Ein Essay aus Briefstellen
Horst Ludwig
Kirschpfanne
die Kleinste erwischt
einen Kern
Roswitha Erler
[…]
„Mich macht die Tatsache, dass sich keinem der Werter der tiefere Sinn erschlossen hat, etwas betroffen. Ich bin davon ausgegangen, dass jedem Vater und jeder Mutter diese Dinge [daß für Kleinstkinder ein bei der Zubereitung der Kirschpfanne übersehener Kirschkern besonders gefährlich ist] in etwa vertraut sind. Jedenfalls bedarf es keiner medizinischen Kenntnisse.
Mir ist aber auch klar, dass ein Haiku, das man erklären muss,
nicht gelungen ist.“
[Roswitha Erler, Reaktion auf den Wertungsbericht zu ihrem Haiku.]
Der letzte Satz ist nicht richtig. So manches gute Stück Literatur bedarf der wissenschaftlichen „Erklärung“, weil eben nicht „jedem Vater und jeder Mutter diese Dinge in etwa vertraut sind.“ Dieses Haiku leidet jedoch durch Kürzung, Kürzung, Kürzung, bis es nicht mehr geht und auf Deubel-komm-raus. Ich bin für die 5-7-5-Form dankbar, weil sie mir Raum gibt, einiges Wichtige auch zu sagen:
Wieder Kirschpfanne! –
Ausgerechnet die Kleinste
erwischt einen Kern.
wäre meines Erachtens ein sehr gutes Haiku! Der Zusatz des Adverbs „wieder“ schadet dem Text überhaupt nicht; es drückt sogar Freude über ein schönes Geschenk der Jahreszeit aus! Und durch das Adverb „ausgerechnet“ kommt einige der Situation doch sicher angemessene Erregung in den Text. Bei all meiner Liebe zu kahlem Realismus: Hier ist der innere Sprecher doch hoffentlich wohl innerlich etwas dabei!
Und auch hier sehen wir, daß Zeichensetzung zur klaren schriftlichen Mitteilung gehört! Sprache ist eben nicht nur eine Aneinanderreihung von herausgestoßenen Wörtern! Zu viele Leute sind da noch vom Expressionismus und seinen Versuchen beeinflußt, von der „Einengung“ durch die überlieferten Satzstrukturen loszukommen. Aber auch die expressionistische Sprache ist nur eine von vielen Möglichkeiten, etwas dichterisch mitzuteilen – wenn sie auch leider für viele die letzte noch gerad so vor dem Abitur war, so daß diese Leute glauben, sie sei die modernste und deshalb Alles-andere-hinter-sich-Lassende.
Die Bewegung Expressionismus ist jedoch schon fast 100 Jahre alt und damit gar nicht mehr so modern! Und bei den echten Expressionisten galt ja schon zu deren Lebzeiten die Einsicht: „Man kann nicht sein Leben lang Expressionist sein!“
Deutsch mit richtiger Zeichensetzung zu schreiben ist übrigens viel schwerer, als sich nicht um sie zu kümmern! Und für deutsche Haijin zieht da auch nicht der Hinweis, daß die Japaner ja auch keine Satzzeichen verwendeten. Denn das, was bei uns die rein graphischen Satzzeichen beinhalten, wird im Japanischen mit lautlichen Partikeln ausgedrückt. Und was für unsere Kultur der Expressionismus ist, nämlich eine Kunstperiode, findet nicht im geringsten seine japanische Entsprechung in der gesamten Haikukultur da. Die versteht das Haiku nämlich als wenigstes einfach als eine Lyrikform und hauptsächlich als eine seit langem überlieferte Lebenseinstellung, als einen „Weg“, dem diese Lyrikform den gemäßen sprachlichen Ausdruck verleiht.
Ersteinstellung: 10.09.2005