Rezension Tauchner 2019

von Volker Friebel

 

Dietmar Tauchner (2019): Ikonen des Windlieds – Kurzgedichte. Cyberwit.net, Allahabad (Indien). 84 Seiten, 15,00 US$. ISBN: 978-93-89074-15-4.

 

Das Buch enthält in sechs Rubriken 69 Haiku von Dietmar Tauchner, jedes auf Deutsch, Englisch und Hindi. Der Veröffentlichungsort, Allahabad, Indien, passt zur Selbstbeschreibung des Autors als Reisender. Tatsächlich wurde der Kontakt zum Verlag auf einem Haiku-Festival in Litauen geknüpft. Ein schönes Beispiel für die weltweite Verbreitung des Haiku. Allerdings auch für die Tatsache, dass die Liebhaber dieser Gedichtform, von Dichtung überhaupt, selten sind und weit verstreut leben.

Als Kurzgedichte bezeichnet der Untertitel die Texte. Es sind Haiku unserer Zeit. Die meisten wurden in englischsprachigen Haiku-Journalen erstveröffentlicht.

Haiku von Dietmar Tauchner zu lesen, ist ein besonderer Genuss – und eine besondere Herausforderung. In fast allen Texten findet sich eine moderne Umsetzung der Themen, die Menschen schon immer bewegt haben. Die Spanne des Autors ist dabei sehr breit. Einige Beispiele.

mondhelles Meer
der alte Mann im Hafen
sieht fern

Wie in manchen anderen Texten mag man hier in der Gegenüberstellung des Fernwehs der Romantik und seiner platten Wiedergeburt als Fernsehabend auch Zeitkritik oder grundsätzlich Kritik an der menschlichen Unzulänglichkeit sehen. Sie bleibt aber ganz in der Beschreibung und verzichtet wohltuend darauf, für den Leser das Bild gleich zu bewerten und sich damit über ihn erheben zu wollen.

Winternacht
das Wohnzimmer voller Welten
aus Worten

Die Gleichförmigkeit der Winternacht wird von den Alliterationen getragen. Ist es vielleicht eine zu viel? Verändere ich „Wohnzimmer“ in „Zimmer“ wird der Text allerdings noch kahler. Als Wohnzimmer kommt eine gewisse Behaglichkeit hinein, bei der man überlegen kann, ob sie eher stört oder durch den Kontrast zur Winternacht die Stimmung einer Insel in diesem dunklen Meer fördert – und eben durch dieses vierte W dennoch einen Gleichklang dieser Behaglichkeit mit der Verlorenheit des Winters aufzeigt.

Neubau die Patina aus Herbstmond

Die Gegenüberstellung des Neubaus und des Herbstes, des sehnsuchtsvollen Herbstes, ist von schon sehr vielen Haiku-Autoren versucht worden. Dass sich aus einer solchen Gegenüberstellung auch bei nur neun Silben immer noch neue Texte gestalten lassen, zeigt Tauchner mit seiner Patina, die auf das Neue bereits die Farben des Vergehenden legt – und mit seiner überraschenden Betonung, die das Neue eher negativ assoziiert, das Vergehen aber mit Schönheit.

trüber Tag
ziehe mich zurück
in einen Regentropfen

Die Kunst, aus nichts etwas zu machen, wird im Haiku besonders geschätzt. Es sind nicht unbedingt die besonderen Erlebnisse, die Schicksalsstunden, die im Haiku zur Sprache kommen wollen, sondern das, was gerade ist. Aus ganz einfachen Situationen wie dem trüben Tag, einem Neubau, einer ereignislosen Winternacht, dem Fernsehflimmern in einem Fenster, Kunst zu schöpfen, diese Gabe macht unser Leben und unsere Welt reicher.

Die Stimmung der meisten Texte ist eher melancholisch. Wer lustige oder leicht zu lesende Texte sucht, wird von diesem Buch vermutlich weniger angesprochen werden. Wer hohe Sprachkunst und neue Anregungen schätzt, liegt dagegen richtig.

Bestellbar ist das Buch über Amazon.com (USA) und Amazon.in (Indien), Versandkosten kommen bei beiden hinzu. Versandkostenfrei gibt es das Buch direkt beim Verlag, zu begleichen über PayPal:
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