Haiku fotografieren

Buchbesprechung von Volker Friebel

 

Martin Timm (2016): Haiku fotografieren. Ein neuer Ansatz für die Naturfotografie. Münster: Fotoforum-Verlag. 168 Seiten, fest gebunden, 29,90 Euro.

Fotos als Gedichte betrachten – und manche davon als Haiku. Der Fotograf Martin Timm führt in seinem Buch Elemente asiatischer Ästhetik in die Naturfotografie ein. Zen, Wuwei, Wabi-Sabi – aus solchen Konzepten findet Timm einen Weg fort vom schönen, makellosen und gut ins Bild gesetzten Motiv zum offenen Raum, geknickten Halmen, Regenfäden, verwischten Spuren von Zweigen im Wind.

„WabiSabi ist ein ästhetisches Konzept, das nichts mit den westlichen Idealen von makelloser Frische zu tun hat, sondern die Zeichen erlebter Geschichte ehrt.“ (56) Im Wabi-Sabi-Konzept betone man Spuren. So gilt nicht etwa die perfekte neue Teeschale als schön, sondern die alte, beschädigte. „Aber das Haiku“ – und damit meint Timm nicht das Gedicht, sondern seine Art der Fotografie – „geht einen radikal anderen Weg. Mit ihm erscheint die Gegenwart selbst: der Moment, in dem diese Spuren entstehen, und zwar als Verlauf zum Nacherleben. […] Ich erlebe mit und sehe nichts mehr an, sondern bei etwas zu. Mit der Kamera zeige ich nicht mehr, wie etwas aussieht – ich zeige, wie es stattfindet […].“ (78)

Timm verzichtet in seinem sehr persönlich gehaltenen Buch dazu auf spektakuläre Motive, Landschaftsbilder, bunte Arrangements, romantische Stimmungen, Gefälligkeiten – auch auf künstliche Konstruktionen und überfrachtende Symbolik. Er bewegt sich mit seiner Kamera lieber bäuchlings zwischen den Grashalmen einer Wiese. Auf Augenhöhe mit den Motiven sein, mit ihnen leben (soweit das geht) …

Ich bin mir bei der Darstellung der asiatischen Hintergründe seiner Konzeption nicht immer sicher, da scheint mir doch hin und wieder etwas ineinander und durcheinander zu laufen. Überzeugend finde ich aber die fotografischen Ergebnisse, die im schönen, fest gebundenen Buch dokumentiert sind.
Meist sind es Gräser und Zweige, Striche des Regens, ganz viel verschwommener Raum. Nicht nur die Geschichte, der Makel, die Schönheit und Persönlichkeit im Makel werden gesucht, sie werden manchmal sogar bewusst hergestellt, durch fehlerhafte oder unvollkommene Blenden, Verzicht auf Gegenlichtblende, Unschärfe, Vignettierung und Verzeichnung, Doppelkonturen, Wischs und Verwackelungen, mechanische Kratzer und Fussel, Filmkorn- und Pixelstrukturen, Bildrauschen … Nah- und Makroaufnahmen sind sehr häufig. Im Buch gibt es viele praktische Tipps zum Vorgehen, es ist durchaus als Lehrbuch gedacht.

„Hübsche Naturfotos lösche ich meist“, schreibt Timm. Auch schöne Blumen können in den Fokus der Haiku-Kamera kommen – aber mit solchen gefährlichen Motiven umzugehen sei eine hohe Kunst, Anfänger sollten das Schöne besser meiden. „Unauffällige oder makelhafte Motive sind der ideale Einstieg.“

Ein gutes Buch ist eines, das inspiriert. Timm ist ein solches gelungen. Man möchte mitmachen. Ich suche meine Kamera …

Der erste Verweis führt auf die Netz-Präsenz des Autors, mit Texten und Fotos zum Thema. Der zweite Verweis führt zu einer Leseprobe auf den Seiten des Verlags:

http://timmfotografien.de/
https://www.fotoforum.de/haiku

 

Ersteinstellung: 12.08.2016