Gefühl und Gedanke

Ruth Franke

 

Michael McClintock: Letters in Time, Sixty Short Poems. Hermitage West 2005. Taschenbuch, 5.25 x 6.75, 78 Seiten. ISBN:0-9770239-0-X, US $ 10, CAN $ 13.

Als ich zum ersten Mal Gedichte von Michael McClintock las und dabei von seiner Entwicklung als Dichter erfuhr, war ich beeindruckt von den Prioritäten, die er in seinem Leben setzte. Sie schienen dem Leitsatz zu folgen: „Was du tust, das tue ganz“. Bemerkenswert, wie er sich auf der Höhe seines Erfolges als Autor und Theoretiker nach dem Abschluss seines Studiums von der Haiku-Szene verabschiedete, um sich vollständig dem Berufsleben zu widmen. Erst 20 Jahre später, als er die Freiheit hatte, sich wie früher in die Dichtkunst zu vertiefen, kehrte er zurück.

Nun hat er die erste Sammlung nach seiner Rückkehr veröffentlicht: Letters in Time. Unter den sechzig Kurzgedichten, hauptsächlich Tanka, sind auch elf Haiku. Viele der Gedichte sind bekannt und weltweit in Magazinen erschienen, manche wurden in internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Sie bestechen durch sinnliche Bildersprache, die beim Leser unmittelbar visuelle Eindrücke entstehen lässt.

letting sand fall
from my hand
countless suns

aus meiner Hand
Sand rinnen lassen
unzählige Sonnen

Einige seiner neueren Haiku drücken eine Sehnsucht aus nach etwas, das wir nicht wirklich besitzen, sie vermitteln Gefühle von Trauer, Verlust und Einsamkeit. Diese Gefühle werden in einem Gedicht angedeutet, das nicht nur in Tanka-, sondern auch in Haiku-Form * zugänglich ist. Es lohnt sich, beide zu vergleichen:

all the spring day,
the deer cross the high meadow
and into the clouds

den ganzen Frühlingstag
zieht das Wild über die Hochalm
und in die Wolken

through rain
all day in spring,
deer cross the high meadow
into the clouds, always
into the clouds …

im Regen
zieht jeden Tag im Frühling
das Wild über die Hochalm
in die Wolken, immer
in die Wolken …

In beiden Gedichten wird dasselbe Bild dargestellt. In der Haiku-Fassung ist die Sprache objektiv, und es bleibt dem Leser überlassen, das Gedicht mit Einfühlungsvermögen und Einbildungskraft zu vervollständigen. Wenn wir die Tanka-Version betrachten, sehen wir, dass die Beobachtung von „den ganzen Frühlingstag“ auf „jeden Tag im Frühling“ erweitert wurde, doch die erste Einheit von drei Zeilen ist immer noch objektiv. Zu einem Tanka wird das Gedicht durch die weitere Entwicklung in den beiden letzten Zeilen, die – generell gesehen – subjektiver sein kann, lyrischer oder auch persönlich und uns die Antwort des Dichters auf das vorhergehende Bild gibt.

In diesem Beispiel gibt es keine persönliche Stellungnahme, der zweite Teil vervollständigt das Bild der ersten Einheit, und die Subjektivität existiert nur in der Wiederholung sorgfältig ausgewählter Wörter. Man empfindet des Dichters Gefühl von Trauer und unwiederbringlichem Verlust – ein anhaltender Verlust – stärker als in der Haiku-Fassung und versteht, warum Michael McClintock die Tanka-Form mit ihrem größeren Spielraum an poetischen Sprach- und Stilmitteln so anziehend findet.

Die Tanka in Letters in Time sind in freier Form und fünf Zeilen geschrieben, ihre Anordnung ist meist linksbündig. Sie unterscheiden sich in Stil und Länge, manche sind sogar minimalistisch und können wie ein Haiku in einem Atemzug gelesen werden. Man findet auch fallende Strukturen, die von Zeile zu Zeile kürzer werden und mit einem einzigen Wort enden, auf dem eine besondere Betonung liegt. Manche Tanka sind nach drei Zeilen abgesetzt, um die Gedanken des Dichters in der letzten Einheit zu betonen. Oft spricht die subjektive Stimme aus dem ganzen Gedicht und die Persönlichkeit des Autors wird sichtbar; manche Tanka lesen sich fast wie Tagebuch-Notizen.

Man ist bewegt von seinen Reflexionen, die uns, geprägt von Empfindsamkeit und Selbstbeobachtung, „Tanka-Momente“ der Einsicht vermitteln.

flying by night
Moscow to Madagan
I gazed for hours
across three time zones
into my heart

beim Nachtflug
von Moskau nach Madagan
schaute ich stundenlang
über drei Zeitzonen
in mein Herz

skating alone
round and round
the ice rink
what I came to forget
I forgot

alleine laufen
Runde um Runde
auf der Eisbahn
was ich vergessen wollte
vergaß ich

Die Gedichte behandeln eine Vielzahl von traditionellen Tanka-Themen, aber das Hauptmotiv ist die Liebe – die Geschichte einer intimen Liebesbeziehung, die alle Phasen durchläuft: Sehnsucht, Leidenschaft, Einsamkeit, Verzweiflung und Erfüllung. Das Gefühlsleben des Autors ist verbunden und im Einklang mit den Elementen der Natur. Der lyrische Ton und die Stimmung seiner Gedichte zeigen Zartheit und Einbildungskraft und erinnern an alte japanische Liebeslieder, bei denen Gefühle durch Naturbilder ausgedrückt werden:

apart,
our love’s a thrush
we carry in a thought
light as air it sings
within the dark

getrennt,
ist unsere Liebe eine Drossel
die wir in Gedanken tragen
leicht wie Luft singt sie
in der Dunkelheit

Hier wird die Liebe immer ätherischer, während sie vier verschiedene Phasen durchläuft: Drossel / Luft / Gedanke / Dunkelheit. Durch die Leichtigkeit und lyrische Sprache ist dieses Tanka reine Poesie, ein ästhetisches Ganzes, das visuelle und akustische Sinneseindrücke hinterlässt.

Obgleich Briefe in diesem Buch eine Rolle spielen – sie werden verbrannt oder das Herz des Absenders fällt beim Öffnen heraus – wäre es falsch oder zumindest einseitig anzunehmen, dass Letters in Time „Liebesbriefe“ bedeutet. Vielmehr ist der Titel eine Anspielung auf die Vergänglichkeit der Zeit, sogar mehr: er deutet McClintocks Einstellung zur Zeit und seine Theorie des subjektiven Realismus an. Das Gedicht ist für ihn ein Kunstwerk, aus erinnerter Erfahrung in Worte gefasst. Wir verstehen unser Leben aus der Erinnerung heraus, und Erinnerungen aus der Vergangenheit sind für uns auch in der Gegenwart bedeutsam, weil sie den gegenwärtigen Moment subjektiv beeinflussen und wandeln.

Im Tanka – viel mehr als im Haiku – kann der Dichter Bilder aus der Natur seinen persönlichen Einsichten und Überlegungen gegenüberstellen, indem er subjektive Entscheidungen über Inhalt und Sprache trifft. Das gibt den Gedichten ihre Tiefe. Bei Letters in Time verbinden sie sich zu einem universellen Liebeslied mit nachhaltiger Resonanz, über Zeit und Ort hinaus.

Der Band ist Karen Jeanne Harlow gewidmet und trägt auf der Titelseite ihr Porträt, eine Kohlezeichnung von Nancy A. Knight. Beim Lesen der Gedichte von Michael McClintock begriff ich, wie zutreffend H. F. Noyes über gute Tanka urteilte: „… Worte, die das Herz berühren und dem Geist gut tun.“

 

* World Haiku Review No. 3, 2002

Diese (geringfügig geänderte) Rezension erschien zuerst in englischer Sprache in Frogpond No.2/2006

 

Ersteinstellung: 10.09.2006