Haiku-Gazelen

Mario Fitterer rezensiert „In Begleitung des Windes“, Gedichte von Abbas Kiarostami mit einem Nachwort von Peter Handke

 

Abbas Kiarostami, der, 1940 in Teheran geboren, dort lebt, hat 2004 bei Suhrkamp die Gedichte „In Begleitung des Windes“ veröffentlicht. Shirin Kumm und Hans-Ulrich Müller-Schwefe haben aus dem Persischen übersetzt. Das Nachwort stammt von Peter Handke.

Ursprünglich Maler, Graphiker und Buchillustrator, drehte Abbas Kiarostami 1970 den ersten Kurzfilm. Er erhielt verschiedene Filmpreise, 1997 die Goldene Palme in Cannes für Der Geschmack der Kirsche, für Der Wind wird uns tragen 1999 den Großen Preis der Jury in Venedig. 1999 erschienen in Teheran unter dem Titel Hamrah ba bad die Gedichte In Begleitung des Windes, die auch ins Englische, Französische, Italienische übersetzt wurden. Der Wind kommt in Kiarostamis Filmen und Gedichten oft vor. In der persischen Lyrik verbänden sich mit dem Wind, so Kiarostami, „ganz besondere Umstände wie Verunsicherung oder gar Umsturz und eine qualitative und quantitative Veränderung“. In diesem Gedichtband sowie in den Filmen stehe der Wind als „Symbol für unseren inneren Aufruhr“ (Deutschlandfunk, 27.10.04).

Ein Gedicht, das Kiarostami ins Gästebuch der Universität in Tokio eingetragen hatte, veranlasste einen Haiku-Kenner, ihn zu ermuntern, diese Art Texte zu veröffentlichen. Kiarostami hat, wie er sagte, „in Gedichten verstreute, vereinzelte Bilder in Worte gefasst“, ehe er Filme gedreht und Fotos gemacht habe. Erst später habe er „zu dieser äußersten sprachlichen Reduktion gefunden“ (Deutschlandfunk, 27.10.04).

Dorfkinder
Zielen mutig
Auf den Blechkopf der Vogelscheuche

Der Zug heult auf
Und bleibt stehen
Ein Schmetterling schläft
auf der Schiene

An der die Jahreszeiten durcheinandermischenden Reihung der Gedichte war der Wind beteiligt. Handke schildert im Vorwort: bei seinem Herumrätseln über die „Leseordnung“ an einem Frühlingstag in seinem Garten sei plötzlich in einem heftigen Windstoß der Packen loser Gedichtblätter „in den hintersten Winkel des Gartens“ gestoben. Das „windverwehte Durcheinander“ habe „eine diesem Buch jedenfalls nicht widersprechende“ „Lesemöglichkeit“ beschert.

Die 221 kurzen zwei- bis sechszeiligen Gedichte des Bandes spannt Peter Handke in den Rahmen zwischen Haiku, klassischer persischer Lyrik und – was deren Glauben an die Bilder angehe – griechischer Antike.
Kiarostamis Gedichte seien, so Handke, als „eine Art Sekundieren“ zu Bashôs „Reisechronik in das ‚Hinterland’“ lesbar. Auch Kiarostami evoziere „eine einsame Reise“, doch im Unterschied zu Bashô bewege er sich „eher auf der Stelle und im Kreis“. Und doch seien beide Wanderer „ein und derselbe“ mit dem Augenblick, da der sich dahinziehende „Bilderreigen“ „sehr lange ohne Person, ohne ein Ich, ohne persönliches Auge“ auskomme. „Gegen Ende ihrer Wanderschaften“ träfen beide zusammen, „im abgewandelten Sinne“ von Bashôs „Zweizeiler: ‚Haushoch zwischen Himmel und Erde / Zwei Wanderer’“.

Mit diesem Zitat signalisiert Handke indirekt seine gefühlte Nähe zu Bashô im Wandern, Er sagt von sich an anderer Stelle, bei seinen Reisen sei er „fast immer allein“ gewesen und habe sich „nie einsam gefühlt“, und zitiert Bashô „auf der Reise in den Hohen Norden“: „‚Allein unter dem Himmel, das heißt zwei Wanderer.’ Denn der Himmel zieht auch mit. So habe ich es erlebt.“ (FREITAG 42, 21.10.05)

Das „Ich“ ist sparsam gesetzt, besonders betont in acht Texten, die beginnen: „Wenn ich es recht bedenke“:

Wenn ich es recht bedenke
Verstehe ich nicht
Warum der Schnee so weiß ist

Oft tritt der Mond, die Nonne, die Spinne, die Vogelscheuche, der Schnee, die schwangere Frau ins Bild, dominiert Wind die Szene. Manche Texte sind reflexiv oder sinnhaft: „Das letzte Blatt das am Ast klebt / Wiegt sich in der Hoffnung / Die Frühlingstriebe zu sehen“.

Zuweilen wünscht man, Gedichte im Original lesen zu können bei Umständlichkeiten, ab und zu epigonaler Formelhaftigkeit oder gestelzt wirkenden Übersetzungen wie: „Regen auf trocknem Heu / Bringt den Nüstern der Milchkuh / Frühlingsduft“. – „Die Schwalben / Kehren sie in diesem Jahr nicht zurück / An ihren vorigen Platz?“

Im übrigen sind die Gedichte konzise, klare Bilder. Die Sprache tritt, unauffällig, hinter Bild und Szene zurück. Kleinste Konzentrate können ein weites Feld öffnen: „Regen fällt auf den See / Trockenes Ackerfeld“. Augenblickswahrnehmungen wechseln mit Beobachtungen von Erscheinungen, die auftauchen, sich ablösen, sich verändern – ein Stilmittel leitmotivisch im Eingangsgedicht angedeutet:

Ein weißes Fohlen
Tritt aus dem Nebel
Und entschwindet
im Nebel

Dieses an Shikis Haiku „Ich dreh mich um – / der Mann, der mir entgegenkam, / vergeht im Nebel.“ (Übersetzung Krusche) erinnernde Gedicht könnte ein Hinweis sein, dass das shasei-Prinzip, das Skizzieren nach der Natur, die Gestaltung der Gedichte mitbestimmte.

Handke sieht Omar Khayyam und Abbas Kiarostami als Erben der antiken Griechen, was deren Glauben an die eidola angeht, der Verkleinerungsform von eidos, Bild, Glaube. Eidolos ist das Abbild des Abbilds. Nach Platon erinnert das Abbild an die Urbilder (Ideen) der Erscheinungen, die als Abbilder wahrgenommen werden können. Von da aus ist eine beträchtliche Strecke zum Wesen der Dinge, das Bashô zu erreichen suchte, und Handkes Sicht von Wahrnehmung: „nur wer seinläßt, ohne wissen zu wollen, wer den Dingen ‚entspricht’ und sie zur Form erlöst – nur der hat Aussicht, daß sich ihm das Leben zuwendet in den Geschenken der Wahrnehmung.“ (Die ZEIT, 19.2.98)

Kiarostami kommt dem Abgebildeten am nächsten, wo Veränderungen, Wechsel, der Fluss je anderer Augenblicke unter dem verweilenden Auge Gestalt annehmen, wie in:

Der Wind
Öffnet
Die alte Tür
Und schließt sie
Laut
Zehnmal

Es schneit
Schneit
Schneit
Der Tag geht zu Ende
Schneit
Die Nacht

Die beiden Texte korrespondieren mit dem Verlauf eines von Handke im Nachwort erwähnten Kurzfilms Kiarostamis. In einer einzigen, vielleicht zwanzigminütigen Einstellung am Ufer des Kaspischen Meers sähe man: in „ziemlich sanft anrollenden Wellen“ ein Holzstück, das angeschwemmt und „wieder ins Wasser weggetragen“, „nach einer so langen wie kurzen Zeit“ auseinanderbricht in „zwei Hölzchen, die miteinander schaukelten. Und am Ende trieb eins davon weg, auf die Hohe See hinaus.“

Abbas Kiarostami gehört zu einer Reihe zeitgenössischer Dichter seines Landes, die neue lyrische Möglichkeiten suchen und „mit minimalistischen Ausdrucksformen spielen und experimentieren“ (Deutschlandfunk, 27.10.04). Gleichwohl wäre es interessant, genauer zu untersuchen, welche Spuren Omar Khayyam, Dschalal Ud-Din Rumi und Hafis, „Vorwanderer-Vorgänger im eigenen Land“, in den von Handke so genannten „Haiku-Gazelen“ oder „Gazelenbruchstücke“n hinterlassen haben. Bei den Überlegungen dazu zitiert Handke unter anderen:

Der Fata Morgana auf der Spur
Erreiche ich Wasser
Ohne Durst

Am Grab des Heiligen
Dachte ich an tausend Dinge
Als ich heraustrat
Lag Schnee

Abbas Kiarostami, „In Begleitung des Windes“, Gedichte, Aus dem Persischen von Shirin Kumm und Hans-Ulrich Müller-Schwefe – Mit einem Nachwort von Peter Handke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2004, 240 Seiten. – ISBN 3-518-41629-4.

 

Ersteinstellung: 15.06.2007