Ingrid Kunschke
Porta Westfalica, 30.10.2004
Lieber Volker,
danke für deinen Hinweis auf Winfried Benkels Stelzenhaiku in der Wettbewerbsanthologie „Haiku mit Köpfchen 2004“. Benkels Preishaiku hat mit meinem die Stelzen, den Schatten und die Sonne gemeinsam: ganze drei Begriffe innerhalb siebzehn Silben – das springt ins Auge. Er verlegt die Handlung vom Herbst in den Winter und bringt als neues Motiv das Feld hinein. So etwas ist schnell gemacht. – Wirklich? Betrachtet man es genauer, finden sich weitaus mehr Unterschiede. In meinem
Herbstsonne.
Der Schatten des Mädchens
geht auf Stelzen.
schafft die Herbstsonne deutliche Kontraste, gibt wärmeres, milderes Licht und verrät den räumlichen und emotionalen Standpunkt des (erwachsenen) Beobachters. Das Mädchen befindet sich zwischen ihm und der tiefen Sonne. Ihr langer Schatten bewegt sich hölzern, trifft jedoch bei jedem Schritt schnell und punktgenau auf. Darin spiegelt sich das Ungelenke, Giraffenähnliche eines wachsenden Kindes, das sich ständig mit seinem sich ändernden Körper auseinandersetzen muß. Der genaue Beobachter (es ist sein Herbst!) erkennt in diesem Auftreffen bereits die Kraft und Eleganz der Jugend. Diese Bilder werden – durch die Verbindung von Mädchen und Stelzen – von der Erinnerung an ein Kinderspiel überlagert. Ganz anders in
Auf langen Stelzen
eilt mein Schatten übers Feld –
Dezembersonne
Winfried Benkel
Wichtig: es ist der Schatten der Ich-Person. Es ist ein Schatten, der (erstens weil er eilt und zweitens wegen des mutmaßlichen Alters der Ich-Person) gar nicht von realen Stelzen herrühren kann, auch wenn sie als noch so lang dargestellt werden. Will der Schatten überhaupt eilen können, muß die Person das Feld zur einen und die Sonne zur anderen Seite haben, also weder vor noch hinter sich. Das Feld ist abgeerntet; dieses Eilen ist ein optischer Effekt, viel wahrscheinlicher hervorgerufen durch die Unebenheiten des Bodens als durch hohes Lauftempo. Das Licht der Sonne ist um einiges kälter und wäßriger als im Herbst – das macht den Schatten schemenhafter. Wir haben demnach einen schwachen Schatten auf einem abgeernteten Feld. Und die Sonne geht schneller unter: Eile ist geboten. Ein wunderbares (Lebens-) Winterhaiku!
Trotz der eingangs genannten Überschneidungen mit meinem Vers, weist Benkels Haiku eine entschieden andere Stimmung und Aussage auf. Es ist ein komplett selbständiger Text, der mein Haiku gar nicht als Vorlage brauchte, aber der es nun zu meiner Freude in eine vielleicht wachsende Familie von Stelzenhaiku einbindet. Wie reich und anregend sich das Leben in dieser Familie gestalten wird, das hat jeder nächste Autor in der Hand. Benkel gratuliere ich jedenfalls gern zu seinem Erfolg. Und um bei der laufenden Diskussion um Variationen und Plagiate nicht noch selber unversehens in Teufels Küche zu geraten, sollte ich erwähnen, daß die Zeilen zum Giraffengang und zur Kraft und Eleganz der Jugend schon ähnlich vom Niederländer Ad van Hooijdonk in einem Briefwechsel zu meinem Haiku formuliert wurden.
Herzlich,
Ingrid
Ersteinstellung: 08.11.2004