Variationen, Zitate und Anspielungen im Haiku

Ingrid Kunschke

 

In seinem Aufsatz Haiku no zento („Die Zukunft des Haiku“, 1892) wies Masaoka Shiki auf die „leicht erschöpfbare Form des Haiku“ hin:

Mathematik betreibende heutige Gelehrte sagen: „Da das japanische Waka und Haiku in einem Gedicht nur wenig über zwanzig oder dreissig Silben besitzt, erkennt man die Beschränkung ihrer Zahl, wenn man nach dem Prinzip der Permutation rechnet. Mit anderen Worten: es wird eines Tages soweit kommen, dass das Waka (besonders das Tanka) und das Haiku diese Grenze erreichen, und dass man nicht mehr ein neues Gedicht machen kann. (…)“ [1]

Shikis Erwartung, das Haiku werde sich noch vor Ende der Meiji-Zeit erschöpfen (und zwangsläufig der Wiederholung anheimfallen), minderte seinen Einsatz für das Genre nicht. In der Folge hat sich der Horizont der Haiku-Dichtung sogar noch erheblich geweitet. Dennoch findet man häufig Verse, die sich gleichen. Nun beruhen Variationen weder auf der Erschöpfung der Form noch ausschließlich darauf, daß den Autoren bereits vorhandene ähnliche Haiku nicht bekannt waren; mangelndes Haiku-Verständnis, der Volkspoesie-Charakter des Genres und nicht zuletzt literarische Motive tragen ebenso zu ihrem Auftreten bei. Ich zitiere noch einmal Shiki:

„(…) Seit alters hat man Zehntausende von Waka und Haiku gedichtet. Sie alle erscheinen auf den ersten Blick hin in ihrer Weise verschieden, und doch gibt es in der Tat viele, die sich ähnlich sind, wenn man sie eingehend betrachtet und in die Breite vergleicht. Die Schüler gingen andere Wege als die Lehrer, und was die Nachkommen dichteten, war von den alten Weisen abgeschrieben. Diejenigen unter ihnen, die sich bemühten, den Stein in einen Edelstein zu verwandeln, bewirkten Geschicklichkeit; und diejenigen, die aus dem Dreck die Maden pickten, bewirkten Ungeschicklichkeit. (…)“ [2]

Wer in der Haiku-Dichtung unerfahren ist, orientiert sich gern am Werk klassischer Meister oder erfolgreicher Zeitgenossen. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern daraus nur Neues entsteht. Man kann sich an verschiedenen Stilen versuchen, um den eigenen zu finden, und gelungene Haiku variieren, um daraus etwas zu lernen – vorausgesetzt man ist sich darüber im klaren, daß ohne Authentizität letztlich nur schale Kopien entstehen. So kränkelt eines meiner ersten Haiku

Weiße Schaumkronen
entsteigen dem Wellenspiel.
Ein Schwarm Möwen.

wie ich mir längst bewußt bin, an der abgeschmackten Verfremdung von Moritakes „Ein Blütenblatt, / das zurückkehrt an seinen Zweig? – / Ein Schmetterling!“ [3]. Für einen überzeugenden Vers braucht es eben mehr als den Griff in die Trickkiste: Wer den Meistern folgen will, ahmt ihre Haiku nicht nach; er versucht sie zu durchdringen und sich das Streben nach poetischer Wahrheit, das ihnen zu Grunde liegt, zu eigen zu machen.

In der Diskussion um die Originalität sollte man sich vergegenwärtigen, daß Haiku-Dichtung Volkspoesie ist und daß aufrichtig Empfundenes – und sei es vorher noch so oft ähnlich formuliert worden – in jedem neuen Vers seine Berechtigung hat. Die zahllosen Haiku zum ersten Schnee brauchen einen nicht davon abhalten ein weiteres zu dichten. Nur: Wer an einen Text Ansprüche stellt, die über das rein Private hinausgehen, sollte genau abwägen, ob er etwas Bereicherndes bringt. In meinem Schnee-Vers

Hierhin und dorthin,
sogar aufwärts fallen sie,
diese Schneeflocken! [4]

geben genaue Beobachtung und glaubwürdig umgesetzte ausgelassene Stimmung dem ansonsten konventionellen Haiku eine lebendige Note. Sowenig bedarf es mitunter, damit ein x-tes Haiku über Schneeflocken nicht als überzählig empfunden wird. Man muß es mit der Originalität und Tiefsinnigkeit ja nicht immer auf die Spitze treiben: Natürlichkeit, Lebendigkeit und der durchaus legitime Wiedererkennungseffekt („Ja, genau so ist es!“) stehen einem Haiku gut zu Gesicht. Was aber, wenn es nicht bei der Variation eines häufigen Sujets bleibt, wenn Wortlaut, Idee oder Stimmung einem anderen Haiku auffallend gleichen?

Es dürfte aufschlußreich sein zu betrachten, wie sich japanische Dichter der Klassik, die uns westlichen Individualisten doch recht variantentolerant erscheint, zum Thema äußerten. Da fällt zunächst auf, daß es bereits zu Zeiten der Waka-Dichtung, in der (neben vielen wunderbaren Versen) schablonenhafte Waka zuhauf entstanden, detaillierte Regeln für das Machen von Anleihen gab. In seinem Kindai Shūka (1209) schreibt Fujiwara Teika zu dieser honkadori genannten Praxis:

„Wenn man aus einer Verehrung des Alten Gedichte der Vergangenheit umdichtet, indem man ihre Worte etwas verändert, so heißt das, (diese Gedichte) als ‚Vorlagegedichte‘ (honka) behandeln (…)“ [5]

Das Wort „Verehrung“ legt nahe, daß das Zitat dem Vorlagegedicht mit Respekt entnommen und nicht leichtfertig verwendet werden sollte. Teika empfiehlt in seinen Schriften u.a. nicht mehr als etwa zwölf (von 31) Lautsilben zu übernehmen und sie nicht für ein Waka zum gleichen Thema zu benutzen. Aus Waka von Zeitgenossen solle man hingegen nicht eine einzige Zeile entleihen, die als das Werk eines bestimmten Dichters erkannt werden könne, egal ob jener noch am Leben oder verstorben sei. Außerdem prägte Teika in seiner Schrift Maigetsushō den Begriff „Ausdrücke die einen Herren haben“ (nushi aru kotoba): Ausdrücke, die aufgrund ihrer besonderen Schönheit oder Originalität als Eigentum ihrer Verfasser betrachtet und deshalb in der Dichtung fortan nicht von anderen verwendet werden durften. Sein Sohn Tameie brachte in Eiga no Ittei eine ausführliche Auflistung solcher Passagen.

Die hier nur kurz angedeuteten Regeln und Tabus scheinen eine Art frühes Urheberrecht zu sein, aber sie waren wohl vielmehr darauf ausgelegt, die Waka-Dichtung vor Stagnation und Aushöhlung zu bewahren – einer Gefahr, die bei häufiger und unsachgemäßer Verwendung solcher Zitate durchaus gegeben ist. Und ein Zweites kommt hinzu: Wie das Vorlagegedicht ein neues Waka bereichern konnte, hätte es auch mit jeder ungeschickten Anleihe einen Schaden davontragen können. Seine poetische Aussage wäre zwar nicht geschmälert worden, aber der Leser würde sich fortan unweigerlich der auf ihm aufbauenden mißlungenen Waka mit erinnern. Intertextualität wirkt in beide Richtungen, dessen sollte man sich auch heute verantwortungsvoll bewußt sein.

Alternativ zum honkadori (wofür nur bestimmte Vorlagegedichte in Frage kamen) gab es die Möglichkeit, dem Gefühlsgehalt des eigenen Waka durch Hinzuziehen eines anderen mehr Gewicht zu verleihen, ihn quasi mit literarischen Mitteln zu belegen. In der japanischen Lyrik wird dem makoto (Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit) und dem Präzedenzfall große Bedeutung beigemessen und so kann ein realer oder eben literarischer Kontext die Glaubwürdigkeit und Intensität eines Verses gewissermaßen unterstützen.

Außerdem waren honzetsu (Anspielungen auf z.B. allgemein bekannte Prosawerke wie das Genji monogatari) gang und gäbe. Als Dichter kannte man seine Klassiker und konnte die Belesenheit seiner Leserschaft (die schließlich selber Waka verfaßte) ohne weiteres voraussetzen. Die Leser rechneten geradezu damit, mit einer Anspielung konfrontiert zu werden, fanden Vergnügen daran, sie zu entdecken und im neuen Kontext auszukosten. Sogar im täglichen Leben referierte man zu vielen Gelegenheiten klassische Waka – und es galt fast als Beleidigung des Gegenübers, zuviel aus einem Gedicht zu zitieren.

Unter solchen Umständen konnten Anspielungen subtil sein und dennoch besser greifen als in der heutigen Situation, wo die Leser einen unterschiedlichen Bildungsstand haben und noch dazu nicht unbedingt auf sie bedacht sind. Wer heute die Aussage seiner Haiku erweitern möchte, muß nicht auf literarische oder historische Bezüge verzichten, sollte aber – im Bemühen, verstanden zu werden – wiederum nicht zu explizit werden. Eine Anspielung darf Lesern, die keinen Zugang dazu finden, das Haiku nicht eintrüben; ein Zitat darf nicht als Fremdkörper erscheinen. Mein Haiku

Frühlingsspaziergang.
Abseits des Weges rascheln
Eiche und Linde. [6]

gibt keine Rätsel auf. Es macht auch Sinn für den, der die Anspielung nicht entdeckt. Wer allerdings in „Eiche und Linde“ (die in der Natur gern die Nähe des anderen suchen) Philemon und Baukis aus der Griechischen Mythologie erkennt, wird das Haiku mit mehr Gewinn lesen.

Wie die Waka-Dichter vor ihnen, bezogen die Haikai-Dichter der Edo-Zeit sich bei Anspielungen auf klassische Waka und Prosa, sowie auf Werke der chinesischen Literatur – und zwar weitaus häufiger als auf Verse des eigenen Genres. Haikai-Verse, deren Inhalt, dichterisches Empfinden und Form sich glichen, nannte man tōrui. Wiesen sie bei gleicher Form einen anderen Gehalt auf, wurden sie als dōi dōsō bezeichnet (gleicher Sinn und gleicher Herd oder gleiches Nest). In einem Kapitel des Kyoraishō heißt es:

Ich, Kyorai sprach: „In der Schule Bashō gibt es das, was man als gleichen Sinn und gleiche Herkunft bezeichnet. Das ist ein ku, welches wiederum im Sinne eines ku der von früheren Dichtern geprägten Form nachgedichtet ist. Zum Beispiel dichtet man:

Sao ga nagakute
mono ni tsukayuru

Lang ist die Bambusstange
und hier und dort stößt sie an.

als

Katana no kojiri ga
shōji ni sawaru

Der Schwertschneidende Metallschmuck,
Schaden bringt er den Fenstern.

(…) Ein ku gleicher Form ist keine Großtat. Jedoch, übertrifft es ein solches eines Kollegen, das wiederum ist eine Leistung.“ [7]

Hier handelt es sich eindeutig nicht um eine Anspielung oder das bewußte Übernehmen von Teilen des Wortlautes. Die Idee hinter den Versen steht zentral. Ein anderes Beispiel [8]:

Kashi no ki no
hana ni kamawanu
sugata kana

Der Eichenbaum,
aus Blumen macht er sich nichts,
so ist seine Art.

Bashō

Kiri no ki no
kaze ni kamawanu
ochiba kana

Die Paulownia,
um den Wind nicht kümmert sich
ihr fallendes Laub.

Bonchō

Die von der Bashō-Schule gepflegte Kettendichtung lebte von einem assoziativen Vorwärtsschreiten ohne Umschauen, das möglichst viele Facetten des Lebens in das Gesamtwerk einbrachte. Deshalb achtete man besonders darauf, Wiederholungen jedweder Art zu meiden. Dieses Bemühen zeigte sich genauso bei Versen, die nicht Teil eines Kettengedichtes sind. Bashō nahm aus diesem Grund noch auf seinem Krankenlager einige Änderungen vor [9]. Für seine Schülerin Sonojo hatte er den Vers

Weiße Chrysanthemen
so genau man sie anschaut
kein Stäubchen gibt es.

geschrieben. Im nachhinein war ihm dessen Ähnlichkeit mit seinem Vers

Der Ōi-Fluß!
kein Stäubchen auf den Wellen,
– und der Sommermond.

aufgefallen. Er bat Kyorai dieses zu ändern in: „Kiyotaki-Fluß! / In den Wellen fleckenlos / der Sommermond.“ Die Fassung letzter Hand lautet: „Kiyotaki-Fluß! / Auf seinen Wellen verstreut / grüne Kiefernnadeln.“

Die Anekdote weist auf einen wichtigen Aspekt hin: Schwieriger als Übereinstimmungen mit Haiku anderer zu vermeiden, ist es für einen Autor (der selbstverständlich einen eigenen Stil ausbildet und aufgrund seiner Biographie bestimmte Themen bevorzugt) zu erkennen, daß er sich selbst – sei es inhaltlich, sei es was Satzbau, Klang oder Stimmungsgehalt betrifft – zu sehr wiederholt. Auch dies gilt es im Haiku zu vermeiden.

Ob Variationen eines Themas unter bewußter Verwendung eines vorhandenen Haiku oder völlig arglos – vielleicht sogar trotz voraussichtlicher Ähnlichkeit aber mit einem ganz anderen Bezug! – entstanden sind, kann man als Leser kaum nachvollziehen. Je größer die Überschneidungen sind, um so eher wird der Ruf laut, es handele sich um Plagiat. Abgesehen von der Frage, ob ein solches Urteil zurecht gefällt wird, trübt es den Blick für die Vorzüge, die das Haiku trotzdem aufweisen mag. Diese beiden Haiku von Buson variieren ein Thema:

byakuren wo
kiran to zo omou
sō no sama

white lotuses –
seemingly ready to cut one
a monk ponders [10]

shiragiku ni
shibashi tayutau
hasami kana

Vor weißen Astern
Hält eine Weile inne
Die Blumenschere. [11]

Im ersten schwingt die buddhistische Symbolik der Lotosblüte mit und die Spannung wird von einem Farbkontrast (dunkle Mönchskleidung und helle Blüte) unterstützt. Das zweite Haiku wird ganz von der Spannung zwischen Blüten und Schere getragen. Um so mehr sticht die Ähnlichkeit meines viel späteren

Die Rosenschere,
eine Melodie hat sie
zurückgehalten. [12]

ins Auge. Für „Astern“ setze man „Rosen“, für „Hält (…) inne“ denke man „zurückgehalten“ – und die markante Schere kommt ohnehin in beiden vor! Stimmung, Idee und Bild stimmen größtenteils überein, obwohl mein Vers eine reale Begebenheit aufgreift (aber was bedeutet das schon in der Literatur – und kann ich ausschließen, Busons Haiku irgendwann vorher gelesen zu haben?). Was trägt mein Haiku also bei? Es stellt weder Schere noch Blüte zentral, sondern die Eichendorffsche Musik, die im Leser das Bild der ausgesparten, nur kraft ihres Liedes unversehrten Rose entstehen läßt. Diese Musik dürfte allen authentischen Gedichten eigen sein; hier wird sie im Haiku konkret. Liest man nun Busons Haiku erneut, stellt man fest, daß mein Haiku ihnen nichts genommen hat. Es mag aber sein, daß man nun etwas hellhöriger ist für die Melodie, die bereits in ihnen wirkte.

An all diesen Beispielen wird deutlich, daß der Umgang mit Variationen, Zitaten und Anspielungen genaues Hinschauen erfordert, sowohl von Seiten der Autoren, als von den Lesern. Ohne leichtfertiger Nachahmung das Wort reden zu wollen und in der Überzeugung, daß Haiku-Autoren nicht nur variieren sondern neues Terrain erkunden sollten, meine ich, daß man so manchem Haiku eher gerecht wird, wenn man nicht als erstes fragt „Wieviel Wiederholung weist es auf?“ sondern „Wie lebendig ist das Haiku und welchen Gewinn bringt es dem Genre?“. Dann wird sich zeigen, ob der neue Anteil des Haiku etwaige Überschneidungen aufwiegt.

__________________________________

 

[1] Die Haiku-Poetik des Masaoka Shiki, Dissertation von Manfred Hubricht, Hamburg 1954. S. 8

[2] Ebenda. S. 52

[3] Haiku, Japanische Gedichte, Dietrich Krusche, dtv 2000, S. 36

[4] Haiku-heute November-Auswahl 2003

[5] Die Entwicklung der japanischen Poetik bis zum 16. Jahrhundert, Oscar Benl, Hamburg: Cram, De Gruyter & Co 1951. Zitat S. 73

[6] Haiku-heute, Wertungsbericht April 2004

[7] Der Weg des Praktizierens (“Shugyōkyō”) ein Kapitel des Kyoraishō, ein Beitrag zur Poetik der Bashō-Schule. Horst Hammitzsch. In: Oriens extremus I, 1954, S. 203-239. Zitat S. 221

[8] Matsuo Bashō an seine Schüler, Horst Hammitzsch. In: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 44, Nr. 3, 1963/64, S. 33-45. Zitat S. 38

[9] Die folgenden 4 Übersetzungen sind zitiert nach: Shirosōshi, ein Kapitel aus dem Sansōshi des Hattori Dohō, Eine Quellenschrift zur Poetik des haikai, Horst Hammitzsch. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 107, 1957, S. 459-510. Zitat S. 489

[10] The Poetry of Flowering Thorn: The Life and Poetry of Yosa Buson, Ueda Makoto, Stanford University Press, Stanford 1998, S. 54

[11] Haiku, Japanische Dreizeiler. Ausgew. u. aus dem Urtext übertragen von Jan Ulenbrook, Heyne München 1979, S. 105

[12] Erstveröffentlichung bei haikuhaiku.de

 

Ersteinstellung: 26.05.2004