Viel Wind um nichts

Ingrid Kunschke

 

Vor Jahren überkam er mich, der Traum vom Fliegen. Selber etwas flügellahm, entschied ich mich ersatzweise, einen richtig schönen Drachen steigen zu lassen. Anstatt es zuerst mit einem einfachen zu versuchen, machte ich mich sofort daran, einen „Tausendfüßler“ zu bauen. Die wochenlange Beschäftigung mit Peddigrohr, Bambus und dünnem Papier gipfelte in einem überwältigenden Flug. Nach 30 Sekunden folgte die Bruchlandung.

Was hat dieses Malheur mit Haiku schreiben zu tun? Folgendes.

Ich hatte mich gewissenhaft an die Bauanleitung gehalten, hatte viele Stunden mit widerspenstigem Material und hochfliegenden Plänen im Bastelzimmer verbracht. Heute weiß ich, weshalb es nicht funktionieren konnte: Ich hatte versäumt vom Wind zu lernen.

Denn so baut man Drachen, und so schreibt man auch Haiku: Nicht selbstverliebt im stillen Kämmerlein, nein, man geht hinaus mit offenem Geist und wachen Sinnen. Sein Ego läßt man vorsorglich an der Garderobe hängen, um der Welt begegnen zu können, wie sie ist. Haiku schreiben erfordert eben mehr als Technik. Vielmehr ist es eine Art im Leben zu stehen, immer bereit berührt zu werden. Was dann in einem zu klingen beginnt, läßt sich erstaunlich leicht in Worte fassen.

Also gehe ich hinaus. Ins pralle Leben, in die Hektik der Stadt oder ins „Vogelparadies“ gleich um die Ecke. Hinaus vor allem aus den Schranken von Anspruchsdenken und Schema F. Die Grundregeln habe ich zur Kenntnis genommen, verinnerlicht und vergessen. Schwieriger ist es schon, zu vergessen, daß ich eigentlich ein Haiku schreiben will … Anfangs noch guter Dinge, schaue ich bald verbissen um mich, lausche wie mit einem Zielmikrophon bestückt dem Leben da draußen, ob es nicht endlich unter meine Haut kriechen will … Ärger wallt hoch. Die lyrische Ausbeute ist gleich Null; umsonst die Stunden im Park! Leicht verdrossen, doch bald aufatmend, steuere ich mein Auto an, schließe auf:

Ich sehe Rot –
an der Windschutzscheibe klebt
ein Ahornblatt.

Also dort war das Tor in die Haikuwelt! Es war immer schon da; ich hatte es mir nur selber zugehalten. Von Anfang an hockten sie im Gebüsch, die Haiku, fertig für den Sprung auf meine innere Leinwand. Behutsam trage ich sie heim, wie kullernde Tropfen auf einem Bogen Papier. Staunen, abwarten, nachschmecken. Und dann, falls die Tinte verwischt ist, hier und dort etwas löschen und nacharbeiten. Aber bitte so, daß es keiner merkt.

Ach, und der Drachen? Manchmal sehe ich ihn fliegen in den Augen meiner Kinder, wenn ich ihnen seine Geschichte erzähle. Für fabelhafte 30 Sekunden. Dann lachen sie, und haben es immer schon besser gewußt.

Mein kleines Mädchen:
das Näschen im Wind, spürt sie
ihren Flügelschlag.

 

Ersteinstellung auf Haiku heute: 08.02.2006
Erstveröffentlichung Anfang 2001 auf www.Ingrids-Haiku.de