bald nach literaturwissenschaftlichen Publikationen zum Haiku. Denn ich wollte auch wissen, wie das Kürzestgedicht, das nicht zufällig eine Lücke in der westlichen Lyrik schließt, solch eine große Wirkung erzielt.

Alles andere, einschließlich mein Mitwirken im Haikuorganisatorischen, ergab sich fast von selbst: In 2005 nahm ich an einem Haiku-Workshop des Hamburger Haiku Verlags (HHV) teil. Im Anschluß daran arbeitete ich bis etwa Ende 2008 am Aufbau eines deutschen Online-Saijiki des HHV mit. In dessen Rahmen schrieben wir regelmäßig einen Haikuwettbewerb aus. Als eine der Juroren wählte ich Texte aus und kommentierte sie. Außerdem veröffentlichte ich ab 2007 Aufsätze zum Haiku und zu dessen verwandten Formen. In 2010 lud mich Dietmar Tauchner zur redaktionellen Mitarbeit bei Chrysanthemum ein und seit 2012 gebe ich das Journal verantwortlich heraus. Aus persönlichen Gründen muß diese Arbeit gerade noch bis zum Winter pausieren.

Die eigentliche Beziehung zum Haiku ergibt sich wohl am ehesten aus meiner grundsätzlichen Neigung zum Schreiben, zur Sprache und zu Sprachsystemen, zur Kunst und zum Klang. Mit der Struktur der deutschen Sprache, vor allem mit Phonetik, dem Zusammenhang von Sprache und Denken im Aufbau logischer Kategorien in der menschlichen Entwicklung beschäftige ich mich seit meinem Studium. Folglich betrachte ich das Haiku auch unter diesen Aspekten und als sprachliches Kunstwerk. Selbstverständlich ergeben sich immer wieder Impulse für Themen, zur visuellen Gestaltung, für strukturelle, sprachlogische Ideen zum Haiku-Aufbau, auch aus meinem PC-nahen Berufsalltag heraus.

Volker Friebel: Du gibst das Haiku-Magazin Chrysanthemum heraus, das zwei Mal im Jahr Haiku, Haiga, Tanka, Haibun, Essays und andere Beiträge auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. Kannst du einen systematischen Unterschied erkennen zwischen Kurzgedichten, die von deutschsprachigen Autoren eingereicht werden und denen, die englischsprachige Autoren einreichen? Wie siehst du deinen Erfahrungen in der internationalen Haikuszene nach die Stellung des deutschsprachigen Kurzgedichts?

Beate Conrad: Die Unterschiede des deutschsprachigen Haiku im Vergleich zum englischen, speziell zum amerikanischen Haiku, sind vielfältig und stehen in einem größeren Kontext. In dem Entfaltungsprozeß des Gegenwartshaiku spielt die jeweilige Historie ebenso eine Rolle wie das Temperament und die sprachlichen Eigenheiten einer Nation und ihrer Individuen mitsamt ihrer Erwartung und kulturell geprägten Weltsicht. Aber auch die Verfügbarkeit an Informationen über eine fremde Kultur, der jeweilige Grad der Forschung, die literaturkritische Auseinandersetzung, das sachgerechte Herausgeben und die Befähigung zum sprachlichen Reflektieren sind maßgeblich. Desweiteren ist die Wahrnehmung und Reaktion auf neuere Strömungen von Bedeutung. Nicht zuletzt wären die verschiedenen Übersetzungsprobleme ― die Poesie in der Poesie ist nicht übersetzbar [2] ― und der fehlende Austausch mit Lyrikern und der Literaturwissenschaft der doch weitestgehend geschlossenen Haikukreise zu nennen.

Natürlich orientiert sich ein Teil der deutschsprachigen Haikunauten an der multilingualen Haikuszene im Netz, die das Englische als Transfersprache nutzt, so daß sie sich etwas breiter über die Möglichkeiten und Vielfalt des modernen Haiku informieren, an der internationalen Debatte teilnehmen und unterschiedliche Erfahrungen im Einreichprozeß mitsamt der eigenen kritischeren Betrachtung ihrer Texte sammeln können. Solche Möglichkeiten vermitteln neue Schreibimpulse und die Einsicht, daß das Haiku sowohl in Japan als auch im Westen seit seiner Ausbreitung eine fließende Poesieform mit nationalen Eigenausprägungen darstellt, die sich in Phasen immer wieder verändert und erneuert hat. Etwa mit Beginn des 21. Jahrhunderts bei zunehmender Globalisierung hat eine weitere, gegenwärtig andauernde Phase der Veränderungen eingesetzt.

In unseren Tagen ist das Wort Haiku ein populärer, jedoch recht vager internationaler Oberbegriff für ein lyrisches Genre mit einer großen Bandbreite an verschiedenen Formen, Themen und Stilen geworden. Die Bezeichnung an sich gibt außer seiner Herkunft ja nur ungenau wieder, worum es sich im einzelnen handelt. Unter dem Begriff versammeln sich u.a. das Hokku, Shikis Haiku, mitunter auch das Senryû und Zappai, das Kürzestgedicht in konkreter Sprache, das Gendai- bzw. das moderne Haiku wie z. B. das Monoku, das Parallelku, das avantgardistische ku, das gefundene ku sowie hybride und experimentelle Formen. So verschiedenartig sie erscheinen, folgen sie mehrheitlich der japanischen Grundidee zum Haiku als ein kurzes Gedicht aus und in der Zeit, dessen kleinster gemeinsame Nenner sich in seinem performativen und evokativ-bildhaften Charakter äußert, der durch eine Vielzahl an poetischen Techniken erreicht wird, einschließlich der Juxtaposition und Disjunktion [3]. Darunter lassen sich ebenso die Typen des deutschsprachigen Gegenwartshaiku einordnen.

Die wohl populärste Auffassung im deutschsprachigen Haikuleben ist das Haiku des 19. Jahrhunderts, das Gedicht als „Skizze nach der Natur“, das auf Shiki zurückgeht. Gründe für diese verbreitete Präferenz liegen mehrheitlich in der zahlreich publizierten und gut verfügbaren Primär- und Sekundärliteratur und deren Übersetzungen. Zudem propagieren traditionalistische Haikukreise Japans etwas einseitig immer noch diese und Kyoshis Auffassung zum Haiku im internationalen Raum. Diese Haikuausprägung hält sich auch im englischen Sprachraum. Doch dort stellt sie spätestens mit dem Beginn des neuen Millenniums nur noch einen Teil innerhalb einer größeren Haikuvielfalt dar.

Chrysanthemum besteht seit 2007. Das Haiku, wie es im Rahmen der Einsendungen vorkommt, erfährt verschiedene Ein- oder Beimischungen bei offener Form zu drei Segmenten. Es handelt sich dabei um poetische Aussagenanteile oder/und Abstrakta, die mit einem Naturanteil oder einem Jahreszeitenindikator verbunden bzw. einander gegenübergestellt werden. Dieser Haikutypus wendet sich deutlicher den lebensrealen Themen der Urbanität zu. Als offene Formverbindungen von Haiku- und normalen Prosa- oder lyrischen Elementen entsprechen sie den ersten Schritten des modernen Haiku in Japan wie sie ab dem 20. Jahrhundert bekannt und im englischen Sprachraum seit den 70er bis 90er Jahren nachvollzogen wurden. Es sind die Haikuhybriden der ersten Generation.

Betrachten wir einen weiteren Teil der Chrysanthemum-Einsendungen: Das sind die Einzeiler. Sie folgen der normalen japanischen Schreibweise in waagerechter Ausrichtung. Dabei werden hör- und sichtbare Einschnitte übernommen oder weggelassen. In einer anderen Variante des einzeiligen kus, dem Monoku, zeigen sich die vollzogenen Neuerungen besonders deutlich: Entgegen der bewährten Form reflektiert es nämlich strukturell den Haikuaufbau durch bestimmte sprachliche Lösungen. Zum Beispiel begünstigt es die Kontraktion seiner Einzelelemente durch Zusammenziehungen, Scharnierworte und Scharnierverschachtelungen. Dabei sind sie semantisch und syntaktisch hoch konzentriert und ähneln äußerlich dennoch einfachen Aussagesätzen. Diese Erscheinung ändert sich erst beim genauen Lesen, wo die bedeutungsvariierenden Kontraktionen bei gleichzeitigen Brüchen hervortreten. Das Monoku tritt spätestens mit Beginn des neuen Millenniums in der englischsprachigen bzw. westlichen Haikuszene auf. Im deutschen Sprachraum erscheint diese Form etwa ab 2005. Doch bedient sich das deutsche Haiku dieser Form seltener und zieht oftmals das offene Format in drei Segmenten vor.

Das vertikale ku-Pendant zum Monoku betont wiederum Segmentierungen und Sprünge sowie eine freiere Rekombination der Einzelelemente, die zu zusätzlicher Rhythmisierung, Bedeutungsvielfalt und Perspektivwechseln beitragen. Sie stehen als ein weiterer Typ der Haiku-Hybriden dem modernen, regulären Kurzgedicht nahe. Diese Form ist ebenfalls seltener in den Beiträgen zu finden. Beide Formen, Monoku und das vertikal ausgerichtete ku, werden jedoch öfter ins Haiga oder Fotohaiku integriert.

Außerdem gibt es eine kleinere Anzahl an Beiträgen, die unter das traditionelle, literarische Haiku einzuordnen sind. Diese Ausprägung setzt eigene Ansprüche, indem es zum einen mystische oder archetypische Aspekte, mythologische und jahreszeitliche Bilder nutzt. Zum anderen spricht es zuvor gemiedene Alltagsthemen an. Es bringt außerdem kulturhistorisch oder literarisch wesentliche Orte und Anspielungen ein, oftmals auch stilistisch, und erweitert sie dabei. Dieser Haikutypus kommuniziert interkulturell mit seinen historisch vorausgegangenen Werken, indem er sie mit seiner eigenen Zeit bewußt zu neuen Aspekten verbindet. Das sind Haiku in offener oder fester Form, die vom Hokku abgeleitet wurden, etwa wie sie Bashô, Buson und ihre Schüler schrieben. Diese Ausprägung hätte wohl das größte Potential zum sprachlichen Kunstwerk. Neben den deutschsprachigen Einsendungen kommen diese Art Texte eher aus europäischen Nachbarländern, insbesondere aus Osteuropa, und vereinzelt aus dem angelsächsischen und französischen Raum.

Eine weitere, in der englischsprachigen Haikuszene populär gewordene Variation sind Wortausstreuungen im Raum. Diese Form im Übergangsbereich zur visuellen Poesie überläßt dem Leser die Worte völlig frei zu kombinieren. Tatsächlich hat aber der Autor die Wörter, ihre Plazierung und den Rhythmus zuvor so genau durchdacht, daß sich beim geübten Leser nach anfänglicher Verwirrung die haikutypischen Effekte auch einstellen. Derartige „Wortwolken“ transportieren eine sichtbar bewegte Stimmung. Diese Form wurde aus dem Futurismus und der konkreten Kunst des frühen 20. Jahrhunderts angeregt. Sie stellt eine Schnittstelle zwischen dem Haiku als Figurengedicht bzw. dem Gedicht in konkreter Sprache, der Asemik, dem Blackout-Gedicht und dem Haiga dar. Diese Art ist unter den deutschsprachigen Einreichungen eher die Ausnahme.

Natürlich gilt für alle Haikuausprägungen gleichermaßen, daß die Originalität und Stimmung des Dargestellten unter Verwendung einfacher, aber äußerst geladener Sprache eine entscheidende Rolle spielt. Darin ist die Form mitsamt ihrem strukturellen Aufbau das ordnende Prinzip, indem sie ― wie gerade dargelegt ― den Darstellungsgehalt in jedem Aspekt prägt und unterstützt.

Wir stellen fest: Im Vergleich haben sich deutschsprachige Haikuautoren, die auch international orientiert sind, zeitverschoben der Spannbreite des frühen, modernen Haiku angenähert. In der Breite hingegen hat das traditionelle Naturgedicht mit urbaner Einstreuung weiterhin Vorrang.

Neben den klassischen Themen des Alltags sind kulturhistorische und literarische Anspielungen etwas seltener geworden. Stattdessen kommen Bereiche des modernen Lebens wie Urbanes, Technik im Alltag, Sprache, Wissenschaft und neue Medien hinzu. Aber kritische Themen wie Arbeit, Delinquenz, Widerstand, Politik sind rar, obwohl sie im modernen japanischen und derweil im „transferenglischen“, also internationalen Haiku zum Teil ebenfalls behandelt werden. Das mag wiederum etwas mit den deutschen Vorstellungen zum Haiku zu tun haben.

In der internationalen Gesamtschau hat das englische, besonders das amerikanische Haiku dem deutschen in seinen neuen formal-funktionellen Strukturen, in seinem kreativen Potential und in der literaturkritischen Auseinandersetzung einiges voraus, auch was sein Ansehen über die üblichen Haikukreise hinaus angeht. Ob und was davon überdauert, wird die Zukunft entscheiden.

Volker Friebel: Die Spanne deiner eigenen Texte finde ich sehr groß. Viele deiner Haiku können ohne weiteres in Sammlungen traditioneller Haiku stehen. Und du veröffentlichst immer wieder höchst originelle Texte, die unter klassisch ausgerichteten Haikufreunden Verwunderung und Befremden hervorrufen. Ein Beispiel, das zu denen gehört, die mich besonders beeindruckt haben:

. . .
324 </div>
325  <div style=“text-align: center;“>
326  <span:“*.*;“>…; #FFCOCB*; …</span></div>
327  <div style=“text-align: center;“>
328  <span“*.*;“>hexadezimal ein Portal</span></div>
329  <div style=“text-align: center;“>
330  <span style=“*.*;“>zur Kirschblütennacht</span></div>
331   <br /></div>
332   <div style=“text-align: center;“>
333   <span style=“*.*;“>FFCOCB= „pink“</span></div>
334   <br /></div>
. . .

(Aus: Haiku-Jahrbuch 2017: Leichte Fracht.)

Ein Text, der in Computersprache fast verschwindet und in ihr aktiv gesucht werden muss. Und damit auf den virtuellen, artifiziellen Hintergrund der Welt, in der wir leben, aufmerksam macht. Und auch wie unser „eigentliches“ Leben hinter seiner Organisation zu verschwinden droht. Die Kirschblüten aber sind immer noch da. Bist du mit dem Spektrum der westlichen Haikuszene zufrieden oder findest du, dass es mehr neue Themen und Ausdrucksformen betonen sollte?

Beate Conrad: Es lebt wohl jeder kreative Ausdruck davon ― zumindest ansatzweise ― zu erstaunen oder zu verwirren, das gewohnheitsmäßige Bewußtsein und die üblichen Konzepte zu hinterfragen. Schließlich bringt eine derartige Darstellung ― sofern sie solide angelegt ist ― den aktiven Entdeckungsprozeß des Betrachters in Gang und kann ihn so bereichern.

Dieses ku-Beispiel aus 2017 steht natürlich für Experimentelles. Den Kern der Haikudiskussion stößt es dennoch an: Nämlich eine authentische Kreativität zu entwickeln, die den evokativ-bildhaften Wesenscharakter des Haikus bewahrt, aber zugleich erneuernd wirkt. In diesem Haiku-Versuch werden poetische und formale Techniken genutzt, die den gewohnten Stil von Phrase-Fragment und Juxtaposition mitsamt den erkennbaren Standards wie kigo, Sprachklang und Anspielung überblendet. Dabei verschwimmen die bis vor kurzem noch gewohnten Grenzen des Wirklichen, des Abbildungsrealen im virtuell Möglichen und vermitteln ein irritierendes Erlebnis einer simulierten und zugleich real geschaffenen Realität im neuen Medienalltag. Ob nun der ku-Versuch nurmehr eine Spielerei ist oder aber doch in Erinnerung bleibt, das mögen die Leser und die Zeit für sich ausmachen.

Hinsichtlich des Spektrums in der Haikuszene: Zur Entfaltung des Haikus täten wir gut daran, unsere Erwartungen und Vorstellungen zu erweitern. Das Haiku in Japan stellt sich nämlich erheblich vielfältiger dar als das, wofür wir es halten. Themen und Ausdrucksmittel zu ergänzen, sind bewährte Vorgehensweisen. Auch Bashô und Buson erreichten verschiedene Formen der Textdichte und -komplexität. Sie bedienten sich dazu u. a. der Metonomie, Metapher, Allegorie und Symbolik. Auch erweiterten sie die literarische und kulturhistorische Aufladung von Orten und kigos. Sie nutzten stilistische Anspielungen und suchten nicht zuletzt ständig nach neuen Themen. Analog dazu ließen sich zum Beispiel moderne Umgangs-, mediale Symbolsprache und Wortschöpfungen ebenso wie kulturhistorisch und literarisch gestützte deutsche Jahreszeiten- und Ortskonnotationen einbringen. Originalität und Innovation basieren allerdings auch auf der kritischen Betrachtung des Gewohnten sowie auf einer angemessenen semantisch-linguistischen Lösung, die die innere Struktur und Stilistik des Haiku neu belebt, um die haikuästhetischen Effekte hervorzubringen. Und das ist etwas, worüber es sich wirklich lohnt, genauer nachzudenken.

Bezüglich der Themen, Inhalte und Methodik scheint es ebenso sinnvoll, dem „Haiku-Moment“ die im japanischen Haiku durchaus übliche Dimension der Imagination und der Animation hinzuzufügen. Gemäß westlicher Auffassung wird Realität meistens mit Natur, mit Faktizität und Naturrealität gleichgesetzt. Doch das Wesen des Daseins zeigt sich in seiner alles umfassenden Totalität. Realität im Sinn der Imagination ist vieldimensional und mit allen Sinnes-, Daseins- und Erkenntnisebenen verknüpft. Wo das Haiku allein auf die Definition von Naturpoesie zurückgreift, stagniert es. Zumal seine Grundvorgaben in Japan völlig andere sind. Das sollten wir nicht vergessen. Folgen wir zur weiteren Haikuentwicklung doch einfach Bashôs Grundsatz: Tritt nicht in die Fußstapfen der Meister, sondern suche, was sie suchten.

Volker Friebel: Daran zu arbeiten, liegt an allen Haiku-Dichtern. Was braucht es dazu an Organisaton? Es gibt einige wenige Haiku-Kreise im deutschsprachigen Raum, es gibt die Deutsche Haiku-Gesellschaft (DHG) mit der Vierteljahresschrift Sommergras und einem Treffen alle zwei Jahre, es gibt einige wenige Netzpräsenzen wie haiku.de von der DHG, haiku-heute.de und chrysanthemum-haiku.net sowie zwei Einreichseiten für Haiga. Das Forum der DHG und ein Haiku-Forum auf Facebook sind derzeit nur wenig aktiv. Reicht das? Was würdest du dir noch wünschen? Und was könnten die vorhandenen Organisationsformen mehr leisten?

Beate Conrad: Daß früher Mythen und Märchen, Lieder und Gedichte entstanden, das passierte mehr oder weniger von allein, frei und generisch. Niemand ordnete an, Kunst herzustellen oder Opern zu erfinden und zu komponieren. Doch über die Zeit, spätestens mit dem 20. Jahrhundert hat sich diese Struktur gründlich geändert. Heutzutage folgen Kunst- und Kulturprodukte Gesetzmäßigkeiten und Vorgaben, während der künstlerische Ausdruck von Lebenserfahrung kaum noch eine Rolle spielt. Kunst- und Literaturäußerungen sind zunehmend in einen Betrieb mit synthetischen Strukturen gezwungen, oftmals zu Zwecken der Verwertung. Sie sind zu einem nicht kleinen Anteil in ein Instrument der Kultur- und Massenformierung überführt worden. Das bestimmt wiederum zu einem nicht geringen Anteil, was Kunst einschließlich der Poesie zu sein hat, sofern sie überhaupt noch relevant ist. Diese Entwicklung steht der ureigensten Auffassung der Künstler und auch dem Haiku konträr entgegen.

Somit mag es durchaus gerechtfertigt sein, Organisationen gegenüber eine gewisse Skepsis entgegenzubringen. Das gilt in gewissem Maße selbst für das Haikuorganisatorische. Zumindest haben auch diese Organisationen sich folgende Fragen immer wieder neu zu stellen. Nämlich inwiefern sind sie als Organisation nützlich: erstens für das Wachstum des einzelnen Haikunauten, zweitens für das Wachstum der Haikugemeinschaft, und drittens: Inwiefern nützen sie insgesamt dem Haiku als Genre, also seiner (Weiter)Entwicklung und seinem Ansehen.

Haikuentwicklung bedeutet zunächst die Entwicklung des Individuums als Person und als Autor durch das Haiku. Am besten eignet sich der Interessierte so viel wie irgend möglich zum Haiku an. Das wäre das ideale Minimum, das jeder beitragen könnte. Damit einher geht die ständige Arbeit, um den eigenen Sprachausdruck zu verbessern. Idealerweise verquickt sich fundierte Sachkenntnis mit entsprechender Übung, so daß mit ausreichend gesammelter Erfahrung schließlich jeder kompromißlos das Haiku schreibt, das sowohl seinem Anliegen als auch seiner eigenen Auffassung von Poesie entspricht. Nichts anderes haben schon Bashô und seine Nachfolger getan.

Eine weitere Ebene der Haikuentwicklung liegt in der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft. Es geht also um die Frage: Wie kann nicht nur das Individuum vom Haiku profitieren, sondern auch das Haiku vom Individuum? Jeder kann sich entsprechend engagieren, insofern er ernsthaft um Kompetenz, Offenheit und Fairneß bemüht ist. Die Art der Haiku-Organisationsstruktur wird sich idealerweise an der effektiven Erfüllung seiner Aufgaben ausrichten: Die Gemeinschaft und Organisation wird sowohl Anfänger wie auch Fortgeschrittene gleichermaßen unterstützen. Sie wird ihnen dazu vielleicht sogar einen wohlabgestimmten, erweiterbaren „Haiku-Kanon“ in die Hand geben und das sprachliche Handwerk fördern. Wir wünschen uns ebenso kompetente und in jeglicher Hinsicht aufgeschlossene Redakteure für Haikuzeitschriften, Anthologien, als Veranstalter und Juroren von Wettbewerben, zur Anleitung von Haikukreisen, von frei zugänglichen Foren und anderen Begegnungsmöglichkeiten. Entsprechend wird sich die Organisation darum bemühen, Individuen anzusprechen und zu motivieren. Ferner wünschen wir uns eine eloquente Außenvertretung. Ergo wird die Organisation daran arbeiten, mit Menschen zu kooperieren, die fachlich versiert sind. Sie wird daran interessiert sein, Forschung und Praxis zusammenzubringen und auf ehrliche Buch- und Haikubesprechungen wertlegen, die sich auf die Sache und auf literarturkritisch-vergleichende Methodik versteht, so daß sie auch außerhalb eingeweihter Kreise ernstgenommen werden.

Das Haiku ist mehr als ein Selbstzweck und wird so lebendig und entwicklungsfähig sein, wie einzelne Haikunauten und auch wir innerhalb der organisierten Haikuszene es zulassen. Dazu braucht es einen unabhängigen Geist, der aufgeschlossen ist und kritisch hinterfragt. Das ist die Natur der Natur, deren Wesen und Weg das Haiku auch beschreibt.

Volker Friebel: Nun ist die Beschäftigung mit der Theorie des Haiku und seiner Einbettung in die Gegenwartsliteratur die eine Sache. Die andere ist, ob das Haiku, so wie es sich heute darstellt und so, wie es Menschen, die sich mit ihm theoretisch beschäftigen, gern weiterentwickeln möchten, die Leser und Dichter mitnimmt. Fast alle, die sich erstmals lesend oder schreibend mit dem Haiku beschäftigen, kamen meinem Eindruck nach dazu durch die sehr einfach und verständlich scheinenden Sammlungen japanischer Haiku-Dichtung, die schon seit Jahrzehnten unverändert in den Buchhandlungen stehen. Ich habe den Eindruck, dass das Haiku für die große Mehrheit der Menschen als kurze Naturdichtung oder als Achtsamkeitsdichtung, als Konzentration auf den Augenblick mit der konkret wahrnehmbaren Wirklichkeit, eine große Anziehung ausübt, aber die Annäherung an moderne Lyrik im westlichen Sinne und der Verlust an Gegenständlichkeit und Bildhaftigkeit den Reiz des Haiku für diese Menschen verblassen lässt. Was sind hier deine Erfahrungen? Und wenn sie ähnlich sein sollten: Was bedeutet das für die Organisation des Haiku?

Beate Conrad: Haikuentwicklung wird natürlich nicht durch Theoriebildung betrieben, sondern durch die Genialität überdauernder Texte, die sie schlicht beschreibt. Die Strukturanalyse und kritische Auseinandersetzung wird vor allem zum kulturhistorischen, linguistisch-funktionellen und zum allgemeinen Verständnis des Genres beitragen, auch über die üblichen Haikukreise hinaus, und interessierte Autoren zur Optimierung ihres Schreibens anregen.

Ansonsten stellt die Theorie des Haiku, wie Du es nennst, ein etwas heikles Feld dar, das jedoch wesentlichen Einfluß auf das Individuum genommen hat. Im nachfolgenden gebe ich Prof. Shirane [4] in eigenen Worten wieder: „Im Laufe der letzten fünfzig Jahre wurden eine Fülle an Regeln und Grenzen in Form und Inhalt von dem abgeleitet, was an Übersetzungen von japanischen Haikudichtern zum Thema verfügbar war. Dabei wählten jeweils Westler aus, was davon beim Schreiben relevant oder nützlich schien. Allerdings berief man sich auf kaum mehr als ein fragmentarisches Wissen, oftmals aus zweiter oder dritter Hand. Mit der Zeit verhärteten sich die angehäuften Fragmente zu sogenannten Regeln, Verboten und Geboten. Gerade dieses Halbwissen beschränkt das Sichtfeld von Haikuautoren und hat sie aufs Nachahmen verlegt, so daß sie selbst aufhören, über das Definierte hinauszuschauen.“

Ich meine, dem deutschen Haiku täte es gut, von definitorischen Positionen abzusehen. Denn was ein Haiku ist, belegt immer nur und immer wieder neu das Einzelexemplar. Haiku ist also das, was ist. Anstelle der Definition mit oftmals fraglichen Merkmalen könnte und sollte konsequent die systematische Beschreibung treten, die sich auf sprachliche Baustrukturen und literarische Gestaltungsmittel und deren Funktionen konzentriert. In den Zusammenhang fielen ebenfalls die ästhetischen Wurzeln des Haiku.

Indes entscheidet über die Anziehungskraft oder Zugänglichkeit eines einzelnen Gedichts immer solide Textarbeit, die das Poetische herausarbeitet, und die jeweilige Leseerfahrung. Es entscheidet nicht die Tatsache, ob ein Gedicht aus erlebter, erinnerter, vermittelter Natur oder sich anderweitig generiert hat, ― wobei ich freilich die Freude und Achtsamkeit für die in unseren Breitengraden empfundene „konkrete Naturrealität“ und deren Poesie verstehe. Das Haiku als Naturpoesie deckt jedoch nur eine kleine Nische im großen Haikuland ab. Wie ich weiter oben schon ausführte, schrieben selbst Bashô, Buson und seine Nachfolger alles andere als reine Naturpoesie. Sie wandten sich mit ihren Erneuerungen sogar gegen eine derartige Verflachung. ― Nun wird das moderne Haiku leider ― wie überhaupt ein Großteil der Kunst der Moderne ― mit Mängelbewertungen wie zu abstrakt oder gar gegenstandslos bedacht. Darin verbirgt sich vor allem ein Mißverständnis, das aus der hypothetischen Dualität von Natur und Geist herrührt. Also eine Beurteilung, die sich aus dem rein angenommenen Gegensatz von Natur und allem menschlich Geschaffenen ableitet. Sie übersieht dabei jedoch, daß auch nach abendländischer Auffassung (u. a. Platon, Heraklit) alles von Natur durchdrungen und alles in allem eins ist. Manche nennen das Naturgesetz, andere die Ordnung der Schöpfung und wiederum andere das Dao, das überall in allem und durch alles wirkt.

Zum Konkreten im Abstrakten und Imaginativen ein praktisches Beispiel in Form eines hybriden Gegenwartsku aus Deiner Auswahl: „Der Grund / meiner Abwesenheit / ein Schneekristall“, H. Thum, Haiku heute, Ausgabe März 2022. Das einzig bildhafte Element ist das winzige Schneekristall. Das allein wird jedoch kaum den physikalischen Weg versperren, obgleich eine Winzigkeit am Boden Großes anzustoßen vermag. Mit dieser zunächst wenig bildhaften Prosaaussage bei jedoch geladener Sprache in Form eines Satzes weitet sich entgegen aller Abwesenheit ein Detail zur konzentrierten An-Wesen-heit aus. Das Haiku beschreibt klar eine etwas anders geartete, grundsätzliche (Natur)Wirklichkeit aus externem Dasein und meditativer Betrachtung. Es nutzt dazu das Prinzip der imaginativen Einswerdung. Damit steht das Gedicht in guter Haikutradition, ohne jedoch bei seiner Imitation stehenzubleiben. Es ist auch nicht die Aufgabe der Dichtkunst, die Dinge auf gewohnte Weise darzustellen, sondern durch ihre Sichtweise Betrachtung und Berührung anzuregen. So bedient sich das Haiku ― wie jede andere Kunstsparte ― auch der Spannung zwischen den Polen. Aber es überwindet diese Dualität, indem sich das Unmögliche mit dem Möglichem auf dem Grund und Boden aller Wesensart im Schneekristall verbindet. Gerade das Nicht-Gegenständliche bietet hier den funktionell notwendigen Freiraum, das ma, das sich im Spannungsfeld zum Bildlichen, zum Mehrdeutigen füllt und verändert. ― Buchstäblich augenscheinlich wird das übrigens schon im traditionellen Haiga, wo die visuelle Abstraktion vereinfacht, indem sie ― wie beim Schneekristallbeispiel ― das Komplizierte der Erscheinungen auf seine wesentliche Form herunterbricht. Auf diese Weise läßt auch dieses Haiku hier die Natur des Wesentlichen in einnehmender Schönheit und unvermeidlicher Vergänglichkeit, das mono no aware, sichtbar werden. Nichts weniger vermögen die scheinbar gegenstandslosen Künste der Moderne zu vollbringen, so wir sie richtig zu sehen verstehen.

Halten wir fest: Das Modell der Klassiker und deren Nachfolger hilft trotz aller Mißverständnisse, die uns allen gelegentlich unterlaufen, Haikustandards, zusätzliche Kenntnisse und poetische Techniken zu verinnerlichen. So können sie später relativ leicht abgerufen und für die eigenen kreativen Bedürfnisse erweitert und umgeformt werden. Kenntnisse zur Tradition werden auch helfen, das eigene Schreiben besser einzuordnen und mit frischem Leben zu füllen. Letztlich liegt es aber am einzelnen Haikunauten, an seiner Befähigung und seinem Engagement, ob und wie er Kenntnisse erwirbt und erweitert, sich im Verlauf von Nachahmung und Geboten emanzipiert, seine Lebenserfahrung, seine Weltsicht, seine Vision von Poesie durch seine ihm typische Art ins Haiku einbringt. Es braucht nämlich nicht irgendwelche sein sollenden Vorgaben und Merkmale, um ein lesenswertes Kürzestgedicht zu schreiben, das die Vorstellungskraft des Lesers stärker anregt als alle andere Poesie.

Volker Friebel: Du hast das Haiga, die Verbindung von Text und Bild, als Möglichkeit der Erweiterung von Texten erwähnt und dich selbst damit ausgiebig beschäftigt, theoretisch und als höchst kreative Autorin. Mit Haiga im Focus von Claudia Brefeld und AHaiga von Helga Stania gibt es dafür inzwischen zwei spezialisierte Publikationsmöglichkeiten. Hast du Anregungen für Menschen, die sich, betrachtend oder herstellend, mit Haiga beschäftigen möchten? Worauf kommt es an? Entsprechen die laufenden Publikationen ungefähr deinen Vorstellungen?

Beate Conrad: Es ist erfreulich, daß sich Haiku- und bildnerisch Interessierte engagieren und sich einer besonderen Sparte innerhalb des Genres annehmen. Das trägt zur Übung und Verbreitung dieses besonderen Haikuderivats bei. Nebenbei geben solche Publikationen einen Einblick zum gegenwärtigen Erfahrungs- und Sachkenntnisstand sowie in die Vorlieben seiner Hersteller und ihrer Herausgeber.

Was mein Erfahrungsverständnis mit dem Haiga betrifft: Die poetische Malerei, die Bild und Text kombiniert, läßt sich ihrem Charakter nach ― wie das Haiku selbst ― als ein Werden, eine performative und evokative Kunst beschreiben. Es handelt sich also um eine Disziplin, die ihr Sujet vor unserem inneren Auge aktiv entstehen läßt. In einem solchen Prozeß entfalten sich Bilder aus dem Anfangsbild. Alsdann, in der Kombination mit dem Gedicht, entstehen Schritt für Schritt weitere, implizite Bilder. Was anfangs offensichtlich erschien, wird dabei zu etwas unerwartet Neuem, zu etwas, das berührt. Diese performative Eigenschaft gilt es bei der Komposition eines Haigas oder Foto-Haikus in der Wahl der Mittel genau zu berücksichtigen.

Das Haiga fußt, wie alle anderen japanischen Kunstformen einschließlich des Haikus, in der japanischen Ästhetik, wo Sicht zu tieferer Einsicht führt. Es geht somit ― wie beim Haikuvers ― um die Gestaltung von Effekten, die das Erleben von sinnlicher Schönheit und Einsicht ermöglichen. Sie können mit Begriffen wie kanso (einfach, wesentlich, grundsätzlich), fukinsei (asymmetrisch, irregulär, unterbrochen), shibumi (Andeutung), shizen (unprätentiös), yûgen (subtil, geheim, verborgen), ma (Raumbeziehung, freier Raum, Ausbreitung), kireji (Schnitt, diskontinuierliche Kontinuität), datsuzoku (unkonventionell, frei), seijaku (still, ruhig), kokoro (Herz und Verstand), karumi (leicht, unangestrengt) beschrieben werden. Das Gegenwartshaiga vertieft ― wie das traditionelle Haiga ― die Spannung zwischen bildhafter Anschaulichkeit, Auslassung und Abstraktion. Gerade das vereinfachende Mittel der Abstraktion visualisiert, indem es Verborgenes zum Vorschein bringt, ohne explizit zu werden. Der jeweilige Grad der Abstraktion richtet sich natürlich am speziellen Objekt aus.

Das allerbeste Haiku eignet sich nicht wirklich zum Haiga oder Foto-Haiku. Denn einem derartigen Gedicht wäre nichts mehr hinzuzufügen. Haiku und Bild werden also so beschaffen sein, daß ihnen beiden etwas hinzuzufügen bleibt. Außerdem werden sie sich in keinem offensichtlichen Punkt ihres Inhalts gleichen. Wie anschaulich das Bild bzw. der Text ausfällt, hängt von seinem zuerst vorhandenen Pendant ab. Visuell besteht ein Gedicht nicht nur aus seiner Mitteilung, sondern weist davon unabhängig eine äußere Gestalt auf. Dieses (Text)Objekt will im Haiga graphisch sensibel behandelt und bildkompositorisch berücksichtigt sein, damit Text und Bild zu einer visuellen Einheit verschmelzen können. Dabei entsteht zugleich ein erster Eindruck der Gesamtstimmung im Haiga. Sie spiegelt ebenfalls die spontane Stimmung und das Bewußtsein seines Schöpfers im Moment des Herstellens wider.

Wer Haiga und Foto-Haiku lesen und genießen möchte, wird sich wachen Auges viel Zeit dazu nehmen. Zuerst wird der Betrachter das Visuelle wahrnehmen. Er folgt dabei seiner Kenntnis und Intuition. Sobald diese sichtbaren Elemente erschöpfend verinnerlicht sind, gilt es den Text zu entschlüsseln. In einem dritten Schritt läßt sich der lesende Betrachter von Bild und Text gemeinsam leiten. Während der Schritte werden folgende Elemente den Prozeß des wandernden Auges unterstützen: die Position des Textes im Bild, die impliziten bildkompositorischen Leitlinien, die Verteilung und Farbgebung oder Grautönung der Objekte sowie ihre Form. Im dritten Schritt überlagern sich Text, Bilder und Stimmungen, um sich zu wandlungsfähigen Sinneinheiten zu organisieren. Die Schritte, besonders der letzte, können durchaus mehrere Durchgänge in Anspruch nehmen, speziell wenn Zitate, Anspielungen und weitere Stilmittel in beiden Disziplinen zu zusätzlicher Bedeutung eingearbeitet wurden.

Nicht nur das Haiku, auch das Haiga bringt ein gewisses Suchtpotential mit sich: Wir verfertigen mit spielerischer Freude vielerlei Werke. Doch mit zunehmender Erfahrung und Reife erkennen wir, daß wenige herausragen.

Volker Friebel: Weshalb findest du denn persönlich die Beschäftigung mit Haiku, mit Dichtung, überhaupt mit Kunst wichtig? Was kann sie den Menschen geben, als Leser, Betrachter, kreativ Tätiger? Zwischen dem köstlichen Haiku von Bernadette Duncan: „Montagseinkauf / zahle gleich viel / für Rose und Brot“ und einem Zeitvertreib zwischen Arbeit und Fernsehen liegen Welten.

Beate Conrad: So ist es. Jeder Organismus strebt ganz natürlich nach einem Gleichgewicht zwischen sich und der ihn umgebenden Welt. Das ist ihm sozusagen in die Wiege gelegt. Dieser Umstand fordert heraus und motiviert. Die entwickelten Kulturpraktiken und -techniken stellen wiederum einen wichtigen Mosaikstein für uns Menschen innerhalb dieses Ausgleichsprozesses dar. Kunst und Kreativität sind ein spielerischer Ausdruck, die Welt, uns selbst zu verstehen und in Einklang zu bringen. In diesem Sinn ist auch das Haiku ein Werkzeug.

Die Künste in Wort, Ton, Bild, Bewegung und Gestalt dienen der Mitteilung, der Erinnerung, der Bewahrung und der Weitergabe von Ritualen und Bräuchen. Sie dienen zur Teilhabe, auch in Form der Feier. In ihren Weltsichten transportieren die Künste gemeinschaftliches Wissen und Erfahrung. Als Bindeglied und Schnittpunkt zwischen mentaler, spiritueller und emotionaler Sphäre entfalten sie den Raum, in dem jene überdauernde Wahrheit verborgen liegt, die nicht belegt werden muß, die aktuell bleibt und berührt. So gibt die Kunst nach innen und außen Orientierung, regt zum ausgleichenden Reflektieren an und befriedigt neben der Suche nach Sinn ästhetische und tief menschliche emotionale Ausdrucks- und Empfindungsfähigkeit bis hin zur Katharsis. Das bereichert auf passive und aktive Weise auch mich.

Kreativität wiederum entsteht durch stetiges Beobachten, Sammeln, Aufzeichnen aus allen Winkeln des Daseins und dem, was es in uns anstößt. Hinzu tritt eine generell kritische Haltung, eine Wachheit, ein Hinterfragen und natürlich die Intuition, die aus dem im Traum bearbeiteten Tagwerk schöpft. Dabei wird das Tradierte nicht fortgeworfen, sondern im Wandel erhalten. Darin besteht kein Widerspruch. Denn wenn wir zurücksehen, zeigt sich, daß Tradition Innovation erst ermöglicht. Tradition ist immer individuelle und allgemeine Abstammungsgeschichte, die Identität bildet. Sie stellt den Rahmen dar, um ein Werk inhaltlich, zeitlich, formal und im größeren kulturellen Zusammenhang zu verstehen und einzuordnen.

_______

[1] kokoro ist ein Begriff aus der japanischen Ästhetik. Er bedeutet Herz und Verständnis, persönliche Kultur, tiefgehende Einstellung.

[2] „Poetry is the most national of arts. You can’t translate it.“, Robert Frost an H. Ludwig 1961 an der University of Minnesota, (in einer brieflichen Mitteilung)

[3] Prof. R. Gilbert: The Disjunctive Dragonfly. A New Approach to English-Language Haiku, Winchester, USA, 2008

[4] Meine Übersetzung aus: Prof. H. Shirane: Bridges of Dreams, Standford University, 1998

Zur Person

Beate Conrad wurde während der 60er Jahre an einem Frühsommermorgen in Norddeutschland geboren. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Sprache, Psychologie, Philosophie und studienbegleitende Kunstseminare organisierte sie Kulturprojekte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Im Anschluß war sie als Referentin des Landes Nds. zur Multiplikatorenbildung pädagogischer Fachkräfte tätig. In 2000 zog sie in die USA, wo sie zunächst Deutsch und Kunst unterrichtete und in computer-gestütztes Design wechselte. Seit 2015 lebt und arbeitet sie in Hildesheim. Zusätzliche kreative Weiterbildungen in Zeichnen, Malen und Steinarbeit bei freien Künstlern. Sie drückt sich außerdem kreativ in Wort, Fotografie und Ton aus. Mehrere Preise und Nominierungen für Haiku und Haiga. Besonders beschäftigt sie sich mit der Strukturanalyse des Haiku und dessen verwandte Formen. Essays in Deutsch und Englisch ab 2007 in den Journalen: Sommergras, Chrysanthemum, Simply Haiku, Haiku Reality, , 31. Seit 2012 gibt sie das Internationale Haiku-Magazin Chrysanthemum heraus.

Aufsätze zum Haiga

Haiga-Grundlagen I, Chrysanthemum Nr. 11, 2012, S. 34-36

Haiga-Grundlagen II, Chrysanthemum Nr. 12, 2012, S. 43-48

Haiga-Grundlagen III, Chrysanthemum Nr. 15, 2014, S. 63-80

Haiga-Grundlagen IV, Chrysanthemum Nr. 22, 2017, S. 66-72

Haiku in der Form konkreter Sprache. Chrysanthemum Nr. 19, 2016, S. 57-62

Abrufbar unter: http://www.chrysanthemum-haiku.net/de/archives.html

Eigenes in Wort, Bild & Ton (Auswahl)

„Ruf der Engel“, CD & Booklet, symphonische Klangbilder für sieben Haiku, 2006/2010.

„Haiku in Motion: Cherry Blossom Shower“, Vertonung und Visualisierung eines Haikus von Horst Ludwig. Youtube, 2011.

„Leichtes Bewehen / A Little Breeze“ ― Ein Haiga-Leporello mit 24 Sumi-e-Zeichnungen zu Texten von Horst Ludwig und sechs Aquarelle. 2012.

„Leichtes Bewehen / A Little Breeze“ ― Eine Haikuvertonung, 2012.

„Ort im Wind“ ― Achtzehn Haibun und Fotografien. 2013.

„Haiga 2021“ Dreizehn digital generierte Haikubilder, 2021.

„Eine Sommergrippe“ ― Eine Sequenz in fünfzig Tankabildern. Tony Böhle & Beate Conrad, Einunddreißig, August & November 2021: www.einunddreissig.net

„Licht im Dunkel“ ― Sechzehn FotoGrafiken und Prosaminiaturen zum Winter 2020 & 2021.

Sechs Haiku von der Autorin selbst ausgewählt

mondbeschienen die Zeit eine K o p f w e l t w e i t e

Bilder
in der Nacht
mein eigener Schrei
findet mich

phosphorgrün
der Sturm legt sich
über die Stille

Traum ― und wär’s auch nur
ein lautloser Zwischenfall
zwischen den Sternen.

Vorm Haus der Eltern
das braune Laub kehrt nicht mehr
an den Baum zurück.

kalte Wände ich frage nicht weiter

Sechs Haiku der Autorin ausgewählt von Volker Friebel

Startrampe ins All.
Die Spatzen auf der Leitung
wechseln die Plätze.

Beschuldigungen.
Einmal mehr zieht sie
ihr Lippenrot nach.

Quantensprung
aber kaum einer sieht ihn
den Engel.

unser altes Lied
Wolken
in meinem Kaffee

Ihr Gepäck schwer
doch über ihrem Kopftuch
dieselben Sterne.

im Schatten der Lüge Lavendelduft

 

Haiku von Beate Conrad sind in Haiku-Zeitschriften, auf ihrer Netzpräsenz Chrysanthemum sowie in allen Haiku-Jahrbüchern ab 2007 zu lesen:
https://www.haiku-heute.de/jahrbuch/

 

Zur Übersicht Autorenseiten