zum graureiher verdichtet

Rezension von Volker Friebel

 

Duncan, Bernadette (2020): zum graureiher verdichtet. Haiku. BoD, Norderstedt, 96 Seiten, 9,50 Euro. Erhältlich im Buch- und Versandhandel.

Bernadette Duncan hat in diesem Buch 108 Haiku versammelt, eine Auswahl ihrer zwischen 2007 und 2019 entstandenen Texte. Viele dieser bemerkenswerten Verse führen uns an die Quelle, dorthin, wo Haiku geschah und immer geschieht.

 

schneeschmelze
selbst die steine
ruhelos

Die Bewegung ist überall. Es ist nicht nur der schmelzende Schnee, auch die Lieder der Vögel verändern sich, erste Blumen sprießen, in den Pfaden der Pflanzen steigt das Wachstum nach oben, lässt Knospen schwellen, will in den Himmel hinein … Und was sich nicht aus eigenem Drang heraus anschließt, wird geschoben, getragen, die Steine sogar, vom Wasser der Veränderung.

Besonders gefällt mir das letzte Wort, gefällt mir „ruhelos“. Das ist kein Wort für Steine, auch nicht für Pflanzen, nicht einmal für Tiere, wir ordnen es Menschen zu. Ich sehe durch dieses Wort die Dichterin einbezogen, ohne dass sie genannt werden muss.

 

Samentütchen ordnen
hinter den Bergen
schon Licht

Auch hier wird das Subjekt nicht ausdrücklich genannt und ist doch in „ordnen“ enthalten. Der Text lebt von der Beziehung der Samen zum aufgehenden Licht. Durch die Bilder wird ein neuer Anfang beschworen. Und eine Ruhe in diesem Anfang. Da ist kein verborgener Sinn, den es zu enträtseln gilt, nur eine erwartungsvoll ruhige Atmosphäre, in die sich der Leser freudig gibt.

 

gleichzeitig pflügt er
eine reihe erde
eine reihe himmel

Das Pflügen des Ackers geht uns an, wir wollen das Brot, wir sehen deshalb, wie der Pflug Ackerschollen aus der Erde wirft. Dass damit gleichzeitig auch der Himmel gepflügt wird, sieht nicht der Bauer, aber die Dichterin.

Dichtung ist eine Gelegenheit, mit unserer Wahrnehmung zu spielen. Besonders gelungen ist ein Text, wenn dieses Spielen uns nicht nur die Welt anders zeigen kann, sondern wenn er uns damit auch etwas von uns zeigt, von unserer Art zu denken, von unseren Voreinstellungen, und dieses in eine größere Welt einbringt.

 

mein winternachbar
verschwindet wieder hinter
kirschblüten

Das Thema ist schon häufig bedichtet: Wie der Nachbar mit jedem fallenden Blatt sichtbarer wird, näher rückt, oder wie er mit der neuen Vegetation wieder verschwindet.

Ich finde es wichtig, sich nicht nur immer dem vorgeblich Neuen zuzuwenden, nicht immer nur neue Erfahrungen machen, neue Texte schreiben zu wollen, sondern auch das Vielbesungene nicht zu verachten.

Jede aufrichtige Dichtung ist wertvoll, auch wenn sie schon lange Bekanntes aufnimmt. Immer nur Neues zu wollen, entmutigt: Alles war schon einmal da. Alleine wichtig finde ich, wie es sich in der Dichterin und den Lesern immer neu herstellt.

 

nach klarer nacht
im regenfass
holundersterne

Die Sterne der Nacht sind verschwunden – und tauchen als gefallene Sterne des Tags wieder auf. Es sind nicht dieselben Sterne, doch es ist etwas in uns, das beide verbindet. Magisches Denken war in früheren Zeiten allgegenwärtig, Frau Holle erinnert mit ihren Blüten daran.

 

novemberabend
unter den hufen des rehs
klingt der waldboden

Ein Reh auf der Flucht, in den Spätherbst hinein. Ein schweres Leben, in unvermittelter Resonanz mit der Erde. Wir können darin auch Schönheit empfinden.

Weshalb sprechen solche Texte mich an, obwohl nichts von uns Menschen vorhanden scheint? Natürlich: Immer ist etwas von uns enthalten, durch die Autorin, die die Auswahl setzt, die Worte findet.

Doch da ist mehr. Die Tiefe des Textes ist die Antwort unseres Grundes, der Erde, auf diese bloße, jeder Bedrohung ausgesetzten Existenz, jenseits von Schreibtisch und Klimaanlage.

 

maimorgen die schwere der wörter

Diesen wundervollen Vers lasse ich unkommentiert.

 

Die Haiku aus diesem Buch machen die Welt schöner. Und da sind noch mehr, als die zitierten. Wenn wir uns dem zuwenden, wofür unser Herz schlägt, stärken wir es in der Welt. Und uns selbst.