Ein Gespräch zwischen Hans-Peter Kraus und Volker Friebel über das Haiku
Volker Friebel: Du hast die erste relevante Haiku-Präsenz im deutschsprachigen Netz etabliert, HaikuHaiku, und dort ab 1999 Haiku von Gästen veröffentlicht. Das Netz kam damals gerade so für die Allgemeinheit in Gang. Was kannst du denn, als Augenzeuge und Gestalter, über die erste Zeit des Haiku im Netz sagen?
Hans-Peter Kraus: Ich denke, was auf die meisten inklusive mir zutraf: Wir hatten nicht wirklich Ahnung, weder vom Haiku, noch von der deutschsprachigen Lyrik. Was Haiku anging, habe ich mich ein bisschen eingelesen, vor allem im englischsprachigen Internet. Das große Thema im deutschsprachigen Haiku war, ob die 5-7-5-Silbenregel unbedingt zu beachten ist. In meinen Augen war das Unsinn und es gab dafür gute Gründe. Die Sache hat sich damals nach und nach zugunsten der freien Variante entschieden. Und was noch hängen geblieben ist: Das Ärgernis Deutsche Haiku-Gesellschaft. Die waren im Vereinsmeier- und Heftchen-Zeitalter stecken geblieben. Ich war nie Mitglied, habe nur manchmal gehört, wer sich wieder mit wem zerstritten hat. Im Internet hatten die keinerlei Relevanz.
Volker Friebel: Wer weiß mehr von Dichtung, der Dichter oder der Germanist und Japanologe? Der Dichter sollte sich allerdings auch mit dem beschäftigen, was man das „Handwerkszeug“ der Dichtung nennen mag. Japan hat über das Haiku hinaus eine erstaunliche und anregende Kultur. Für das Schreiben von Haiku schien mir das aber immer nur wenig wichtig. Was am Haiku interessiert mich, interessiert uns im Westen? Offensichtlich interessiert nicht alle dasselbe.
HaikuHaiku war damals eine überraschende Gelegenheit, sich mit anderen Dichtern zum Haiku auszutauschen und darüber zu lernen – ja, auch von dem, was sie hier und da über das Haiku gelesen hatten, weit mehr aber über die unterschiedliche Art und Weise Wörter sprechen zu lassen und zu verstehen. Das Lesen von Haiku anderer Dichter und die folgende Auseinandersetzung im Forum oder in der Redaktion: Leider gibt es so etwas nicht mehr. Wir haben später in „Haiku heute“ versucht, das fortzuführen, anfangs erfolgreich, aber es ist dann zunehmend verflacht. Das interne Forum der Deutschen Haiku-Gesellschaft und die Facebook-Gruppe haiku-like dümpeln derzeit vor sich hin. Hoffentlich ändert sich das wieder.
An einem Freitag, dem 4. Juli 2003 jedenfalls ging ein Schock durch die deutschsprachige Haiku-Welt. Denn du schriebst: „HaikuHaiku wird eingefroren.“ Wie kam es dazu?
Hans-Peter Kraus: Ich kann mich an keinen Schock erinnern und keine Haiku-Welt;-) Es war im Prinzip ganz einfach: Es gab eine Gruppe von Leuten, die wirklich Haiku schrieben, nur verzeichnete die kaum Zuwachs. Und dann gab’s eine wesentlich größere Gruppe mit viel Fluktuation, die Dreizeiler raushauten, die nicht darauf hindeuteten, dass sie sich mit Haiku ernsthaft beschäftigt hätten. Ich habe mich zuerst mit dem etwas süffisanten Artikel „Wie man Haiku ruiniert“ (jetzt: https://www.ziemlichkraus.de/haiku/ruinieren.htm) gewehrt, aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr, Dienstleister für solche Leute zu spielen. Kurz gesagt: Stagnation und Überdruss führten zum Entschluss.
Volker Friebel: Ich denke, es wird immer eine kleine Gruppe sein, die sich ernsthaft mit Dichtung beschäftigt. Was die machen kann, ist als solche für andere sichtbar zu sein. Ob es überhaupt möglich ist, andere Menschen für Dichtung zu interessieren, die nicht schon immer interessiert sind (jenseits von der Pflicht in der Schule oder im Studium etwas dazu machen zu müssen)?
Hans-Peter Kraus: Man kann Angebote machen, gute Beispiele geben, Wissen vermitteln, die Leute ein bisschen locken, ein bisschen verführen, aber letztlich müssen die letzten Schritte „von innen kommen“. Und was sich ein Kopf in den Kopf setzt, darüber hat man eh keine Kontrolle. Wenn ein Kopf jedoch meint, er braucht keine Regeln, keine Techniken, Vorgaben sind nur für andere, dann hat er leider verloren.
Volker Friebel: Nach dem Ende von HaikuHaiku wurde nach kurzem Hin und Her Haiku-heute.de als Versuch einer Fortsetzung etabliert, es ging gleichfalls an einem Freitag, dem 29. August 2003 erstmals ins Netz. Und du hast Lyrikmond.de etabliert, eine sehr erfolgreiche Plattform für klassische und gegenwärtige Lyrik. Kannst du etwas über Lyrikmond und seine Entwicklung sagen?
Hans-Peter Kraus: Zuerst gab es noch gedichte-fuer-alle-faelle.de. Diese Website ging 2006 online. Das war ein Gemeinschaftsprojekte mit jemandem, der Germanistik studiert hatte, bei dem auch die redaktionelle Verantwortung lag. Ich habe Gedichte beigesteuert, eigene und gemeinfreie aus alten Büchern, und alles andere gemacht (Gestaltung, Programmierung, Suchmaschinenmarketing). Als die Zusammenarbeit nach einigen Jahren ziemlich knarzte, bin ich als Textlieferant ausgestiegen. Der Lyrikmond war dann der Versuch, etwas ganz eigenes auf die Beine zustellen. Die Seite ging Anfang 2014 online.
Die Website fuhr von Anfang an dreigleisig. Leser bekamen neue und alte Gedichte nach Themen sortiert. Schreibende konnten sich an Wettbewerben (mit Geldpreisen) beteiligen, und in diesem Jahr ist die alte Artikelreihe zum Schreiben durch einen äußerst ausführlichen Kurs von den Reimanfängen bis zu hypermodernen Gedichten ersetzt worden. Schülern wurden Interpretationen und Hilfen dazu (u.a. ein Lyriklexikon) serviert. Der Besucherzuspruch wuchs langsam aber stetig mit einem Höhepunkt im ersten Corona-Jahr. Dieses Jahr dürften es wieder über eine halbe Millionen Besucher sein, was eine Zahl ist, die man wahrscheinlich nicht bei Lyrik erwarten würde, obwohl noch wesentlich mehr möglich wäre.
Volker Friebel: Eine halbe Million Besucher im Jahr finde ich fantastisch viel. „Haiku heute“ kommt 2023 auf knapp 24.000 mit 85.000 Klicks, dieses Jahr wird es ein wenig mehr – und es steht damit bei Google meist gleich unter dem Wikipedia-Artikel zum Haiku.
Aber Erfolg ist das eine, Interesse das andere. Was interessiert dich an Lyrik und wie würdest du deine eigenen Texte, Lyrik wie Haiku, charakterisieren?
Hans-Peter Kraus: Ich fange mit dem Haiku an: Gedichte, die nur Szenen wiedergeben, die ich unterwegs gesehen oder gehört hatte, habe ich schon geschrieben, bevor ich ernsthafter beim Haiku eingestiegen bin. Von daher war da gleich eine Verbindung. Eine einfache Sprache zu nutzen und den Leserinnen und Lesern etwas nur hinzustellen, auf dass sie sich eigene Gedanken machen können, das rannte bei mir offene Türen ein.
An der Lyrik im Allgemeinen interessiert mich: alles. Ich habe vom gereimten Gedicht mit festem Metrum bis zu den Spielereien der Konkreten Poesie so ziemlich alles geschrieben, vom Barock bis Mitte des letzten Jahrhunderts ziemlich viel an Gedichten gelesen. Meine Ur-Option beim Schreiben sind jedoch freie Verse. So habe ich angefangen Ende der 80er Jahre und das ist immer noch meistens das erste, was mir in den Sinn kommt bei einer Idee für ein Gedicht. Als meine spezielle Eigenart würde ich die Vermischung von Realität und Irrealität nennen, also Gedichte, die völlig Irreales als ganze normale Realität darstellen. Da gibt es Verbindungen zum Grotesken oder Schwarzen Humor.
Volker Friebel: Deine Verse, Haiku wie längere Gedichte, verwenden sehr klare Sprache. Ungewöhnliche Satzstellungen als Stilmittel oder Assonanzen, Reime, Alliterationen, Metaphern verwendest du selten. Weshalb? Ist Dichtung nicht auch Musik und Bild? Oder gehören diese Stilmittel nicht mehr in unsere Zeit?
Hans-Peter Kraus: Ich habe schon alles verwendet, was es an Stilmitteln gibt, nur nicht unter meinem Namen. Das begann mit dem ersten großen Gedichtprojekt „Gedichte für alle Fälle“. Wir brauchten Geburtstagsgedichte, da das ein viel gesuchtes Stichwort ist im Netz, und nur wenn man Suchinteressen bedient, kommt man an große Besucherzahlen. Die gemeinfreien Gedichte zum Thema waren etwas altbacken, es gab da auch nicht viel. Also mussten wir selbst schreiben. Und bei Geburtstagsgedichten werden Reime und viel Klingklang erwartet. Also habe ich unter einem Pseudonym solche Sachen geschrieben und später auch das Spektrum des Pseudonyms erweitert.
Ansonsten hast du recht, ich bevorzuge im Gedicht eine klare Sprache, auch wenn die Inhalte manchmal etwas verwirrend oder gar irre sind. Ich halte Unverständlichkeit nicht für ein Qualitätsmerkmal. Es gibt diese schlechtgelaunte Unterscheidung von Brecht in profane und pontifikale Lyrik. Ich bin eindeutig auf der profanen Seite gebaut, wo eben immer die Gefahr besteht, zu platt, zu prosaisch zu werden. Dafür sind die Pontifikalen Schuld daran, dass Leute meinen, Lyrik müsse „schwierig“ sein, so zumindest mein Vorurteil.
Volker Friebel: Du hast, außer Versen, auch Kurzgeschichten veröffentlicht und ein Buch über Matthias Claudius.
Hans-Peter Kraus: Die Kurzgeschichten waren eine Phase nach dem Haiku, obwohl ich tatsächlich aktuell eine Kurzprosa-Sammlung in Arbeit habe, bei der ich davon ausgehe, das sie keinerlei Leseinteresse wecken wird, aber ich habe gerade Lust, das zu machen. Womit ich bei dem Buch über Matthias Claudius wäre mit dem Titel „Freund Hain. Die einzig wahre Geschichte seiner Freundschaft mit dem Dichter Matthias Claudius. Erzählt von ihm selbst.“ Auch das hat kaum Leseinteresse gefunden, aber ich habe es nicht bereut. Die Reise war schön, wen interessiert Ankommen?
Ich hatte für ein Website-Projekt, das ein Ableger von „Gedichte für alle Fälle“ war, mich freiwillig gemeldet, einen Artikel über Matthias Claudius zu schreiben, ohne zu wissen, was auf mich zukam. Viel mehr als „Der Mond ist aufgegangen, / die goldnen Sternlein prangen“ usw. hatte ich damals nicht von ihm in Erinnerung. Aber wenn man sich mit ihm ein bisschen tiefer beschäftigt, landet man beim Tod, den er Freund Hain nannte. Der Artikel wurde dann doch eher klassisch-biographisch. Was mir bei Matthias Claudius gefiel, war seine Unabhängigkeit. Er machte sein eigenes Ding, egal, ob es Geld oder Anerkennung brachte. Ich habe dann weiter „geforscht“ und daraus ist eine fiktive Geschichte seines Lebens geworden, ein ganzer Roman. Natürlich habe ich schon als Leseratten-Kind davon geträumt, einen zu schreiben.
Das Witzige war: Alles lief wunderbar, solange ich nur schrieb, eines fügte sich zum anderen. Doch sobald ich versuchte, daraus ein „Produkt“ zu machen, ging alles schief. Ich bin wie viele andere Schreibende nicht so dolle in der Eigenvermarktung, hab’s trotzdem versucht, aber es hat halt nicht geklappt. Wie gesagt: Ich bereue nichts, es war eine gute Schreiberfahrung, und das Buch gefällt mir immer noch, was ich mit einem Abstand von zehn Jahren seit der ersten Veröffentlichung nicht als selbstverständlich betrachte.
Volker Friebel: Nun hast du dich entschlossen, im Herbst 2024 ein neues Projekt zu beginnen und dazu HaikuHaiku zu reaktivieren. Es geht um „Kurzgedichte (bis 150 Zeichen) jeder Couleur, thematisch angeordnet“.
Hans-Peter Kraus: Ich hatte etwa 200 Haiku und andere Kurzgedichte, die noch nicht im Netz waren. Ich hatte eine uralte Domain (haikuhaiku.de) und ich hatte eine Idee, wie die Website sich weiterentwickeln könnte, ohne dass ich selbst Unmengen von Texten produzieren muss.
Im Sommer habe ich fleißig programmiert, um eine Basis zu schaffen für eine weitgehend autonome Entwicklung der Website. Das Angebot ist, dass man die Seite (nach drei von mir freigeschalteten Gedichten) selbständig als Veröffentlichungsplattform nutzen kann, inklusive nachträglichem Bearbeiten oder auch Löschen eigener Gedichte. Der monatliche Wettbewerb (Kurzgedicht des Monats) soll für ein bisschen Nervenkitzel oder auch Rückmeldung sorgen. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass man probiert/experimentiert, was mit 150 Zeichen möglich ist. Das ist immer noch ziemlich kompakt, manchmal muss man um jedes Wort kämpfen, aber es geht deutlich über Haiku hinaus.
Volker Friebel: Was wünschst du dir für die Entwicklung des Haiku, des Kurzgedichts, der Lyrik? Was meinst du fehlt oder liegt bei dem, was es gibt, schief?
Hans-Peter Kraus: Beim Haiku bin ich ziemlich altmodisch. Wer versucht, im Haiku all das zu machen, was auch in der übrigen deutschsprachigen Lyrik Verwendung findet, ruiniert seinen etwas exotischen Sonderstatus. Man hat dann dreizeilige Gedichte, die gegen acht-, zwölf-, zwanzigzeilige keine Chance haben, weil etwas magersüchtig gebaut. Kurzgedichte, wobei ich nicht weiß, wo man da wirklich die Grenze setzen sollte, haben mit Sicherheit eine Zukunft, weil die Aufmerksamkeitsspanne beim Lesen immer mehr zurückgeht.
Ich würde mir natürlich wünschen, dass mehr Leute meine Richtung einschlagen, in Gedichten die Realität ins Irreale zu verzerren. Ich habe einiges versucht, zum Beispiele mit Wettbewerben und einer ganzen Website – www.das-poetische-stacheltier.de –, um etwas in dieser Richtung zu erreichen. Einige wenige Dichterinnen und Dichter sind darauf eingestiegen, aber die meisten können oder wollen sich nicht umstellen. Wenn man betrachtet, was der Erste Weltkrieg nach der anfänglichen furchtbaren Jubelphase an Gedichten hervorgebracht hat (Expressionismus, Dadaismus), dann ist die Welt wohl noch nicht kaputt genug, um Gedichte am Rande des Wahnsinns entstehen zu lassen. Aber das wird schon;-).
Zur Person
Geboren 1965 in einer Ruhrgebietsstadt, die es nicht mehr gibt, lebt Hans-Peter Kraus seit 1996 in Essen. Nach einigen beruflichen Wirren von 2004 bis 2021 selbständiger Webdesigner. Seit 2022 freiberuflicher Autor. Erste Haiku Anfang der 90er Jahre, ab 1997 im Internet mit Haiku vertreten. Die Webseiten unter dem Titel HaikuHaiku entwickelten sich zu einer ausgewachsenen Website mit reger Besucherbeteiligung. Mitte 2003 wurde www.haikuhaiku.de eingefroren. Es folgten Webprojekte zur deutschsprachigen Lyrik wie „Gedichte für alle Fälle“ und seit 2014 der Lyrikmond sowie der Roman „Freund Hain“. Im Herbst 2024 ist HaikuHaiku wiedereröffnet worden mit der Erweiterung auf Kurzgedichte aller Art.
Sechs Haiku von Hans-Peter Kraus, von ihm selbst ausgewählt
zwischen den kahlen bäumen
liegen kreuz und quer
die gefallenen
das alte Ehepaar
Hände hinterm Rücken
im Gleichschritt
Herbstabend –
beim Bestatter brennt noch Licht
das neue Jahr beginnt
mit Regen aus dem alten
sonniger Morgen –
in den Kirchenfenstern
spiegelt sich nichts
vor der Praxis der Frauenärztin
ein Mann und
eine Frau
umarmen sich
Sechs Haiku von Hans-Peter Kraus, ausgewählt von Volker Friebel
scharrende Schaufeln
lautlos
fällt weiter der Schnee
Menschen an der Haltestelle
schweigen
warten
vor dem Sitz des Weltkonzerns
die Rasenfläche
durchsetzt mit Erdhügeln
ein Regentropfen
lässt die Fische im Teich
auseinanderspritzen
die Witwe
nun sind auch
ihre Haare schwarz
eine perfekte Schneeflocke
landet auf dem Dachfenster
und schmilzt
Verweise
Kraus, Hans-Peter (2017): Das Knospen-Buch. Haiku und andere Kurzgedichte. Berlin: epubli. Hardcover: 154 Seiten, 16,50 Euro.
Kraus, Hans-Peter (2020): Freund Hain. Die einzig wahre Geschichte seiner Freundschaft mit dem Dichter Matthias Claudius. Erzählt von ihm selbst. Essen: Edition Lyrikmond, Hardcover: 276 Seiten, 14,80 Euro.
Netzpräsenzen von Hans-Peter Kraus:
https://www.haikuhaiku.de
https://www.ziemlichkraus.de
https://www.lyrikmond.de
https://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de
https://www.das-poetische-stacheltier.de
Haiku und Texte zum Haiku von Hans-Peter Kraus sind in seiner Sammlung „Das Knospen-Buch“ sowie auf seinen Netzpräsenzen www.ziemlichkraus.de/haiku/index.htm und im „neuen“ www.haikuhaiku.de sowie auf seiner Mitarbeiterseite bei Haiku heute (www.haiku-heute.de/mitarbeiter/hans-peter-kraus) zu lesen.
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