Grenzerfahrungen

Ruth Franke bespricht Jim Kacians Buch Border Lands

 

„Einmal in einem langen Zeitraum haben wir das Glück, Zeuge eines Ereignisses von großer Bedeutung zu sein, das außerhalb unseres normalen Gesichtskreises liegt. Der Rest des Lebens ist Vorbereitung für solche Momente.“ So viel versprechend leitet Jim Kacian sein Buch „Border Lands“ („Grenzgebiete“) ein, in dem er in Haibun-Form von einer gefahrvollen Reise berichtet. Es ist eine Rückkehr in die geschichtsträchtige, vom Krieg gezeichnete und noch immer unruhige Region des Balkans. Im Jahre 2000 hatte er in Haiku-Mission dort Station gemacht und Freunde gewonnen; drei Jahre später, im Jahre des Mars, erhielt er von einem Freund die Einladung, an den Beerdigungs-Ritualen für seinen Vater teilzunehmen.

back in
the old country
I am old

zurück in
dem alten Land
bin ich alt

„Alles ist genauso, wie es immer gewesen ist … eine Gegend, die ans Schicksal glauben lässt“, erkennt er bei der Ankunft am Wohnort des Freundes.

Welches Risiko diese Reise bedeutet, zeigt schon das Titelbild des kaum DIN A6 großen, einfach gehefteten Büchleins: Der überwiegende Teil ist schwarz, darin springen in roter Schrift Titel und Name des Autors ins Auge. Links oben sieht man einen großen Felsen, rechts unten eine kleine Kirche. In die 16 kurzen Kapitel (Seitenzahlen gibt es nicht) ist jeweils ein Haiku eingefügt, das das Geschehen verstärkt, darauf folgen drei oder vier Haiku, die in einprägsamen Bildern die Wirkung der Prosa verdeutlichen oder sie weiterführen. Oft sind es unheimliche, düstere Eindrücke:

into dusk …
guessing the color
of bats

in die Dämmerung …
ich erahne die Farbe
von Fledermäusen

Die Reise geht über mehrere Tage und durch verschiedene Länder. Sie führt durch kahle Berge und scheinbar unbewohntes Land, weitab der großen Städte. Die Front ist nah, und weil die Häuser einer geschlossenen Ortschaft eine größere Zielscheibe abgeben, haben sich die Einwohner oft ins offene Land geflüchtet und leben in Zelten. Überall sind Spuren alter Besiedlung zu finden, denn die Balkanländer, am Rande Europas, waren stets Einfallstor und Durchzugsgebiet von Eroberern. – Trotz ihrer Armut ist die Landbevölkerung gastfreundlich:

passing the jug
the warmth
of many hands

in die den Krug weiterreichen
die Wärme
von vielen Händen

Als das Ziel, der Geburtsort des Freundes, nach mehreren Grenzüberschreitungen erreicht ist, strebt die Geschichte ihrem Höhepunkt zu. Vierzig Tage dauert das Ritual zu Ehren des Toten, mit seit Generationen überlieferten Zeremonien, die mit Ernst und Respekt vollzogen werden. Jeden Abend die gleiche Versammlung mit Gebeten, Geschichten und rituellem Mahl. Der Freund aus dem Westen, Amerikaner, kann den Erzählungen nur nach ihren Mustern, ihrem Rhythmus und Tonfall folgen und ist dennoch beeindruckt. – In den vielen Stunden des Müßiggangs kommt manchmal Heimweh auf:

departing bus –
a child I don’t know
waves to me

abfahrender Bus –
ein Kind das ich nicht kenne
winkt mir zu

Vor der endgültigen Heimkehr gibt es ein besonderes Erlebnis: einen Abstecher in die Alpen mit Gipfelbesteigung. Die Zwiesprache mit den Bergen in der Einsamkeit und die erfrischende, belebende Luft werden als Befreiung empfunden.

Alpine meadow
in the center of the bowl
little me

Hochalm
in der Mitte der Mulde
mein kleines Ich

Auf dem Rückweg eine traumatische Erfahrung: An der Grenze zum Kosovo, einer seit Jahrhunderten umkämpften und mythenumwobenen Walstatt, die noch immer Zankapfel zwischen Serben und Albanern ist, hatte in der Nacht ein Luftangriff stattgefunden. Der Blick vom Berggrat hinunter auf die Verwüstung im „Tal des Todes“ hinterlässt Eindrücke, die verstummen lassen.

after the bombing
random flights
of swallows

nach der Bombardierung
ziellose Flüge
von Schwalben

Nach diesen tiefen Einblicken in Leben und Tod in dem zerrissenen „alten Land“, immer vom Schatten der Feindseligkeiten begleitet (Mars, der rote Planet, wird oft erwähnt), fällt es schwer, in die Zivilisation und ins Alltagsleben zurückzufinden.

Jim Kacian schildert in diesem Haibun eine Grenzerfahrung, deren Erlebnistiefe das eigene Leben und Selbst verändert. Er erzählt es in einfacher Sprache mit bildhaften, treffenden Haiku, die dem Leser oft Raum für eigene Gedanken geben. Dabei vermittelt er eine Botschaft: „Niemand ist eine Insel“ – der Mensch sollte im Sinne von Brüderlichkeit, Menschlichkeit und Respekt vor anderen Kulturen bereit sein, auch Risiken auf sich zu nehmen. Der Gewinn kann eine Bereicherung des eigenen Lebens sein. Diese Haltung ist kennzeichnend für den Autor, der sich von jeher für fremde Kulturen interessiert hat und stets zur Unterstützung bereit ist.

Eine fesselnde und nachdenklich machende Geschichte, mehrfach zu lesen, in der – wie bei jedem guten Haibun – vieles zwischen den Zeilen steht.

 

Jim Kacian: Border Lands, 2007 Red Moon Press ISBN 1-893959-58-9, US$ 12,00
zu beziehen über www.redmoonpress.com (website teilweise in Deutsch)
oder über Jim Kacian: redmoon@shentel.net

 

Ersteinstellung: 15.09.2007