Ramona Linke
„wir sehen uns“
und nimmt die dunkle Brille
nicht ab …
Norbert Stein
Wenn ich das Haiku lese, fallen mir die Worte: „Man sieht sich!“ ein. Diese werden ausgetauscht, wenn man unverhofft auf Freunde oder Bekannte trifft, es eilig hat und aus dem Grund kurz angebunden ist. Zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit, beim Joggen oder Einkaufen.
„wir sehen uns“ – diese drei Worte haben für mich eine ganz andere Intensität. Ich persönlich gehe beim Lesen davon aus, dass ihnen ein geplantes Treffen, eine längere Unterhaltung voraus gegangen ist. Und die Sprecherin bzw. der Sprecher nimmt, bevor jeder der Beteiligten wieder seiner Wege geht, die dunkle Brille nicht ab.
Ein emotionales Haiku. Trauer schwingt zwischen den Zeilen. Melancholie. Abschiedsstimmung, ohne Aussicht auf ein Wiedersehen, trotz jener Worte. „wir sehen uns“ – deutet das eventuell darauf hin: ’Es wird sich nicht vermeiden lassen’? An ein Wiedersehen glaubt die Sprecherin oder der Sprecher nicht. So wie die Zeilen dort stehen, haben sie für mich etwas Endgültiges. Es ist alles gesagt, so, dass man sich in Zukunft zwar noch flüchtig sieht, notgedrungen vielleicht, dann aber vermeiden wird, sich wirklich zu begegnen?
Die Augen werden hinter dunklen Gläsern versteckt, man will verbergen, dass der Gegenüber darin lesen kann. Durch die Brille wird eine Distanz aufgebaut und erweckt den Eindruck, dass die Sprecherin bzw. der Sprecher sie als Selbstschutz benötigt. Dem Angesprochenen wird somit ganz beiläufig und ’cool’ die angebliche Unwichtigkeit seiner Person bescheinigt.
Wenn der Protagonist des Haiku blind ist, wäre dies natürlich eine völlig andere Situation und würde somit eine andere Interpretation nach sich ziehen.
Ein Haiku, das eine bedrückende Stimmung widerspiegelt, mich neugierig macht und sehr zum Nachdenken anregt.
Ersteinstellung: 10.09.2006