Im Schelmengraben

Udo Wenzel rezensiert Mario Fitterers „EOS ES IST ROT ÜBERHOLT“.
Mafora Verlag 2007. 140 Seiten, gebunden, 19 Euro.
ISBN 978-3-929939-06-4

 

Mario Fitterer ist in der deutschen Haiku-Welt seit längerem als Erkunder der Grenzgebiete der Haiku-Dichtung bekannt, seine bisherigen Bücher sind Entdeckungsreisen in die Welt der modernen Lyrik. Was noch Haiku, was bereits Lyrik ist, dafür bieten auch die Werke seines neuesten Buches: „EOS ES IST ROT ÜBERHOLT“ (kurz: EOS) wieder Diskussionsstoff. Noch 1990 schrieb er im Nachwort zu „Der Skilehrer warnt Schatten weiterzuwachsen“: „Was in einem Augenblick entdeckt, erfahren, ein Ereignis der Gegenwart wird in siebzehn Silben – fünf, sieben, fünf in drei Zeilen – transparent.“, hielt sich aber bereits selbst in den darin veröffentlichten Gedichten nicht mehr generell daran. In seinen, in den 1990er Jahren erschienenen Büchern stellte er bereits poetologische Fragen, z.B. nach der Notwendigkeit eines 5-7-5 Silbenschemas, die erst seit wenigen Jahren wieder, im Zuge einer Erneuerungsbewegung des deutschsprachigen Haiku, stärker diskutiert werden. Doch in EOS gibt es so gut wie keine expliziten theoretischen Anmerkungen des Autors selbst. Stattdessen einige Zitate und wenige Verlagshinweise auf der Rückseite des Umschlags. Sind dies vielleicht Spuren einer Poetik? Folgen wir ihnen ein wenig.
Auf dem Schutzumschlag wird das Haiku in einem Satz als Gedicht beschrieben, das nicht mehr als 17 Silben enthält, jahreszeitenbezogen ist und Themen aus dem „existentiellen Umfeld“ berührt (wobei verwundert, dass dabei die Reise, aber nicht der Tod aufgezählt wird) und das „vielerlei Gestalt“ zeigt. Eine verwirrende Aussage, nicht nur weil sie weder zeitgemäß noch stimmig ist, es gibt Haiku mit mehr als 17 Silben und ohne offensichtlichen Jahreszeitenbezug – auch im vorliegenden Buch, ohne dass sie als ein vom Haiku abweichendes Genre ausgewiesen werden würden. Noch vor dem Hinweis auf die Silbenanzahl stößt der Leser auf Martialisches, auf ein Zitat aus einem Essay des Nachkriegsschriftstellers Wolfgang Weyrauch: „Mein Gedicht ist mein Messer“. Von einem „Messer“ erwarte ich sezierende Schärfe oder aber Gedichte mit einer gewissen Portion Aggressivität, Gedichte, die imstande sind, zu verletzen – und sei es den Autor selbst. Für Weyrauch war dieses Statement in den 1960er Jahren ein Plädoyer für eine kritisch engagierte Lyrik. Es gehe darum nicht stumpf zu werden, heißt es in dem Essay. Was aber haben die Haiku von Fitterer mit kritischem Engagement im von Weyrauch intendierten Sinne zu tun? Die Gedichte selbst nichts (auf die Prosatexte werde ich noch zu sprechen kommen), es sei denn, man löste das Zitat aus seinem Zeitkontext und deutete es so, dass Fitterers Dichtung geeignet sei, die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung zu „schärfen“. Tatsächlich finden wir aber in EOS nur wenige Haiku, die als Ergebnis eines geschärften Wahrnehmungsprozesses betrachtet werden könnten. Aber diese in „westlichen“ Diskursen häufig anzutreffende Zuschreibung ist ohnehin zweifelhaft. Warum sollte intensivierte Wahrnehmung haikuspezifisch sein? Schon bei der klassischen japanischen Haikai-Dichtung handelt es sich weniger um mimetische Gedichte, die die Realität abbilden will, sondern sie sind wesentlich intertextuell konstituiert. Sie leben von ihrem Anspielungsreichtum. Da vieles darauf hinweist, dass in Fitterers Dichtung Intertextualität ebenfalls eine tragende Rolle spielt, ließe sich die Messer-Metaphorik also vielleicht so auflösen, dass Fitterer aus der zeichenhaft vermittelten Wirklichkeit Teile herausschneidet und sie neu kombiniert. Den Texten selbst ist denn auch als Motto ein Satz des strukturalistischen Semiotikers Roland Barthes vorangestellt: „Das Zeichen ist ein Riß, der sich stets nur auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet.“ Auf dessen programmatischen Charakter werde ich zurückkommen, doch zunächst auf Seite sieben, dreisprachig, noch ein Zitat (von Phillippe Jaccottet) das sich ebenfalls im Folgenden nicht einlöst. Man fühlt sich von diesen Zitaten und Hinweisen ein wenig an der Nase herumgeführt.

staunen
buschwindröschen
im schelmengraben

lautet eines der Gedichte von Fitterer. Möchte man uns vielleicht in die Irre leiten, ähnlich wie es schon der Schutzumschlag des Buches tut? „EOS ES IST ROT ÜBERHOLT“ steht da in großen Lettern auf grünem Papier. Gehört die Täuschung, oder genauer gesagt, das Spiel mit Verweisen und Wörtern zu einem der grundlegenden Merkmale des Buches? Das Motto: „Das Zeichen ist ein Riß, der sich stets nur auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet.“ entstammt dem 1988 geschriebenen Buch „Das Reich der Zeichen“, in dem sich Roland Barthes mit „Japan“ auseinander setzte, bzw. mit „Japan“ spielte. Barthes selbst wies darauf hin, dass ihm das reale Japan „gleichgültig“ sei und lediglich Lieferant von Material für sein „Spiel“ (Barthes 1981: 13).

Eine mögliche, wenn auch mit vielen Unschärfen behaftete Grenzziehung zwischen dem Haiku und moderner Lyrik könnte sein, dass das Haiku stärker eine Dichtung von den Dingen her ist und nicht von der Sprache her (wobei diese Unterscheidung höchstens graduell sein kann). Fitterers Gedichte wären somit weiter im Bereich der modernen Lyrik anzusiedeln. Das Spiel der Verweise und Zitate setzt sich in den Texten selbst fort, als einzelne Verszeilen finden wir Satzsplitter von Ingeborg Bachmann, Theodor Storm, Hölderlin, Seneca, Verweise auf Vergil, Ovid u.a., erkennbar an der kursiven Setzweise.

wieviele priele
passiert
Und Dämm’rung bricht herein

Ein intertextuelles Spiel mit Zitaten also, wie es schon die Haikai-Literatur kannte. Ich bin unentschieden, ob dies in jedem Fall stimmig eingesetzt wurde. Im obigen Beispiel wird durch das Zitat dem Gedicht von Storm kein wichtiger neuer Aspekt hinzugefügt, es bleibt beim bloßen Zitat. Gelegentlich empfinde ich die zarten Gedichte von der Bedeutungsschwere der Zitatzeile überfordert. Manches wirkt in seiner Ernsthaftigkeit allzu prätentiös. Hier ein gelungenes, auch wegen des Neologismus in der mittleren Zeile, besonders ansprechendes Exemplar:

über die pappelbrücke
flirrlichtig
wohin denn ich

Die äußere „Flirrlichtigkeit“ korrespondiert mit einem inneren Seelenzustand, die beiden erleuchten sich gegenseitig, die Hölderlin-Zeile eröffnet und verengt zugleich den Interpretationsraum.

Fitterers Sprachspiele empfinde ich dort als gelungen, wo Leichtigkeit und hintergründiger Humor aufschimmern. Schon der Titel ist dafür ein gutes Beispiel. Für EOS sind alle Ampeln grün, sogar die roten. Es gibt mehrere Straßen-Haiku, die ganz unromantisch Gewöhnliches in einem verrückten Kontext zeigen. Da liegt z.B. plötzlich eine Verwandte von Schrödingers Katze auf einer auf den Asphalt gemalten „30“, und der Leser weiß nicht, ob sie schon tot oder noch lebendig ist. Dergleichen zu entdecken, macht Spaß.

Passagenweise aber las ich die Gedichte nicht ohne Achselzucken, nicht immer tun sich Echoräume auf. Auch manches graphische Arrangement wirkt zu vordergründig. Sind manche Haiku zu banal, so ersticken andere an ihrer potentiellen Bedeutungslast. Dem poetischen Gebilde wird die Leichtigkeit geraubt, es droht zu ersticken:

stauwasser
es atmet
mehr und meer

Um als moderne Lyrik zu bestehen, erschienen mir viele der Gedichte anfänglich zu kurz. Ich vermisste oft die typische Vielschichtigkeit, auch sprachreflexive Elemente fehlen. Man wünscht sich die Nähe zu weiteren Zeilen, damit sie sich an anderem erhellen können und ein größerer Bedeutungshof entstehen kann. Kommen wir noch einmal zu Barthes’ erwähntem Zitat zurück. Es steht in „Das Reich der Zeichen“ auf Seite 76 als Bildunterschrift zur Schwarzweiß-Fotografie einer Holzstatue. In der Mitte des Gesichts eines Buddhas klafft ein anderes Gesicht, das eine im anderen verborgen. In „Das Reich der Zeichen“ gibt es viele Abbildungen von Gesichtern, oft bilden diese Paare. Bedeutung erlangen Bilder und Texte nur in Verbindung mit anderen Signifikanten, das Bedeutete spielt keine Rolle. Nach Barthes’ Philosophie ist das Relais der Signifikanten wichtig, die hermeneutische Lektüre wird ad absurdum geführt. Solche Paarungen gibt es auch in EOS, sehr viele sogar. Häufig enthält die linke und die rechte Seite gleiche oder zumindest korrespondierende Elemente. Liest man sie zusammen, scheinen sie sich zu ergänzen, manchmal auch kontrastieren sie, das eine öffnet sich erst mit Hilfe des anderen. Liest man Fitterers EOS auf diese Weise, entstehen neue Bedeutungsebenen und der Zauber der Poesie beginnt zu wirken. Man experimentiere einmal und lese die rechte obere Zeile nach der linken oberen Zeile, springe dann erst auf die nächste Zeile usw. Dadurch entstehen neue, oft ansprechende und durchaus stimmige Gedichte.

blindensee                              blindensee
schwarze stille                      spiegelnd
xylophoner              windradgeräusche
steg

Unklar bleibt, ob diese Lesweise von Mario Fitterer tatsächlich intendiert ist, aber ohnehin überholt der Bedeutungsreichtum eines gelungenen Textes die Absichten seines Verfassers.

Gelegentlich verwendet Fitterer reale Ortsnamen. Im obigen Beispiel, wie schon im „schelmengraben“-Haiku auf besonders gelungene Weise. Der Blindensee, ein Hochmoorsee im Schwarzwald, wirkt überhöht und vermittelt eine surreal traumhafte Stimmung.

Neben den Haiku enthält das Buch eine Reihe von Prosaskizzen, die ein Haiku enthalten, das meistens am Textende steht. Die Skizzen handeln von existentiellen Themen, viele erzählen von Randexistenzen oder beschreiben soziale Nöte. Die konzentriert formulierten Miniaturen haben mir am besten gefallen. Der Stil ist souverän und dicht, auch dort werden häufig gelungene Neologismen und Metaphern verwendet. Alles ist kleingeschrieben, was der Prosa einen lyrischen Anstrich gibt. Allerdings empfinde ich aufgrund der stilisierten und sprachlich hervorragenden Prosa häufig ein Missverhältnis gegenüber dem folgenden Haiku, das angesichts der Stärke der vorhergehenden Prosa blass oder allzu pointiert wirkt. Eine gelungene Kombination dagegen ist, wenn das Haiku am Textanfang steht oder ein Haiku auf der linken Seite mit einem Prosatext auf der rechten Seite zusammenspielt.

Kann man Fitterers Gedichte noch Haiku nennen oder sind sie schon moderne Lyrik? Viele legen Zeugnis davon ab, dass das zeitgenössische deutschsprachige Haiku der modernen Lyrik so sehr zum Verwechseln ähnlich werden kann, dass eine klare Grenzziehung nicht mehr möglich ist. Innerhalb eines gewissen Rahmens entscheidet der Autor selbst, ob es sich um ein Haiku handelt oder nicht, einfach indem er es „Haiku“ nennt. Diesen Rahmen aber sprengt Fitterer, wenn er z.B. ein fünfzeiliges Gedicht als Haiku veröffentlicht. Die Strukturmerkmale sollten soweit übereinstimmen, dass das Werk auch als Haiku wiedererkennbar ist. Die Überschrift „Haiku“, z.B. über einem Sonett würde aus diesem noch lange kein Haiku machen. Einer der Fünfzeiler ist gar im Silbenschema 5-7-5-7-7 geschrieben, die Nähe zum Tanka ist also so groß, dass es keinen Sinn ergibt, dies unter „Haiku“ zu subsumieren. Auch bleibt unverständlich, warum die in der Manier der „Visuellen Poesie“ geschriebenen „Wortbilder“ Haiku genannt werden sollten.

Bei der Lektüre des Buches wird erkennbar, dass die Aufteilung in eine Dichtung von den „Dingen“ bzw. von der Sprache her künstlich und irreführend ist. Eine Haiku-Dichtung, die nur aus der spontanen Zeigegeste des Kindes existiert, hat es, außer in Barthes künstlerischem Kommentar über das „Reich der Zeichen“ (S. 115), nie gegeben und wird es nie geben. Dichtung und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden. Am Ende geht es also doch darum, nicht „stumpf“ zu werden. Auch wenn offen bleibt, ob jedes ausgestreute Zitat tatsächlich mit messerscharfem Verstand ausgewählt wurde, zeugt EOS ES IST ROT ÜBERHOLT doch davon, dass Fitterer wach und aufmerksam geblieben ist für die Sprache und das Spiel ihrer Möglichkeiten.

 

Ersteinstellung: 15.12.2007