Sabine Sommerkamp 2024: Im Herzen des Gartens

Rezension von Rüdiger Jung

Sabine Sommerkamp (2024): Im Herzen des Gartens – Tanka und Haiku. Rotkiefer Verlag, Berlin. 104 Seiten. ISBN Hardcover 978-3-949029-26-4, 17 € / ISBN Paperback 978-3-949029-23-3, 8 €

 

Einmal abgesehen von dem frühen Privatdruck „58 Haiku“ (Hamburg 1979) und den kürzlich erschienenen „17 Ansichten des Berges Fuji – Bilder und Tanka“ (Verlag Jumava 2020, Iudicium Verlag 2021) hat sich Sabine Sommerkamp vier weitere Male mit der Kurzlyrik nach japanischem Vorbild auseinander gesetzt, und jedes Mal in ganz unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichem Blickwinkel.

1984 publizierte sie ihre Dissertation „Der Einfluss des Haiku auf Imagismus und jüngere Moderne“, der nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan und den USA rasch den Rang eines Standardwerks zugebilligt wurde und die daher 2023 als erweiterter Neudruck vom Iudicium Verlag veröffentlicht wurde. 1989 erschien der Gedichtband „Lichtmomente“, der unter anderem Tanka, Haiku und Dreizeiler im Haiku-Metrum enthält. 1990 folgte das Haiku-Märchen „Die Sonnensuche“ in großartiger Aufmachung und einer Auflage von zunächst 8.000 Exemplaren, das in mehrere Sprachen übersetzt und literarisch ausgezeichnet wurde.

Teil des „Haiku-Preises zum Eulenwinkel“ war die Finanzierung der Tanka- und Haiku-Ausgabe „Im Herzen des Gartens“, die 1993 im Verlag Graphikum erschien und schon bald vergriffen war. Mit vorliegender erweiterten Buchausgabe ersteht diese vorzügliche Sammlung nun 30 Jahre später erneut vor den Augen der Tanka- und Haiku-Freunde.

Strenge und sorgfältige Komposition prägen „Im Herzen des Gartens“. Sabine Sommerkamp weiß genau und eingehend um die Wurzel des Haiku im Zen-Buddhismus. Und hat doch – und mit Recht! – keinerlei Scheu, grundlegende Zahlen biblischer Symbolik ihrer Komposition zugrunde zu legen: 3 und 4 (für Gott und die Welt sowie Sunme (4+3 = 7) und Produkt (3×4 = 12) als Signete der Vollkommenheit. Natürlich treffen sich diese Ziffern und Zahlen auch mit einem zyklischen (nicht linearen! Das scheint mir wichtig) Zeitempfinden: vier klassische Jahreszeiten, sieben Wochentage, die zwölf Monate eines Jahres.

Die drei 12-teiligen Tanka-Zyklen haben eines der vornehmsten Themen der Waka-Dichtung zum Gegenstand: die Liebe! Es war das höfische Mittelalter Japans, das dafür die nuanciertesten und am meisten verfeinerten poetischen Aussagen traf. Man kann sich an den einzigen deutschen Dichter erinnert fühlen, der buchstäblich dem Impressionismus zugeordnet wird: Detlev von Liliencron (1844-1909). In gewissem Sinne wandelt die moderne Liebeslyrikerin Sabine Sommerkamp auch auf seinen Spuren, wenn sie ihre Tanka-Zyklen auf die hauchfeine Kunst höchster Modulation und Modifikation gründet. Die Titel der drei Tanka-Zyklen haben etwas von einem Vexierspiegel. Dazu passt in der Tat nicht die lineare, dazu passt die Kreis-Struktur. Sie ortet im Endlichen das Unendliche; sie trifft inmitten der Zeit die Ewigkeit.

Aus jedem der drei Tanka-Zyklen möchte ich jeweils ein Waka herausgreifen, das die hohe Achtsamkeit und Sensitivität der Autorin belegt:

Aus „Im Herzen des Gartens – Im Garten des Herzens“:

Die blauen Disteln –
in der ersten Dämmerung
noch fahl wie Asche.
Welch ein Gedanke – mit Dir
einst in den Morgen zu ziehn.

(Im Herzen, S. 10)

Aus „Traumhafte Wahrheit – Wahrhafter Traum“:

Auf dem Fenstersims
vor Deinem leeren Zimmer
sitzt eine Taube.
Unentwegt sieht sie mich an –
ob sie ahnt, was ich fühle?

(Im Herzen, S. 19)

Aus „Im Spiegel der Tiefe – In der Tiefe des Spiegels“:

Abends kommt Wind auf,
streicht sanft über mein Gesicht.
Er weht von Osten,
von dort, wo Du weilst. Er muss
Deine Hand berührt haben.

(Im Herzen, S. 26)

 

Ob Imma von Bodmershof als „Lehrmeisterin“ einen Anteil daran hat? Auf jeden Fall ist Sabine Sommerkamp eine der subtilsten dichterischen Stimmen, die das deutsche Haiku hervorgebracht hat:

Mein Gärtchen verkauft –
wie anders klingt auf einmal
der Vögel Gesang!

(Im Herzen, S. 35)

Das erste Wort ist – dem dritten ist`s geschuldet! – auf verlorenem Posten. Selbst das zärtliche Diminuativ, das versucht, sich dazwischen zu drängen, vermag nichts mehr zu retten. „wie anders“ – diese Worte sind es, die der Leser mit seinem eigenen Leben, seiner eigenen Erfahrung zu füllen hat. Verblüffend, dass ein starker Schub an Melancholie die Ambivalenz nicht völlig auflöst. Natürlich: der Verlust! Andererseits: kann ein Mensch auf Erden überhaupt etwas besitzen, das mehr als ein Leihgut ist? Wenn nein: Ist dann nicht die zerstörte Illusion von Besitz vielleicht ein Grund, den Gesang der Vögel „anders“, befreiter zu hören – mit metaphysischer Heiterkeit?

Mein Bäumchen gefällt,
der Sonne nun viel näher –
aber der Schatten!

(Im Herzen, S. 45)

„der Sonne nun viel näher –“ ein rechter Sophismus! Wissenschaftlich kaum haltbar oder doch irrelevant. So klingt am ehesten ein halbseidenes Versprechen der Werbung. Wie es mir immer noch (vielleicht mehr denn je) „gefällt“ – mein Bäumchen, gefällt! Die dritte Zeile, nach dem Kireji am Ende der zweiten, trägt das ganze Gewicht der ernüchternden Wahrheit: „aber der Schatten!“: Hier weiß jemand, was er hatte und nicht mehr hat, was eindeutig – ganz eindeutig! – auf die Verlustseite gehört.

Jenseits blühn Rosen –
ich hier, diesseits der Mauer,
atme ihren Duft.

(Im Herzen, S. 49)

Genug der Verluste – sprechen wir von einem Geschenk. Das wahrzunehmen und doch weder zu greifen noch zu halten ist. „Jenseits“, „diesseits“, eine „Mauer“ – gewaltige Ferne und eine Barriere. Und doch erreicht der Duft sein Ziel, wird zu Atem und Lebens-Odem! Hier waltet einer der archaischsten Sinne – der Geruchssinn, dem Geschmackssinn verschwistert. Der weit zurückreicht – bis hin zu Kindheit und Paradies!

Rot sinkt die Sonne –
am Strauch die Hagebutte
leuchtet samenschwer.

(Im Herzen, S. 63)

Nicht hypotaktisch, parataktisch führt das Haiku zwei Wahrnehmungen, zwei Sinneseindrücke zusammen – mit dem Kireji des Bindestrichs als einem zerbrechlichen Zaun. Keine kühne Metapher, keine Worte, die sich verheben. Vielmehr zwei Bilder, die sich in- und übereinander legen. Die Sonne, die Hagebutte – wer weiß sie noch voneinander zu scheiden? Die dritte Zeile fragt nicht mehr danach, steckt selbst randvoll von potenziertem Leben!

Winterfrostmorgen –
heiserer klingt die Krähe,
klarer die Glocke.

(Im Herzen, S. 69)

Wie stark und wie verblüffend ist dieser doppelte Komparativ, dem die erste Zeile gleichsam die Exposition geliefert hat. Zwei Komparative, vermeintlich parallel und doch entgegengesetzte Richtungen einschlagend. „heiserer“ klingt nach einem von lebensgefährlicher Kälte verletztem, versehrtem Leben. Die zunehmende Klarheit des Glockenschlags indes verweist auf etwas, das über unsere Verletzlichkeit und Vergänglichkeit hinausreicht, dazu angetan ist, auch uns beidem einmal für immer zu entziehen.

Vom kahlen Baume
fliegt die Krähe krächzend fort –
Wintereinsamkeit.

(Im Herzen, S. 73)

Die japanische Poesie lebt von der Natur – auch von der, die bereits Poesie geworden ist. Eines der berühmtesten Haiku Matsuo Bashōs (im Deutschen hat sich auch Arnfried Astel davon inspirieren lassen) ist jenes von der Krähe im Herbst, die den Ast, auf dem sie saß, verlässt und in Schwingung versetzt. Ein Japaner wird Sabine Sommerkamps Haiku, ins Japanische übersetzt, um diese Assoziation bereichert lesen. Angedeutete literarische Bezüge machen ein Haiku nicht schwächer oder kleiner: sie potenzieren den ohnehin schon großen Hof an Konnotationen. Interessant, dass das durchaus auch in der deutschen Poesie grundsätzlich möglich ist. Ist es doch durchaus angezeigt, bei der „Wintereinsamkeit“ ein anderes Kompositum mitzuhören, den berühmtesten Gedichttitel von Hermann Allmers (1821-1902), die „Feldeinsamkeit“ oder die beschwörend besungene „Waldeinsamkeit“ eines Ludwig Tieck (1773-1853).

Durch die Winternacht
das Brechen eines Astes –
Stille wie zuvor.

(Im Herzen, S. 80)

Mir ist, als hätte Sabine Sommerkamp im letzten Haiku das Höchstmaß an Konzentration und Prägnanz erreicht. Ein ganz begrenztes, alltägliches Wahrnehmen, das gleichwohl ein Äußerstes an existentieller Tiefe auslotet: ein brechender Ast in der Winternacht. Ein so kostbarer Sinneseindruck, dass ihn die Schlusszeile gleichsam versiegelt: „Stille wie zuvor“. So fragil, so zerbrechlich, so hinfällig, so kostbar ist unser Leben im Hier und Jetzt, an beiden Enden unseres Daseins von einer Stille umgrenzt, die unausforschlich ist.