Von Haiku, Tanka, Ghazal und Symbiotischer Poesie
Werner Reichhold im Gespräch mit Gerd Börner
Gerd Börner: Die Rezeption des Haiku hat in vielen nichtjapanischen Sprachen – über den Schatz der kongenialen Übersetzungen hinaus – Nachahmungen hervorgebracht. Vor dem Hintergrund der anderen Sprachen, der anderen Klimazonen, einer anderen Kultur und Spiritualität haben sich äußeres bzw. inneres Regelwerk und die Thematik stark verändert. Sie sprechen in Ihrem kürzlich veröffentlichten Aufsatz über die deutsche Haiku-Szene (1) von einer ermüdenden Rückbeziehung auf japanische Vorbilder und warnen vor einer Lähmung durch Wiederholung von längst Bekanntem und Verarbeitetem. Wie schätzen Sie die Rezeption der japanischen Genres außerhalb Japans ein?
Werner Reichhold: Der heute angemessene Weg sich über die internationale Entwicklung der japanischen Genres zu informieren, sind die am Markt erhältlichen Bücher und eine Vielzahl anderer Angebote im Netz. Deutsche Autoren haben sehr lesenswerte Gedichte veröffentlicht. Es kann aber nicht übersehen werden, dass darüber hinaus ein kaum zu bewältigendes Material aus dem englischsprachigen Raum vorliegt.
An dieser Stelle ist ein kritisches Wort am Platze. Es bezieht sich darauf, dass die westlichen Pioniere im Bereich der Vermittlung der Genres gleichzeitig mit ihren geschichtlich relevanten Informationen eine spezifisch japanisch-autoritäre Haltung übernommen haben und diese im Westen durchsetzen wollten. Noch genauer: Die in Japans Literaturzirkeln gegeneinander ausgespielten Methoden, wie denn ein Haiku, Tanka oder Renga geschrieben werden sollte, hatten ihre Bedeutung für die dortige Entwicklung, das steht außer Zweifel. Wenn auch einerseits der Westen dankenswerterweise mit der japanischen Literatur bekannt gemacht wurde, war es jedoch andererseits ein falscher Schritt, das im Japanischen gängige Zählsystem, bekannt unter der Formel 5/7/5, hier in unser Silbensystem übernehmen zu wollen. Teile einer ganzen Generation büßten für diese Fehlleitung. Noch heute ist es in unselbständig reflektierenden Kreisen schwer durchzusetzen, diese aus devoter Haltung gegenüber Japan festsitzende Meinung auszumerzen. Neben der pathologisch anmutenden Zählsüchtigkeit war es auch lange noch die Übernahme von Werten einer anderen, unserer literarischen Entwicklung fern stehenden Kultur, die einer selbständigen Behandlung des Haiku im Wege stand. Die Hörigkeit ging so weit, dass Begriffe wie wabi, sabi und yugen als neu propagiert wurden, obwohl wir in westlicher Dichtung das, was an Bedeutung dahinter zu suchen ist, selbstverständlich immer schon kannten und mit verarbeitet haben.
Wenn wir die kritische Brille noch aufbehalten wollen, dann sei ausgesprochen, dass wir nicht geneigt sind, lediglich irgendwelche Formvorstellungen pedantisch zu erfüllen, sondern glauben, dass eine latent vorhandene dichterische Potenz sich Menschen und Medien sucht, die der bestehenden Poesie neue Energien einzuverleiben imstande ist, um sich, wie in diesem Falle, die Entdeckung der japanischen Genres nützlich zu machen. Alles andere ist ein krankhaftes, oft dilettantisches Verhalten derer, die sich aus Mangel an Begabung auf fremde Genres kaprizieren, und das auch noch in dem Irrglauben, damit seien sie automatisch Vertreter moderner Dichtung. Darüber verlieren sie gelegentlich alle Maßstäbe, drängen zu Konferenzen, organisieren Kongresse, um sich über das Notieren von 12-15 Silben die Köpfe heiß zu reden. Wenn schon Treffen gewünscht sind, so besser mit einer Einladung an Kritiker mit Erfahrungen außerhalb der Haiku-Szene. Es darf ruhig mal wehtun, sollte viel kritischer hart auf hart gehen, und nicht nur bei dieser immer wieder geprobten lähmenden Selbstbespiegelung der inneren Zirkel der Haiku-Gemeinde bleiben.
Ich plädiere entschlossen für die Benutzung der jeweiligen Landessprache auf größeren Treffen, plädiere für einen gewissen Stolz das zu präsentieren, was in deutscher Sprache aus japanischen Genres gemacht worden ist. Es darf auch hinzugefügt werden, dass uns mit der Verständigung im Netz eben jene Form der Begegnung offen steht, die kostspieligen, zeitraubenden Reisen überlegen ist. Unter denen, die sich als Schriftsteller sehen, ist eine familiäre Atmosphäre eher unüblich, ja unzuträglich, und zwar darum, weil die tatsächlich bestehenden individuellen Ausprägungen viel zu stark sind, um sie in einer eher peinlich geförderten Nähe wirksam werden zu lassen.
Gerd Börner: Über den deutschen Tellerrand geschaut: Wie beurteilen Sie ganz allgemein die Integration von Dichtung unter Einbeziehung der japanischen Genres in die nationalen Literaturen?
Während des Ersten Europäischen Haiku-Kongress in Bad Nauheim in Deutschland bedauerten übereinstimmend die Vertreter der anwesenden Länder die Ignoranz des offiziellen Literaturbetriebes dem Haiku gegenüber. Und speziell: Warum tun sich das deutsche Feuilleton, die Kritik und die zeitgenössischen Anthologien so schwer, das deutschsprachige Haiku als eine neue Form von Lyrik zu akzeptieren?
Werner Reichhold: Ich bin Ihnen dankbar, Herr Börner, dass Sie diese Fragen stellen. Meine Antwort geht davon aus, dass ich den Begriff „nationale Literaturen“ seit geraumer Zeit – mindestens seit dem vergangenen Jahrhundert – als ins Schwanken geraten betrachte. Der tatsächlich sichtbare Einfluss der durch frühe Übersetzungen zu uns gelangten japanischen Genres kam mit den amerikanischen Imagisten. Sie waren es, die westliche Lyrik bis hin zur free-verse-Dichtung aus dem zunehmend romantischen Liebesgefasel herausgeführt haben. Was im Mainstream und damit gleichzeitig von der Kritik noch nicht voll erfasst ist, das sind die erstaunlichen poetischen Möglichkeiten, die im engen, kontrastreichen Zusammenwirken mehrerer klug gewählter Images zustande kommen können. In der Folge vieler arbeitsreicher Jahre sind es die Haiku-, Tanka- und Rengaautoren, die die Entwicklung des modernen Gedichts wesentlich vorangebracht haben.
Wenn wir jetzt auch noch auf den Austausch im Netz blicken, rückt Ihre Fragestellung zusätzlich in ein ganz neues Licht, ja wörtlich zu nehmen: in das Licht des Bildschirms, also in Energien, die im Licht des Computers ausgestrahlt, augenblicklich den Einfluss literarischer Produktionen aus aller Welt wirksam werden lassen. Dieser Umstand sei hier nur angesprochen. Die polymedialen Konsequenzen daraus zu erarbeiten, wird wiederum Teil unserer schriftstellerischen Arbeit sein. Weil Kritik und Feuilleton, auch international betrachtet, weitgehend abhängige kommerzielle Interessenvertretungen darstellen, können wir uns im Hinblick auf Stellungnahmen zum Einfluss des Haiku nur mit Geduld wappnen. Die Frage lautet, wann und wie entwickelt die Integration japanischer Genres in ihren verschiedensprachigen Ausprägungen jene Kraft, die große Verlage bei uns zum Umdenken bewegen wird.
Dem Aufmerksamen in der größeren Literaturszene kann es kaum entgangen sein, dass auch unter denen, die in free verse oder anderen Formen schreiben, Haiku, Tanka und Renga auf eine heimliche und leider selten eingestandene Weise an Einfluss gewonnen haben. Der eigentliche Geist hinter dieser japanischen Kurzlyrik ist von westlichen Autoren weitgehend verstanden. So findet man bei amerikanischen Schriftstellern gelegentlich in Prosatexten eine raffiniert organisierte Form des Einzeilers mit deutlichem Haikucharakter oder der allen bekannte 3-Zeiler wird so umgestaltet, dass die einmal erlernte Zeilenanordnung, nahezu unkenntlich gemacht, zu ganz anderen Lese-Erlebnissen führt. Man kann das, mit viel Toleranz, als einen weiteren Schritt der Einordnung andersartiger Literaturformen verstehen.
Hierzu sollte darauf hingewiesen werden, dass die seit vielen Jahren wirksame Multimedia-Szene jede Art von Materialien mit literarischen Elementen durchmischt. In den Büchern Handshake, Bridge of Voices und Tidalvawe habe ich unter Verarbeitung der japanischen und anderer Genres meinen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen.
Nahezu eingegraben in die Bewältigung des Haiku haben sich viele, wiewohl nicht alle Autoren der deutschen Haikuszene, eher zurückhaltend an die Form des Tanka heranführen lassen. Welche Kräfte sich in diesem noch immer ruhigen Fahrwasser in Deutschland durchsetzen werden, ist schwer abzuschätzen. Von weitem sieht es so aus, als sei die thematische Bindung an Bekanntes aus Japan ein Hindernis und die Loslösung davon vielleicht ein zu erwartender Schritt. Neues Engagement wäre die Losung, Mut und vielleicht sogar eine gewisse Wut, die Zäune um den zu Tode geleierten Liebesschmerz nicht nur frisch anzumalen, sondern einzureißen. Was dann dahinter als Einsicht und Bewältigung unserer heutigen Probleme deutlich werden kann, das wird die eigentliche Überraschung ausmachen. Diese Überraschung könnte eine Leitfunktion annehmen, die auch auf die anderen Genres belebend ausstrahlen würde.
Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und vermuten, mit einem thematisch und poetisch neu aufgeladenen 5-Zeiler könnte man noch am ehesten einbrechen in die sich abschottende größere Literaturszene. Das Ziel wäre eine räumliche, fünf-dimensionale, vielversige Sprachgestalt, die ihre kontrovers wirkenden Energien gebündelt so vorführt, dass die auf der Lauer nach Lesbarem liegende Interessengruppe, lange überreizt von den rückwärts gerichteten Präsentationen in der Spalte Dichtung der Frankfurter Allgemeinen, deren Regiemeister nichts verhindert, was der Propagierung der japanischen Genres schaden könnte, endlich aufhorchen und neugierig werden lässt.
Noch im Schwung enthusiastisch eingeübter Lerndisziplin während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre ist es vielleicht ratsam innezuhalten, um sich zu vergegenwärtigen, was an Material aus den literarischen Genres Japans zu uns eingeflossen ist, wie wir es zu verarbeiten suchten, in welcher Weise sich unser vorhandenes eigenes Kapital mit den Zuflüssen befreundet hat und was mit Blick auf Weiterentwicklungen in Erwägung gezogen werden darf.
Ja, die Manager der Haikuszenen in Europa und in den U.S.A. haben es sehr lange versäumt zurückzublenden, den Blick auf andere literarische Entwicklungen zu richten und die sich dabei anbietenden Parallelen aufzuzeigen. Da war nicht nur Scheu oder Unwissen beteiligt, sondern Furcht der Pioniere und Übersetzer, die in nahezu obsessiv ausgerichteter Manier glaubten, sich von der größeren Literaturszene ihrer Länder absetzen und isolieren zu dürfen. Die von innen heraus wirksamen Korrekturkräfte des Internet endlich halfen diese Schieflage zu korrigieren.
Gerd Börner: Viele zeitgenössische Essayisten im Westen sehen den Reichtum der japanischen Genres in ihren rein literarischen Wurzeln und unabhängig vom Zen-Buddhismus. Ist aber nicht gerade das allumfassende Lebensprinzip von Pluralismus und Koexistenz in Philosophie, Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur allen Weltreligionen immanent und wegweisend für unsere Dichtung?
Werner Reichhold: Ja, das ist richtig. Aber wir beobachten, und dazu neige ich selber auch, dass wir uns mit dem ZEN-Denken einem viel tiefer reichenden Phänomen gegenüber sehen. Wenn Christen sich dadurch auf ein buddhistisches Gleis verschoben wähnen, irren sie. Zwischen der christlichen Lehre und ZEN bestehen tief am Grunde wesentliche Gemeinsamkeiten. ZEN ist zwar im Buddhismus zu Hause und dort tief verankert, aber der eigentliche Geist des ZEN vermittelt sich jenen als überaus künstlerisch fruchtbar, die sich in diese Denkrichtung hin öffnen. Und hier komme ich zurück auf das, wovon wir vorher sprachen: Nämlich mit dem aus Japan zu uns überkommenen frühen Haiku ist auf geheimnisvolle Weise, für viele Leser unmerklich, eine überaus hochentwickelte, lange kultivierte innere Haltung überbracht worden. Und richtig: „das Medium ist die Botschaft“. Verpackt in eine Kurzform enthalten die sehr frühen haikai das Geheimnis einer sich über weite Teile der Welt verbreitenden Einstellung – bei uns bekannt gemacht als das ZEN-Denken. Wenn es das Haiku im Westen als Terminus vielleicht schon lange nicht mehr geben mag, wird dagegen die im ZEN schlummernde Nachricht noch lange fortwirken. Eine eher seziererische kleine Gruppe von Amerikanern möchte das leugnen und das ZEN in der japanischen Ausprägung des Haiku für nicht mehr existent erklären oder für abgetan erklären. Noch immer existiert diese kleine Gruppe von Schriftstellern, die, so oder so verkappt, im Verhandeln von Natur und Dichtung für eine Zensurmethode eintritt. Sie haben sich zwar klammheimlich von dem Wort Senryu distanziert, unterscheiden aber weiterhin zwischen einem puritanischem Haiku und dem Dreizeiler mit menschlichen Aspekten.
Vom Standpunkt unserer wissenschaftlichen und künstlerisch relevanten Erkenntnisse hergeleitet, sind solche Unterteilungen eine Unmöglichkeit. Ihre Vertreter sitzen auf einem selbst angesägten Ast; es knistert vernehmbar. Wer zur gegenwärtig wirksamen, größeren japanischen Literatur- und Kunstszene Zugang hat, der wird herausfinden, dass ihre wichtigen Repräsentanten dort überwiegend das unteilbare Gesamtkonzept dessen, was wir Natur nennen, verbindlich akzeptiert haben.
Gerd Börner: Zum Ende des 19. Jahrhunderts begann mit Yosano Tekkan das Zeitalter des modernen Tanka. Es erlöste sich von den starren Regeln und thematisierte mehr und mehr auch die Ereignisse der menschlichen Umwelt und der modernen Gesellschaft. Sie sind selbst auch ein engagierter Freund und Autor der Tanka-Dichtung. Welche poetischen Möglichkeiten eröffnet die Tanka-Dichtung und welche Rolle spielt das Tanka international heute bei den Autorinnen und Autoren, die dem breiten Spektrum der Kurzlyrik zuzurechnen sind?
Werner Reichhold: Wenn es stimmt, dass jeder Einzelne die Sprache entwickelt, die er gebrauchen kann, dann bietet sich die Form des Tanka an. Ich versuche hier, den Blick auf die Entwicklung in den U.S.A. zu lenken. 1989 kam eine Bewegung in Gang, die zunehmend an Profil gewonnen hat. Wie kam das? Darauf gibt es eine einleuchtende Antwort: Das Tanka erreichte die Vereinigten Staaten und Kanada als Poesie und litt nicht darunter, wie vergleichsweise das Haiku, sich missbraucht als Wanderzirkus für Regelwütige in Pose setzen zu müssen. Es kann nicht schaden, sich zu wiederholen: Das Tanka kam und siegte mit seinem Erscheinungsbild als reine Poesie.
Sicher ist es kein Zufall, dass es in den U.S.A. eine Frau gewesen ist, Jane Reichhold, die anfangs mit dem Magazin Mirrors und später mit LYNX in überzeugender Einfachheit die Tanka-Form erklärte, fremde und eigene Beispiele vorstellte und im Handumdrehen einen größeren Kreis von Autoren anregte, sich mit dem neuen Genre ernsthaft vertraut zu machen. Reibereien und Beinsteller-Taktiken haben wir nicht nur nie im Magazin zugelassen, sondern sanft und schnell in die Richtung produktiv wirkender Energien umgeleitet. Das japanische Kaiserhaus, das stets aufmerksam eine Hand am Puls der kulturellen internationalen Entwicklung hält, hat das beobachtet, wahrgenommen und uns dafür mit großer Geste gedankt.
In den Staaten verbreitete sich, voraussehbar, so etwas wie eine krätzeartige Nervosität unter den 3-Zeiler-Besessenen, die ahnten, hier könne mit der Einübung der Tankaform eine Nebenbuhlerin auf den Plan treten, die der Haiku-Industrie sachte aber beständig das Wasser abgraben würde. So kam es dann auch: Gesagt, getan, und sozusagen parodierend ausgedrückt: vom Einsprung in den Barren, dann in die Kippe hoch zum Stand (dem pivot, oder der Mittelzeile), Umgriff zum Spagat und in die Rolle vorwärts turnten sich die Tanka-Enthusiasten in eine ganz und gar poetisch orientierte Welle. Ein Virus war freigesetzt, spielte seine guten Ansteckungsqualitäten aus und erlebte dann im Netz, wie schon zuvor die räumlich ausgreifenden kollaborativen Arbeiten es vorgemacht haben, nicht mehr die Einschränkung eines Platz sparenden Papier-Magazins.
Es schien nicht vermeidbar, dass das Tanka in seiner Entwicklung der letzten Jahre im Westen leicht in die Zone reiner Sentimentalität abzurutschen drohte. Dem gilt es jetzt energisch gegenzusteuern. Ansonsten wären die Personen, die mit dem Haiku aufgewachsen sind und sich ihrer Gefühle entledigen mussten, jetzt verführt, all das in der Tanka-Dichtung abzuladen, was sie lange meinten unterdrücken zu müssen.
Die 5 Zeilen, die wir hier beleuchten, verfügen über eine sagenhafte Elastizität. Man kann sie in Spiel und Ernst wechselweise belasten und austarieren, nie stöhnen sie auf und fürchten sich vor einem inneren Zusammenbruch mit anschließend zu erwartenden Seelenschäden. Nein, sie halten still, sie lechzen vielmehr nach Geheimnissen, die anderswo noch kein Zuhause gefunden haben. Als reine Poesie und nicht als verzwicktes Regelwerk in den Westen importiert, womit wir vergleichsweise die Möglichkeiten des Haiku bis zum drohenden Erstickungstod gefoltert haben, verhält sich die Form des Tanka einladend, sie lächelt, begrüßt den Gast, den Schreibenden wie den Lesenden mit fünf lässigen, nie devoten Verbeugungen. Seine Botschaft: „Komm herein, ich warte schon. Ich führe in meiner Mitte einen Joker, die zentrale Steuerfunktion, die pivot line. Ich werde sie ausspielen. In ihr liegt alle Kraft der Überzeugung, alle Entfesselung von Poesie, und falls sich die zwei oberen mit den zwei unteren Zeilen in Gegensätzen zerstreiten sollten, weiß ich die Richterin zu spielen.“ Der dieser faszinierenden Form Zugeneigte kann feuchte Finger bekommen, wenn es ihm gelingt, die unter seiner Gestaltung sich biegenden Kontraste, Orts-, Personen-, Zeiten- und Stimmungswechsel so zu verschränken, dass, wie in anscheinender Selbstorganisation des Ganzen, sich ein Kurzgedicht erster Qualität entpuppt.
Es ist eine bestechende Konstellation: Man jage die Komponenten eines 5-zeiligen Verses mit solcher Mobilität durch den Ring, dass sie beim kalkulierten Zusammenprall über das Pivot, dem Katalysator, die ihr innewohnende Substanz erkennbar freisetzen. Wer sich im Trainingslager für Fünfzeiler schnell nach oben bringen möchte, der mache sich diese Methode des Komponierens zu eigen: Man entkleide ehemals konventionell behandelte Zusammenhänge, entfalte eine neue, mit sich selbst flirtende Logik, unterstelle sie dem Prinzip der Simultaneität widersprüchlich erscheinender Zusammenhänge und gebe diesem Mix in fünf Zeilen jene Aufstauung von Energie, die der Leser in sich selbst zur Zündung zu bringen wünscht. Der neue Fünfzeiler gehört den Waghalsigen. Von ihnen hängt es ab, ob sich die Form in der westlichen Literaturszene unter neuen Sternzeichen einzurichten vermag. Die Milchzähne der Probejahre sollten ausgefallen, ausgespuckt oder verschluckt sein. Gefragt ist der neue Biss.
Es hat sich eingeschlichen, das Tanka so zu sehen als sei es ein einzeln für sich stehender Vers. Aber wie jeder andere Vers in der weltweiten Literatur ist diese Versform für größere Kompositionen wie geschaffen und erfüllt erst durch Verscollagen die Forderungen, die wir an ein längeres Gedicht zu stellen gewohnt sind.
Gerd Börner: Es ist nicht nur die japanische Kurzlyrik, die außerhalb ihrer Ursprungskultur Freunde gefunden hat: Ich habe Ihre Informationen zum Regelwerk der Ghazal-Dichtung und Ihre Definition nach dem Ghazal-Dichter Arshad Jamaal zu diesem Genre gelesen. Sehen Sie im Zusammenhang mit dem Freiraum, den Sie für das Haiku einfordern, einen Widerspruch zum strengen Regelwerk des Ghazal oder hat sich auch die moderne Urdu-Poetry aus den traditionellen Zwängen gelöst?
Werner Reichhold: Dichter aus den Ursprungsländern des Ghazal halten bis heute am alten Regelwerk fest. Autoren im Westen haben dagegen vor allem das Prinzip des Parallelismus beibehalten. Wollen wir die bestehenden kulturellen Brücken ins Auge fassen, dann ist das Ghazal ein Kind des arabisch-persischen Sprachraums. Es wurde und wird noch heute von Indien über Pakistan und Afghanistan, im verzweigten zentral-asiatischen Raum, bis hin nach Persien und in die Türkei geschrieben und heiß geliebt. Es hat die anliegenden Kulturen bis nach Deutschland hinauf berührt. Johann Wolfgang von Goethe liebte das Ghazal. Belegt ist, dass Sufis, auch bekannt als wandernde Derwische, bis in den alemannischen Raum in Süddeutschland vorgedrungen sind. Wir dürfen uns vorstellen, dass sie in bauschiger Pluderhose versteckt poetische Botschaften kolportierten. Wie viel Phantasie braucht es, sich vorzustellen, dass ein Sufi und ein Minnesänger ermüdet zusammenfanden, um sich bei einem Humpen Wein auszutauschen? Sehr vereinfacht – Rhythmus, Reim und Refrain des Ghazal hier undiskutiert belassen – ist der zweizeilige Einzelvers im sonst oft acht oder mehrversig komponierten Ghazal dem Tanka verwandt. Er beherbergt ebenfalls kontrastierende, multipolare Merkmale und könnte für sich allein gelesen werden. Das Schlüsselwort des Ghazal heißt Parallelismus. Die Einbindung der Zweizeiler in größere, nicht-narrative Kompositionen entspricht mit seinen Sprüngen frappierend der japanischen Renga-Konzeption, komponiert von nur einer Person, sozusagen einem Solo-Renga.
Bezüglich gegenseitiger Einflussnahme fügen wir ein, dass China und Korea kulturell nie weit voneinander entfernt waren. Sie haben durch Entsendung von Reisenden, oder besser gesagt mit Hilfe von Spionen, die Ohren offen gehalten und, wie man weiß, fleißig nach Japan exportiert. Die fernöstlichen Kulturkreise haben sich stets beneidenswert flink ausgetauscht. Vom zweizeiligen, vertikal geschriebenen Tanka zum horizontal gesetzten Ghazal-Schriftbild führt der Weg nur um die Ecke vom Teehaus zum kreativ auf der Lauer liegenden Nachbarn.
Richtig, das Ghazal gilt als Werk eines einzelnen Verfassers. Der Vergleich zur Gruppenarbeit, wie beim Renga, ist aber nicht weit hergeholt. Hier wie dort spielt die Gemeinschaft eine tragende Rolle, denn auch das Ghazal hat, oder hatte zumindest früher, echten Partycharakter. Man rezitierte singend, tanzend, im Rausch sich steigernder, instrumentaler Begleitung und unter Drogeneinfluss. Ekstatische Zustände unter den Beteiligten in Persien waren die Regel. Wir erinnern uns: In Japan war Sake im Spiel, wenn eine kleine Gruppe bei der Komposition von Renga sich gegenseitig im Erfinden von Versen voll in Schwung zu bringen wünschte.
Gerd Börner: Sie haben 1996 den Begriff der „Symbiotic Poetry“ (Symbiotische Poesie) eingeführt. Sie sagen, Renga und Renku wären nur ein Teil möglicher künstlerischer Zusammenarbeit und deshalb plädieren Sie für die Symbiose der unterschiedlichsten literarischen Genres und deren möglicher Sequenzen. Bitte erklären Sie uns die Faszination von Sequenzen!
Werner Reichhold: Seit geraumer Zeit wird das Einzel-Haiku postuliert. Das hat irreführende Aspekte mit sich gebracht und hat in sich selber seine Tücken. Zum Beispiel basierte Bashos Bekanntheit einst auf seiner Tätigkeit als Renga-Dichter, und das Renga ist eine lange, poetisch durchgestaltete Sequenz. Aus verschiedenen anderen Gründen, aber eben auch aus kommerziellen Erwägungen heraus, sind Bashos Renga auseinander gepflückt und schließlich als „Bashos Haiku“ international serviert worden. Basho selber kannte weder das Wort Haiku noch den Terminus Renku. Die heute vorgenommene Rückkopplung dieser Termini ist ein Spiel derer, die sich mit einem großen Namen verquickt sehen möchten.
Der Einzelvers und die hundert- oder mehrfüßigen Tanka-Wesen aus den Pinseln von Japans Altvorderen sind der Niederschlag von Gefühlen, die man ansonsten persönlich nicht zum Ausdruck zu bringen wusste. Mit einem Kuss aus passender Jahreszeit bedacht und verwoben, schlängelten sie sich thematisch wie kleine Mini-Oden durch die Abenteuer der gehobenen Klassen und spielten mit den dort vorherrschenden Rivalitäten, Träumen, Sehnsüchten und politischen Absichten. In reicher Vielfalt spiegelten sie die kultur- und sozialgeschichtliche Situation dieser Epochen, von denen japanische Dichter und Chronisten glaubten, sie in poetisch verdichteter Form weiter reichen zu sollen. Die Kaiserhäuser hatten beträchtliche Machtinteressen, diese Dichtungen zu unterstützen. Wir kennen die Tanka-Sammlungen im Original oder in englischer Übertragung – versehen mit zauberhaften, oft magisch wirkenden farbigen Illustrationen.
Nicht vom einzelnen Dichter, aber von Lektoren wurden damals schon hunderte, ja bis zu tausend Tanka zu einer Sequenz arrangiert. Das ist ein Beweis für die These, dass das Tanka schon sehr früh als Vers innerhalb größerer dichterischer Formationen weitergedacht worden ist. Die zeitweise große Beliebtheit des Choka gehört ebenfalls hier erwähnt.
In den U.S.A. kam die Haiku-Serie, dann die Tanka-Serie ins Gespräch: In thematischer Anordnung oder jahreszeitlich eingebunden, selten andersartig organisiert. In sich selbst sieht das ziemlich zweifelhaft aus, kennt man doch in anderen Versformen die reine Serie kaum. Der Serie, ihrem Namen getreu, fehlt etwas. Die Serie entbehrt eines übergeordneten Gestaltungssystems. Sie macht den Eindruck als wehre sie sich verbissen gegen ihre eigene Harmlosigkeit. In der Serie schlummert die Ahnung, sie könne nach einem so simplen Prinzip wie der Reihung als längeres Gedicht nie Bedeutung erheischen.
Der Stand der Dinge und die sich verbreitenden Ansichten darüber, was denn ein Gedicht im heutigen Sinne wirklich poetisch auflädt und bleibende Qualität verleiht, hat Anfang des letzten Jahrhunderts in westlich orientierten Kulturen den Begriff der Sequenz geprägt. Das ist eine sehr anspruchsvolle Form, ihre ganze Kompliziertheit sollte man eindringlich studieren. In ihr werden Gestaltungselemente deutlich, die seltsamerweise auch im Renga erkenntlich sind, nämlich die Prinzipien von link, twist und leap, sagen wir des Sprungs. In der modernen Sequenz des 20. Jahrhunderts ist die Technik, Sprünge zu erzeugen, neu belebt und in multi-dimensionaler Denkweise sehr ausgefeilt worden.
Wie aber sind diese Sprünge in Texten und Gedichten von innen heraus zu verstehen, was hat sie begünstigt, etabliert zu werden und was weist zurück auf ihre Entstehung? Werner Hofmann (2), ein Souverän innerhalb der Kunstausstellungs-Strategen, ein Magier, wenn er aus Ärmel oder Hut immer wieder unerwartet Kaninchen hervorzaubert, hat in seinen Schriften zur Kunst immer wieder darauf hingedeutet, dass moderne Künstler aus einer polyfokalen Einstellung heraus arbeiten. Das ist sehr genau erkannt, denn hier haben wir es mit einer Schlüsselfunktion zu tun, mit einem Blick aus unterschiedlichen Winkeln, aus sich vermischenden Perspektiven, die in Konsequenz sich zu mehrschichtigen Werken potenzieren. In der Quintessenz führte das zur Ausbeutung verschiedenster Collagetechniken, in voller Entfaltung zum Surrealismus und dann zur Installation. Wir werden an den Begriff der Polyphonie in der Musik erinnert, an polyphones Hören und Gestalten. Manch anderer Vergleich liegt auf der Hand – und da fällt erneut vor allem der Blick auf das japanische Renga, das die multifokale Sicht als ein beherrschendes Prinzip in sein Kompositionsprinzip vor langer Zeit schon vorbildlich einschloss.
Sowohl Dreizeiler- als auch Fünfzeiler-Sequenzen haben die Möglichkeit, sich – allein oder in Kombination miteinander – in diesen fortschreitenden Prozess wirkungsvoll einzugliedern oder sich dort gleichrangig zu installieren. Sie können – und ich habe das in zwölf verschiedenen Genre-Kombinationen in unseren Magazinen und in Gedichtbänden unter Ahapoetry.com schon vorgeführt – Anschluss herstellen an das, was in free verse voll im Gange ist, nämlich künstlich aufgebaute Schranken um eine Versform abbauen, um dann mit einem Mix aus fernöstlichen und westlichen Genres Neuland zu betreten.
Augenscheinlich haben wir es beim Tanka mit einer Versform zu tun, die den bipolaren, multifokalen Aspekt tief in sich eingebettet trägt. Paraphrasiert darf man sagen, das Tanka zieht seine Leser in den Kampf zweier sprachlich ausgefuchster Gegenüberstellungen, deren Energie unter Mitwirkung des Pivot, der zentralen Zeile, revolutionär vielschichtig wirksam werden kann. Wer dann aus dem Kreis des Publikums seine eigene komplizierte Welt, die Diskontinuität der Ereignisse, eine Mischung aus Trivialem und Feierlichem darin gespiegelt wiederfindet, der wird Liebhaber und Käufer dieser Dichtung zugleich.
Die Poesie, die hier vor unseren Augen im Tanka alle fünf ihrer Glieder gelassen von sich streckt, sonnt sich in ihren sprunghaft erscheinenden Ungereimtheiten gerade in den Bereichen, in denen den Quantenphysikern mit ihrem auf Messbarkeit ausgerichteten Denken die Sprache den Dienst versagt. Mit einem vergleichsweise uralten und zugleich kindlichen Lächeln auf den Lippen lässt sich Albert Einsteins These „nichts sei schneller als das Licht“ ins Schwanken bringen. Hier nämlich ist etwas organisch angelegt und demzufolge also an ein Material gebunden, das in der Tat schneller ist als Licht: der Gedanke. Ja, der Gedanke und seine poetische Ausformulierung entspringen einer alles miteinander verschmelzenden Symbiose auch in den Dimensionen, wo Forscher straucheln, wenn sie das gleichzeitige Erscheinen von Materie und ihre Verschränkungen auch über große Distanzen in ihre alten Konzepte schwer einordnen können. Spekulativ gesagt gibt es vielleicht so etwas wie die „Mathematik des Maßlosen“ in deren Gleichungen der Poet, der Künstler den wirksamen Mechanismen innerhalb der Natur auf die Schliche zu kommen bemüht ist.
Gerd Börner: Das waren interessante Aspekte der Sequenz-Dichtung und ihrer Andock-Funktion bei einem Mix aus fernöstlichen und westlichen Genres. Was aber sind nun die eigentlichen Essenzialien, die aus Textserien, aus gemeinschaftlichem Dichten das Einzigartige einer symbiotischen Poesie werden lassen? Worin liegt die Herausforderung von Symbiotic Poetry?
Werner Reichhold: Wenn noch Geduld für die Fortsetzung unserer Reise vorhanden ist, dann müssen wir ein Ticket buchen für den Flug entlang südlich der Himalayas, über das iranische Plateau hinweg zurück nach Europa, oder nach Auftanken und mit Kurswechsel hinüber in Richtung auf die U.S.A. Da nämlich schwelt die Möglichkeit des gemeinsamen Schreibens von 5-Zeiler-Sequenzen.
Was im Renga als 2- und 3-Zeiler voneinander getrennt zur Wirkung gelangte, das hat im Tan-Renga seine Vorgeschichte. Wir gehen darauf ein, weil hier durch das Engagement zweier Personen genau das zustande kam, was wir an konzeptionell angelegten Spannungen innerhalb von Kurzpoesie heute erwarten. Von hier aus ist es dann ein weiterer Schritt zur Sequenz. Wenn uns der Atem nicht ausgeht, steuern wir gelassen auf das Ziel zu, Fünfzeiler-Sequenzen in Zusammenarbeit von zwei oder mehr Personen zu verfassen. Die Kompassnadel pendelt sich auf Neuland ein, den Passagieren im Boot dieses Unterfangens sind alle erdenklichen Freiheiten anheim gestellt, eine frische Brise bläht die Segel, und nach abrupter Wende bei Rückenwind den Spinnaker zu setzen, sollte die Regel werden.
Wie geht man das an? Darf ich sagen, das sei ganz einfach? Wir setzen voraus, dass wir es hier mit einem Personenkreis zu tun haben, der sich im Schreiben von Tanka erprobt hat. Jeder wird einen Vorrat an Versen in Arbeit oder vollendet um sich herumflattern sehen. Einer davon, den man als gelungen einschätzt, wird per Nachrichtensystem welcher Art auch immer einem Partner eigener Wahl zugeschickt mit der vertrauensvollen Aufforderung: Mach damit was du willst. Carte blanche, blind date, freie Hand zum Anschluss, zum nächsten Link, Twist oder Kopfsprung in ein so oder so als relevant ausgemachtes Terrain. Etwas nicht Erwartetes ergibt sich, man wird sehen, was. Der Anfang ist gemacht, das Hin-und-Zurückreichen von Versen verselbständigt sich, wächst sich zum Lernprozess aus, und der wachsende Reiz liegt darin, dem nicht vorausgesehenen Partner-Text pari zu bieten. Wie bei allen anderen überraschend aufkreuzenden Situationen im Leben ist man auch in dieser Lage zu adaptierenden Handlungen aufgerufen. Darin liegt das Vergnügen, so verzwickt sich paradoxe Inhalte auch gebärden mögen. Ja, es ist eine Herausforderung ohnegleichen: Handle nach der Maxime, würde Kant schmunzelnd bemerken, als habe der vom Partner präsentierte Vers dich so auf dich selbst zurückgeworfen, dass jedes Parieren darauf eine dir gemäße, gültige Antwort darstellen muss. So kann man eine Zeit lang weiter schreiben, sich abstimmen oder auch nicht, warten, bis gegen ein offenes, nicht auf Abschluss versessenes Ende, sagen wir nach acht oder zehn Versen, die Partner poetisch/organisch an einen Punkt kommen, den sie für befriedigend halten.
Dabei bietet sich die Möglichkeit, mit einem gemeinsam geschriebenen 5-Zeiler oder mit Hilfe jeder anderen formalen Idee, die sich erst aus der abenteuerlich herausfordernden, aufreizenden Spielform dieses Schreibens entwickelt hat, der Sequenz erfinderisch neuen Atem einzublasen.
In den bekannten Verbindungen von Vers zu Vers, dem Linking oder dem Twist, haben sich seit langem verschiedenste Methoden bewährt. Hier lassen wir sie undiskutiert, weil gut bekannt und erprobt. Hingegen ist es der Mühe wert auf das hinzuweisen, was wir am besten mit einem „Sprung“ umschreiben, als den Sprung zwischen Versen, entweder von einer Person konzipiert oder gemeinsam erarbeitet. Sozusagen eine Technik von kalkuliertem Absprung und partiell disponierter Landung. Da nämlich liegt ein, wenn nicht das Geheimnis der modernen Poesie. Visuell angeboten als freier Raum, schwebt dort noch jenes Unbekannte, auf das der Dichter zustrebt und in das sich der Leser mit Phantasie so einschalten, einnisten darf, dass er zu glauben berechtigt ist, an Gestaltung und Wirkungsweise des Gedichts im wahrsten Sinne beteiligt zu sein. Eine Verschränkung von Motiven, Orten, Zeiten und Befindlichkeiten und all dessen, was wir uns als collagefähig, aber noch unerforscht denken dürfen, ist des Schreibers wie des Lesers eigentliche Lust. In ihr pulsiert ein Ich und ein noch nicht zum Ich gewordener, vergleichsweise erregender Schwebezustand, der, überlässt man sich ihm willentlich, in Zonen entführt, die der lesbare Text nur vorbereiten, nicht aber vollenden kann. Die Sprünge im Gedanklichen rangieren, wenn sie nur gut sind, wie von allein an den Rändern von Skandalen. Sind sie sogar sehr gut, befinden wir uns im Raum von Kollisionen, von geistigen Katastrophen, die, recht verstanden, Erneuerung als Prinzip in sich führen.
Dieser von Vers zu Vers sich anbietende Leerraum – Spielwiese der aus sich selbst operierenden Organe in der Nacht der Täuschungen – hat eine Tendenz, sich vom Plan des Dichters zu emanzipieren; er überlässt sich dem Leser – wenn nicht ausschließlich, so doch teilweise – zu persönlicher Identifikation. Er hat vergleichsweise zwei oder mehr sich überlappende Existenzen, eine vom Dichter konzipierte und jene andere, die vom Lesenden über die Brückenfunktion seiner eigenen Phantasie herzustellende Verbindung. Die wirklich aufmerksame Person verfolgt die Kette des wörtlich Ausgesprochenen mit ähnlicher Konzentration, die sie den Folgen von Sprüngen zumisst. Schließlich wachsen lesbarer Text und die Leerraum-Konstellationen der Leser zu einem einzigen poetischen Gebilde zusammen.
Ein jedes derart zustande kommendes Unterfangen – hier gedacht und geübt zwischen Partnern – wird notwendig zu einer Symbiose werden. In ihr eingebettet fusionieren die Merkmale aller unserer sonstigen zwischenmenschlichen Beziehungen und eben all die Geheimnisse, die wir als Einzelperson schwerer oder gar nicht erkunden können. Schon seit zehn Jahren spreche ich von dieser Art der Kreativität als Symbiotic Poetry, Symbiotischer Poesie. Die Felder, in denen sich partnerschaftliche Bemühungen bewähren können, erweitern sich nach Maßgabe derer, die sich im gegenseitigen Vertrauen darauf einlassen, oder besser, sich darauf eingeschworen haben.
Gerd Börner: Viele Informationen, die Sie hier gebündelt weitergeben, können auch in Ihrem Magazin LYNX, und auf Ahapoetry.com nachgelesen werden. Wie entstand das Projekt LYNX und was macht heute die konzeptionelle Vielfalt des Magazins aus?
Werner Reichhold: Das Magazin „LYNX“ ist seit 1992 auf dem Markt.Es geht auf das Magazin APA-Renga zurück, das von Jim Wilson im Jahre 1986 ins Leben gerufen und gestaltet wurde. Von 1992 an haben die Reichholds mit ihrem Magazin LYNX das Projekt übernommen und um die Publikation von Dichtung auf der Basis aller japanischen Genres, plus relevanter Artikel und Kritiken, erweitert. Jim Wilsons Innovation war das Konzept des sich immer weiter verzweigenden Renga („Blooming and Withering“), was bedeutet, dass bei mehreren Antworten anfangs auf das Hokku, und später auf alle folgenden links immer neue Renga entstehen, aber bei einer ausbleibenden Antwort dieser Zweig „verdorrt“. Das ist eine äußerst anregende Form der Kettendichtung, die unter der Bezeichnung „Participation Renga“ im Magazin LYNX seit 6 Jahren ständig weitergeführt wird und erstaunlich lebendige Resultate sozusagen in Selbstorganisation erzielt hat. In den meisten der zwölf bis heute erschienenen LYNX-Magazinen (im Netz unter Ahapoetry.com), finden sich Tan-Renga, Tanka und Haiku, Tanka- und Haiku-Sequenzen, Sijo und Sedoka, Haibun und Haiga, Renga und andere Symbiotische Poesie, Ghazal und weiterführende Versuche, die östliche, fernöstliche und westliche Formen vergleichend zusammenbringen. Wir grenzen uns nicht ein, warten auf jede Art geistiger Provokation, animieren zu Arbeiten, die sich mit Toleranz in die umschriebenen Spielräume einordnen lassen.
Gerd Börner: Zu Beginn des 3. Jahrtausends sind wir dabei, eines der spannendsten Felder der Poesie zu beackern. Wie schätzen Sie im Zeitalter des Internets, der globalen Vernetzung und der zeitgleichen Teilnahme an Wettbewerben, Präsenz auf prominenten Haiku-Portalen und des interaktiven Austausches über aktuelle Entwicklungen, Forschungsergebnisse und Experimente die Zukunft des modernen Haiku ein?
Werner Reichhold: So oder so liegt hier etwas in der Luft, das wir uns nicht von den Themenjägern in Hollywood stehlen lassen sollten. Wenn wir einschließen, dass wir uns über email flink austauschen und wenn wir Tonträger und graphische Techniken als Ergänzung aktivieren, wird unsere Gesellschaft sich interessiert an der Eingliederung der japanischen Genres zeigen und sich im Netz oder vor dem Fernseher unterhalten lassen. Die Multimedia-Szene kennt uns nur noch nicht hinreichend und denkt Theater, Oper und Film würden schon alles abdecken. Ob sich das ändern lässt, ob da in Differenz zu anderen Versuchen auf neuer poetischer Ebene Möglichkeiten warten, darüber sollten kluge Köpfe schon bald, ergänzt um manche erweiternde Idee, allein oder im Diskurs mit ähnlich Gesinnten nachdenken.
Dieses Gespräch führte Gerd Börner September 2005 per Post mit Werner Reichhold.
Zur Person
Werner Reichhold, geboren 1925 in Berlin, studierte 1948 in Berlin, dann in Hamburg und Paris. Er lehrte 1960 an der Fachhochschule Hannover Aktzeichnen.
Werner Reichhold lebte bis 1981 in Deutschland und übersiedelte dann mit seiner Frau Jane nach Kalifornien, U.S.A.
Werner Reichhold ist Autor diverser Bücher, in denen er seine Installations-Kunst, seine Zeichnungen und Texte zur Kurzlyrik in Gestalt von Haiku, Tanka, Renga, Ghazal und Sijo bzw. von Sequenzen und Mischungen aller Genres vorstellt. Seine Texte, die zum Teil in die französische, deutsche, italienische, hebräische und arabische Sprache übertragen wurden, erschienen in nationalen und internationalen Literaturzeitschriften und Haiku-Magazinen.
Im Internet ist Werner Reichhold zusammen mit seiner Frau Jane Herausgeber des Magazins LYNX. Er ist präsent mit eigenen Büchern in Deutsch und in Englisch und mit Artikeln auf dem Lyrik-Portal von Jane Reichholds Ahapoetry.com.
Werner Reichholds Arbeit ist belegt durch zahlreiche Einzel-und Gruppen-Ausstellungen in Europa, in den U.S.A und Kanada, in Südamerika und Japan. Seine Installations-Kunst mit Stahl-Objekten, Zeichnungen, Collagen, Fotos und Fotomontagen sind in 56 Katalogen und vier Anthologien dokumentiert. Neben dem Lichtwarck-Preis und dem Edwin Scharff-Preis erhielt Werner Reichhold 1960 den Rom-Preis, Villa Massimo.
Literaturhinweise
Werner Reichhold: Handshake. AHA Books, 1989, 128 Seiten, ISBN:0-944676-11-1, $11,50.
Merit Book Award Haiku Society of America.
Werner Reichhold: Bridge of Voices. AHA Books, 1990, 140 Seiten, ISBN:0-944676-13-8, $11,50.
Werner Reichhold: Tidalwave. AHA Books, 1989, 170 Seiten, ISBN:0-944676-12-X, $11,50.
Werner Reichhold: Layers of Content. AHA Books, 1993, 120 Seiten, ISBN: 0-944676-15-4, $ 8.
Werner und Jane Reichhold: In the Presence.Tanka, AHA Books, 1997, 120 Seiten, ISBN: 0-944676-22-7, $ 10.
Diese und andere Literatur von Werner Reichhold ist erhältlich unter www.Ahapoetry.com. Dort finden sich auch weitere Texte sowie die Netzausgaben des Magazins LYNX.
Anmerkungen
(1) Werner Reichhold: Deutsche Haikuszene. LYNX – A Journal for Linking Poets. 20:2 Juni, 2005. (Auf der Netzseite rollen, bis der Aufsatz kommt).
(2) Werner Hofmann (geb. 1928): Erster Direktor des Museum des 20. Jahrhunderts in Wien, dann langjähriger Direktor der Kunsthalle Hamburg.
Ersteinstellung: 08.10.2005