D’un ciel à l’autre – Von einem Himmel zum anderen

Eine Haiku-Anthologie mit Autoren aus 16 europäischen Ländern
Mario Fitterer

 

Die 2003 gegründete l’Association française de haïku (L’AFH), die Französische Haiku-Gesellschaft, ist erstaunlich aktiv. Vierteljährlich erhält der Abonnent zur Haiku-Zeitschrift „GONG“ eine 30-40seitige Haiku-Sammlung eines Autors. In diesen Tagen edierte L’AFH unter dem Titel „D’un ciel à l’autre“ (Von einem Himmel zum anderen) eine „Haiku-Anthologie der Europäischen Union“ mit 221 Haiku von 66 AutorInnen und mit farbigen Illustrationen von Senadin Tursic, der seit 1992 in Frankreich lebt und als Maler und Graveur arbeitet. Einige Themen waren vorgegeben: Anfang April, die Nacht, der Baum, der Nationalfeiertag, das offene Fenster.

Dominique Chipot, Mitbegründer und Präsident der L’AFH, beschränkt sich im Vorwort im wesentlichen auf den Hinweis, daß hinter den Szenen harmloser Erscheinung, wie sie sich dem Autor im Augenblick ihrer Wahrnehmung enthüllen, Empfindungen, Emotionen transparent werden müssen, die den Leser fesseln. Er rät ihm, sich von der Magie des Haiku über seine wenigen Zeilen mitreißen zu lassen, wohin ihn seine plötzlich auftauchenden Erinnerungen wohl führen werden.

„Fenêtre ouverte“, offenes Fenster, Stichwort für siebenunddreißig Haiku, ist auch Kennzeichen der Anthologie. Sie versammelt Texte von Autoren aus sechzehn europäischern Ländern in deren Muttersprache, in Französisch, Englisch und Japanisch mit Kanji und Hiragana. Das europäische Haiku, wenigstens das der Anthologie, zeigt sich weitgehend von der engen Bindung an das japanische Original gelöst. Das Free-style-Haiku ist neben dem siebzehnsilbigen selbstverständlich geworden. Sogar Ein-, Zwei- und Vierzeiler tauchen auf, und Haiku von erstaunlicher Kürze:

Schwarzmond,
der Duft
von Flieder

Lune noire,
l’odeur
du lilas

Gerd Börner (Deutschland)

Das Thema Nationalfeiertag gibt rund 25 Haiku die Wende ins Politische. Die Technik ist mit einigen Texten, vor allem mit Motiven des Straßenverkehrs, vertreten. Insgesamt nehmen naturnahe Situationen einen breiten Raum ein.

sólo pasos
en la gravilla
y la luna

nichts als Schritte
auf dem Kies
und der Mond

Isabel Asúnsolo (Spanien)

14/07/2005
acrobaties aériennes
des hirondelles

14/07/2005
Kunstflüge
der Schwalben

Damien Gabriels (Frankreich)

pred zmenkom
na slepo – vplačam loto

Vor dem ersten Rendez-vous
spiele ich Lotto

Edin Saračeviċ (Slowenien)

„D’un ciel à l’autre“ ist eine interessante Anthologie. Der Leser findet reichlich Gelegenheit zum Verweilen bei Texten mit dem elementaren ursprünglichen Haikuelement der Andeutung und des die Worte abschneidenden leeren Raums.

nuit sans lune
dans un verre d’eau une aspirine
disparaît

Mondlose Nacht
in einem Glas Wasser verschwindet
ein Aspirin

Jean-Christophe Cros (Frankreich)

Skidåkaren stannar
för att lämna rum
år snöns tystnad

der Skiläufer hält an
um dem Schweigen des Schnees
Raum zu lassen

Kai Falkman (Schweden)

 

D’un ciel à l’autre, Anthologie de haïku de l’Uniom Européenne, illustrée par Senadin Tursic, 293 p., éd. par l’Association française de haïku, 2006 – ISBN 2-9522178-0-7.

Deutsche Übersetzungen der Haiku von Mario Fitterer.

 

Ersteinstellung: 10.09.2006