Haiku in Frankreich

Anthologie du HAIKU en France: Haiku zwischen existentieller Übung und Literatur
Buchbesprechung von Mario Fitterer

 

Die „Anthologie des Haiku in Frankreich“ scheint ein schmales Buch, doch im Inneren welche Fülle: 800 Haiku von 80 AutorInnen in Französisch und in englischer Übersetzung und dabei Haiku in Bretonisch, Gallo und Okzitanisch, jeweils in die Hochsprache übertragen. Begleitet werden die Haiku im Vorwort-Teil von Aufsätzen von Jean Antonini, Alain Kervern und Georg Friedenkraft und unter dem Titel „Ouvertures“ (Öffnungen) von Beiträgen von Ban’ya Natsuishi, Pierre Courtaud und Daniel Py. Das Buch ist mit dem Redaktionsteam Bertrand Agostini, Georges Friedenkraft, Alain Kervern, Daniel Py und Pierre Tanguy unter Leitung von Jean Antonini entstanden.

Die Autoren präsentieren sich mit je zehn Texten in zeitlicher Reihenfolge ihrer ersten Publikation und danach alphabetisch, wenn sie nicht publiziert haben. Die Haiku, auch als „Tercet“ im Sinne einer dreizeiligen französischen Strophe bezeichnet, sind vor allem jahreszeiten- und naturbezogen, thematisieren Dinge und Szenen des täglichen Lebens und Umfelds, kristallisieren sich aus emotionalen Momenten und können manchmal deutlich persönliche Züge und Überlegungen tragen. Puristen mögen da und dort ein Haar in der Suppe finden, jenes Haar etwa, das nach Vorstellung der Bashô-Schule nicht zwischen Gegenstand und Ausdruck geraten darf: Zeigefinger, Reflexion, persönliches Profil, usw. Spontan und ohne literarischen Anspruch geschriebene Texte und solche von Autoren mit großer Erfahrung seien, wie der Herausgeber bemerkt, angeboten worden, Texte von sehr unterschiedlicher Qualität, darunter manche, die riskierten, das Genre zu erneuern oder vollkommen zu zerstören. Nicht aufgenommen worden seien wenige Texte, die sich zu sehr von der beinahe klassischen Form unterschieden und hinsichtlich des Genres Verwirrung stiften konnten. Hier ist nicht der Ort, eine am japanischen Ideal oder an einer anderen Schule ausgerichtete Meßlatte anzulegen. Zum einen war, so der Herausgeber, beabsichtigt, der Geschichte des Schreibens der Autoren und einer gewissen literarischen Qualität sowie der Bewegung, die das Genre heute in Frankreich hervorruft, Rechnung zu tragen. Zum anderen möge berücksichtigt werden, daß die Haiku der verschiedenen Sprachen in ihrer wachsenden Universalität auf dem Weg sind, ihre kulturellen spezifischen Eigenheiten zu entwickeln, worauf Alain Kervern in seinem Beitrag hinweist.

Es ist an dieser Stelle unmöglich, mit einer summarischen Andeutung der Vielfalt der Anthologie auch nur im mindesten gerecht zu werden. Die Gestalt der haijin und deren Haikuverständnis bekommen über ihre Haiku hinaus deutlichere Konturen durch biobibliographische Angaben und Antworten auf die Frage: „Pouquoi j’ai choisi le haïku?“: „Warum habe ich das Haiku gewählt?“ Mit am schönsten antwortet Maryline Bertoncini, die das letzte Werk des großen griechischen Bildhauers Phidias zu besitzen glaubt.

Eines Tages, schreibt sie, erschien dem Bildhauer an einer Stelle des Blocks, den er gerade betrachtete, das Lächeln einer Göttin. Unter diesem Eindruck arbeitete er am Block weiter. „Unaufhörlich glättete, ziselierte, glättete Phidias wieder dieses Gesicht, dessen Lächeln ihm entglitt, in dem Maße er es ergriff.
Ohne Ende … Als vom Block nur noch ein Kieselstein, kaum größer als eine Olive, geblieben war, wußte Phidias, daß er sterben konnte, und er vertraute sein Werk dem Meer an. Dort habe ich es gefunden.“

In seinem einleitenden Beitrag „Das Haiku in Frankreich“ verdeutlicht Jean Antonini, mehrere Autoren zitierend, die Zauberkraft des Haiku, das das Innerste berühren, lebensbegleitend und lebensnotwendig, sogar als „Gnade eines Augenblicks im Leben“ erfahren werden kann. In gleicher Weise läßt sich im Bannkreis des Haiku das Flüchtige („L’éphémère“) und die Spontaneität als wesenhaft empfinden. Die Erfahrung des Flüchtigen scheint, so Antonini, zu den Bedingungen des Lebens von heute zu passen. Wo das Wenige an Zeit gerade für ein Haiku ausreichen mag, kann es aufgrund seiner Kürze auch „die Idee von Macht, von Totalität“ wecken.

Der Umgang mit Haiku erscheint vielfach als eine existentielle Übung. In den Haiku der Anthologie stellt Antonini weithin mehr existentielle als literarische Motive fest und fragt, was der Literatur übrigbleibe. Die Frage visiert die Abgrenzung zur Gefühls- und Erlebnispoesie an. Der Leser bekommt einen Blick in das Gebiet eines Schreibens, das bei der Aussage des Eigentlichen an Grenzen stößt und wo „sich so etwas wie eine Sprache der Nicht-Sprache ereignet“. Es geht um Sprache und die Abwesenheit dessen, was sie ausdrückt, will man einem in diesem Zusammenhang zitierten Gedicht von Jean Monod folgen:

L’absente de tout
bouquet la voilà me dit
en se montrant l’aube

Die in jedem Bukett
Abwesende da ist sie sagt mir
sich darin zeigend das Morgengrauen

Das Gedicht erinnere, so Antonini, in einem umgekehrten Sinne an eine berühmte mit dem Wort „fleur“ (Blume oder Blüte) verknüpfte Äußerung von Mallarmé.

Um Mallarmés Vorstellung von Dichtung wachzurufen, sei wiedergegeben, was Hugo Friedrich in „Die Struktur der modernen Lyrik“, 1956, über den Dichter sagt:

Mallarmés Dichtung ist fernab von Gefühls- und Erlebnispoesie. Sie gibt kein Abbild empirischer Wirklichkeit, sondern ihre Deformierung. Dinge wie Vase, Spiegel usw. werden „entdinglicht, in die Abwesenheit gerückt, werden Träger eines unsichtbaren Spannungsstroms. Immerhin sind sie aber durch das Wort, das sie nennt, für die Vorstellung anwesend. In dieser Anwesenheit erhalten sie einen ungewohnten Sinnzuwachs, weil jener unsichtbare Spannungsstrom in sie selber eingeht.“

Sinnbild für die Sprache, die in der Dichtung die höchste Wirkung erreicht, ist die Blume. Mallarmés berühmte Worte hierzu lauten: „Wozu denn die Verwandlung einer naturhaften Tatsache in ihr fast völliges Verschwinden durch das Spiel der Sprache, wenn  nicht daraus – ungestört durch konkrete Nähe – die reine Idee entstiege, eine Blüte; tönend erhebt sie sich, – und fehlt allen Sträußen.“

Nach dieser Exkursion können wir uns der Deutung von Monods Gedicht nähern. Die Abwesende ist die Blume, sie ist nicht im Bukett. Für Mallarmé kann die Blume als reine Idee nicht im Bukett sein. Monod bringt die Blume zurück, wohl nicht in konkreter Gestalt, sondern als Idee oder in nicht näher konkretisierter Metamorphose.

Das hier im Grenzbereich von Sprache und Nicht-Sprache vorgestellte Haiku ist von einem Haiku, das Ausdruck konkreter Erfahrungen der Veränderungen der Jahreszeiten ist, weit entfernt. Es hat nicht mehr die allgemeine Verständlichkeit, die auf der für jeden erfahrbaren Wahrnehmung der Phänomene der Jahreszeiten beruht. Doch sei an Mizuhara Shûôshi (1892-1981) erinnert, der sich anstatt für die Wahrheit in der Natur für die Wahrheit in der Literatur entschied, weil sie imaginäre Wahrheit präsentieren könne. Selbst wenn er eine Landschaft beobachtend beschreibe, sagte er, sei sie eine Mischung aus Erinnerungen, Einbildungskraft und Wünschen.

Die Frage nach dem literarischen Haiku und der Hinweis auf Mallarmé führen zum Beitrag von Pierre Courtaud: „Welche Modernität für das Haiku?“ („Quelle modernité pour le haïku?“). Es gelte, so Courtaud, die Form des Haiku, dessen neue Universalität sein System erschüttert und ihm eine neue Freiheit gegeben habe, praktisch in der heutigen Zeit zu reintegrieren. Humor sei eine der Kräfte, die dabei helfen könne. „Ein ausgezeichnetes haïku müsse sich der „Emotion-Intuition für die Leere“ („émotion-intuition de la vacuité“) öffnen, wobei die Reaktion des Lesers unmittelbar sei, markiert von diesem zarten Lächeln geheimen Einverständnisses am Rand der Lippen, Zeichen vollkommenen Einverständnisses und gleichzeitigen Zusammenklangs von Mensch und Welt, entschiedener Übereinstimmung zwischen Innerem und Äußerem, wo der Schleier der Ignoranz endlich zerrissen ist.“

Das Überleben des Haiku sei, so Courtaud, mit der Suche neuer Modelle verknüpft, Modelle, die der Welt von heute mehr entsprächen, wofür Jack Kerouac ausgezeichnete Beispiele liefere in „Trip Trap (Haiku on the road)“, einer Sammlung, in welcher Freiheit der Form, des Hintergrunds und des Lebens sich verbinden mit einer reinen Poesie des Augenblicks, was die alten literarischen und moralischen Tabus bersten lasse, zugunsten der radikalsten Aufgabe auf dem Gebiet des Schreibens, der des erfinderischen Muts und der absoluten Freiheit, „die von der Erleuchtung (oder der Vision) abhängt“.

Das Haiku entwickelte sich in Frankreich nicht gleichmäßig. Nach den Anfängen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts (die letzte französische Haiku-Anthologie vor der jetzt besprochenen stammt aus dem Jahr 1920) und einer darauf folgenden unbedeutenden Phase kam das Haiku, so Antonini, erst in den 70er Jahren mit zwei Bewegungen zurück: der der Beat-Generation mit Jack Kerouac, Gary Snyder und anderen und der Ausbreitung des Buddhismus und verwandter Praktiken wie Meditation, Yoga, Kampfkünste, Ikebana.

An den Entwicklungsbruch des französischen Haiku erinnert Ban’ya Natsuishi in seinem Beitrag „Haïku: die zweite Welle“ und hebt an den Haiku der Anthologie „die genauen Beschreibungen, den sogenannten ‚französischen’ Geist und die ontologischen Reflexionen“ hervor.

In der von ihm immer wieder gestellten Frage „Was ist ein Haiku?“ verweist Alain Kervern auf den Erneuerer Shiki und sein „pris sur le vif“, shasei, Skizze nach der Natur. Er weist darauf hin, daß die jahreszeitlichen Anspielungen im Haiku durch Schlüsselwörter universellen Charakters wie „Meer, Baum, Zukunft, Feuer, Wasser“ ersetzt werden können. In jeder Sprache könne das Haiku, ungeachtet der Regeln des Herkunftslands, die speziellen kulturellen Besonderheiten erschließen. In diesem Geist sei die Anthologie für die „Experimente des dichterischen und linguistischen Abenteuers“ offen.

In „Reflexionen über die Form der Haiku in französischer Sprache“ lädt Georges Friedenkraft zu einer „Promenade in den Rhythmus der Sprache“ ein. Mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht er traditionelle Formen, „Freiheiten gegenüber der traditionellen Metrik“, eine „Verbesserung des Rhythmus“ aufgrund größerer Freiheit von der Tradition, er zeigt die Stilmittel der „Assonanz“ und der „Alliteration“ und weist auf „diskrete Reime“ und auf das Stilmittel der „Wortwiederholung“ hin.

Daniel Py gibt in „Internet et le haïku“ einen Überblick über das frankophone Haiku im Internet. Frappierend sei die Entfaltung, die es erlaube, der unmittelbare und rasche Austausch und die Ausdehnung der angebotenen Möglichkeiten. Er hebt besonders die von André Duhaime (Québec) eingerichtete Seite „Haïku sans frontières“ (Haiku ohne Grenzen) www.pages.infinit.net und die von Serge Tomé (Belgien) betriebene Liste www.temps.libres.org hervor. [Beide September 2018 inaktiv.] Seinem Beitrag hat Daniel Py eine Liste frankophoner Webseiten angefügt.

Zum Schluß einige Haiku aus der Anthologie:

 

Dagadès

C’est l’hiver
il fait froid
rien
même pas la neige.

Es ist Winter
es ist kalt
nichts
nicht einmal der Schnee.

 

Jean Monod
Aus: Sur l’absence de lieu à Dario Villa (Auf die Abwesenheit des Orts in Dario Villa)

Conduisant – la neige
regarde s’ébattre les
nains de ma conscience …

Am Steuer – der Schnee
sieht die Zwerge meines Bewußtseins
herumtollen …

Vert anglais – rizières
hyperimpression
de Silvana Mangano …

Englisch Grün – Reisfelder
Hyperimpression
von Silvana Mangano …

 

Irène Gaultier-Leblond

Rêve de grandeur:
Rien qu’un carton à sa taille
Pour passer la nuit!

Traum von Größe:
Nichts als eine Pappschachtel in seiner Größe
Um die Nacht zu verbringen!

 

Jacqueline Labarthe

Elle arrive de loin
sur son Harley Davidson,
la femme tatouée.

Sie kommt von weither
auf ihrer Harley Davidson,
die tätowierte Frau.

 

Daniel Py

Sur la petite
route du cimetière
le soleil – mon père

Auf dem schmalen
Weg zum Friedhof
die Sonne – mein Vater

 

Anick Baulard

Craquement de poutre,
réveil en sursaut … vengeance
d’une forêt morte

Knacken im Balken,
aus dem Schlaf Auffahren … Rache
eines toten Walds

 

Yves Gerbal

Comment vont les enfants?
Demande-t-il
En sortant du cimetière

Wie geht es den Kindern?
Fragt er
Beim Verlassen des Friedhofs

 

Jean-Claude Coiffard

Le phare,
cyclope
nyctalope.

Der Leuchtturm,
Rundäugiger
nachtäugig.

 

Gilles Fabre

Mon livre préferé –
Je vais le relire sous
ce cerisier en fleur

Mein Lieblingsbuch –
Ich werde es wieder lesen unter
diesem Kirschbaum in Blüte

 

Dominique Chipot

femme dévêtue –
d’une main plus délicate
le colleur d’affiches

entkleidete Frau –
mit zartfühlenderer Hand
der Plakatkleber

 

Patricia Martineau

Matin de pluie
Le klaxon du boulanger
Au coin de la rue

Regenmorgen
Das Hupen des Bäckers
An der Straßenecke

 

Marie-Lise Roger
Aus: Quelquepart (Irgendwo)

Là-bas des charniers
sous la clarté lunaire …
Non, plus jamais ça.

Da drüben Massengräber
im Mondlicht …
Nein, nie wieder dies.

Sahel, sable et sel
mirage ou miracle
là, un arbrisseau.

Sahel, Sand und Salz
Fata Morgana oder Wunder
dort, ein Strauch.

 

Renée Gilard-Marchand

Oiseau
surfant sur l’eau
La Loire au crépuscule

Vogel
auf dem Wasser surfend
die Loire im Abenddämmern

 

Christiane Verlon

La dernière feuille
Me demande son chemin
le vent lui répond

Das letzte Blatt
Fragt mich nach seinem Weg
der Wind antwortet ihm

 

Übersetzungen : Mario Fitterer

 

Anthologie du HAIKU en France, sous la direction de Jean Antonini; Équipe de rédaction Bertrand Agostini, Georges Friedenkraft, Alain Kervern, Daniel Py, Pierre Tanguy, Lyon, ALÉAS, 2003, 161 Seiten, 16 Euro, ISBN 2-84301-072-1.

 

Ersteinstellung: 08.03.2005