Tanka-Prosa von Ingrid Kunschke
Vergißmeinnicht
Ich habe etwas entdeckt, das es mir erleichtert, im samstäglichen Getummel Besorgungen zu machen: In einem tiefen Hauseingang zwischen Ober- und Unterstadt steht neuerdings eine Blumenfrau. Ihre Augen sind wasserfarben. Ihre Haut ist durchscheinend, das Haar, ein Bubikopf, nahezu weiß. Einen Stand braucht sie nicht; sie hat ja nur das eine Sträußchen dabei. Kommt man von oben heran, sieht man sie nicht, und auch von unten her kaum – sie steht zu weit in der Türnische drin. Deshalb gehe ich langsam vom Markt her hinauf, bis sie in ihrer scheuen Art doch weiter hervortritt. Still hält sie mir dann ihr Sträußchen entgegen. Aber nur kurz, damit ich’s ihr nicht abnehme.
Um Vergißmeinnicht
ein Band gewunden, zarter
als ein Flehen –
die vielen blauen Stunden
die ohne Dich vergehen
Heute ist’s also ein seufzendes Sträußchen. Das vorige, mit den Waldanemonen, hat geträumt. Ein andermal waren kräftigere Blumen mit hineingewirkt; die Gebinde erinnern trotzdem immer an blaue Flecken. Die Frau spricht niemanden an. Und ich nehme ihr nicht ab, daß sie dort stundenlang ausharrt, um einen so kleinen Handel zu betreiben. Nein, sie will ihre Blumen nur zeigen, und mir genügt ein kurzer Blick. Jetzt bin ich gerüstet für meinen Gang durch die rastlos summende Stadt.
Luft
Das ist kein Kartentrick: Die Wände des stickigen Zimmers, durch das ich mich im Traum schleppe, zerfallen in einem Wirbel kleinster Schnipsel. Von jetzt an träume ich mir einen luftigen Raum, eingefaßt nur von wenigen Rollos, die aus dem Nichts herunterbaumeln und für Tür und Fenster stehen. Der Wind weht frei hindurch, läßt ihre Schatten träge tanzen. Immer länger rollen sie sich ab, reicher werden die Muster ihrer Stoffe. Was eben noch Leinen war, wird Damast und Brokat, verwandelt sich in leichte Seide und wallt, als wären es Ärmel chinesischer Prinzessinnen, in fließenden Bahnen herab. Kein Material ist kostbar genug, die frische Luft anzudeuten; ich sauge sie begierig ein, weite mich wie der durchwehte Raum. Erleichtert, höre ich endlich auf zu schwitzen.
Beim Frühstück dann die neuen Hitzerekorde. Und wie immer zwei Stullen, dazu Tee und je zwei, einen und zwei Hübe vom braunen, lilanen und blauen Asthmaspray.
Aus Übersee
ein Päckchen vielleicht
darin ein Fächer:
welche Kühle würde mir
schon beim Öffnen zuteil
Einzelne Tanka und eine Sequenz von Ingrid Kunschke
Heute im Regen
treten sie deutlich hervor,
Farben und Adern
der Kiesel am Weg
zur Intensiv-Station
Drei, vier Möwen
scherten am Fenster vorbei
und eine sah
bange zu uns herein –
so wollt es mir scheinen
Genau der Vater
wie gern ich das hörte;
genau wie er
trag ich meine Wunden
nicht offen zutage
Der Ruf
Du Dreckchinese!
der mich
die Akazien blühten
so unerwartet traf.
In der Sonne
platzen Kiefernzapfen
knisternd auf,
lasse ich nach und nach
meine Gespenster ziehen.
Vorbei
Tag für Tag
fahren die Züge vorbei
werfen Reisende
matt einen flüchtigen Blick
auf was ich liebgewonnen
Tag für Tag
eilen die Züge vorbei;
im Schlaf noch
bin ich denen nah
die unterwegs sind
Tag für Tag
gleiten die Nebel vorbei
und jene
die hierher gebracht
in die Stille einzugehn
Tag für Tag
betören diese Hügel
wo sie damals
denn Arbeit macht frei
leicht fährt man vorbei
Tag für Tag
backe ich das Brot, streue
das Salz
stehn kupfern die Wälder
an den Hängen
ist zu laut ist zu leise
das Gellen der Geleise
Ersteinstellung: 10.09.2006