Haiku-Besprechung Roswitha Erler

Ramona Linke

 

Ein einziger Blick
im Vorübergehen …
sogar noch im Traum

Roswitha Erler

 

Dieses Haiku hat mich sofort berührt. Es beschreibt die Flüchtigkeit eines Augenblicks und erzeugt einen Nachhall, der tiefgründiger für mich nicht sein könnte.

Eine unverhoffte Begegnung, kein geplantes Date. Vielleicht unterwegs in Eile, in Gedanken an Dinge, die noch erledigt werden müssen.

Es mag gut sein, man treibt inmitten einer Menschentraube aneinander vorbei – oder die Autorin fühlte sich an einem Platz, an welchem sie sich gerne aufhält, unbeobachtet – und plötzlich „ein einziger Blick“.
Man kann in Blicken lesen, wie in einem offenen Buch. Es wird oftmals auch gesagt, dass Blicke Bände sprechen können. Aus der Erfahrung heraus möchte ich hier anmerken, dass es Blicke gibt, welchen man im Nachhinein nie mehr ausgesetzt sein möchte oder andere, nach denen man sich sehnt.

Hier wird ein Moment des Tages beschrieben, der sich eingegraben hat – vielleicht zeitweise in Vergessenheit geraten ist, aber der die Autorin dann doch noch über das Einschlafen hinaus beschäftigt. Ein Blick wurde im Moment des Geschehens bewusst wahrgenommen – vielleicht wurde versucht, ihn zu verdrängen oder er hat sie die restliche Zeit, bis zum Schlafengehen, nicht mehr losgelassen. Oder ganz anders – die Autorin sitzt gedankenverloren auf einer Bank im Park, tagträumt und spürt wieder „diesen Blick“.

Blicke können bewirken, dass einem das Herz quasi zum Hals hinausschlägt, oder man spürt einen eigenartigen Druck in der Magengegend, wenn man an sie denkt, negative als auch positive Blicke.
Ich wünsche der Autorin, dass es einer der Augenblicke war, nach denen man sich sehnt und von denen man gerne träumt.

 

Ersteinstellung: 07.08.2006