Empfinden

Ramona Linke

 

An einem Montag Anfang Juni, morgens gegen sieben. Der Himmel ist wolkenverhangen, meine Stimmung gut, doch dann beschleichen mich gemischte Gefühle. Vor Wochen habe ich mich für ein Projekt entschieden – „Starke Mädchen & Couragierte Frauen“. Ich will mit Jugendlichen in das ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück fahren. Wir wollen auf Spurensuche gehen.

Ich möchte mich darauf einlassen.

Die Fahrt verläuft zügig, in angenehmer Atmosphäre. Ich genieße den Blick über die weiten Felder, entdecke Mohn am Straßenrand, Kornblumen. Ab und zu blinzelt die Sonne an einer dicken Wolke vorbei. Die Alleen bauen uns wunderschöne Tunnel.

Ankunft. Wir werden auf dem ehemaligen Lagergelände untergebracht, in Unterkünften, die SS-Aufseherinnen bewohnten. Diese Häuser werden auf Wunsch Überlebender als Jugendherberge genutzt. Von meinem Zimmer kann ich direkt auf den angrenzenden See blicken. Eigentlich mutet alles sehr idyllisch an. Meine Gedanken kreisen um diesen Ort, um das, was hier geschehen ist. Mir ist kalt.

Noch am Nachmittag steigen wir ein, in unser Projektprogramm, wollen keine Zeit verlieren. Einer Führung über das Gelände folgt die Besichtigung einer Ausstellung. Anschließend schauen wir uns den Film „Die Frauen von Ravensbrück“ von Loretta Walz an. Danach sitzen wir noch beisammen, im gemeinsamen Gespräch klingt der Tag aus. Auf dem Weg in mein Zimmer fühle ich eine bedrückende Stille. Der Wind hat sich gelegt, am Nachthimmel ist kein Stern zu sehen.

Ich habe das Empfinden, mich entschuldigen zu müssen, verspüre weder Hunger noch Müdigkeit, noch den Drang, duschen zu wollen. Dieser Zustand hält während des gesamten Aufenthaltes und auf der Heimfahrt an. Ich schließe meine Augen und höre auf das Geräusch des Motors.

Zu Hause angekommen, zieht es mich zu meiner Mutter. Wir halten uns fest und reden über Frauen, Mütter, Mädchen, über Stärken und Schwächen. Allmählich lösen Tränen meine Anspannung.

Abendsonne
am Krematorium
ein Brautstrauß

 

Ersteinstellung: 10.07.2005