Inahata Teiko: Welch eine Stille!

Die Haiku-Lehre des Takahama Kyoshi
Udo Wenzel

 

Inahata Teiko: Welch eine Stille! Die Haiku-Lehre des Takahama Kyoshi. Herausgegeben von Stefan Wolfschütz. Mit einem Geleitwort von Ekkehard May. Hamburg: Hamburger Haiku Verlag, 2006. 88 Seiten, ISBN 3-937257-12-8.

Takahama Kyoshi (1874-1959) war einer der beiden einflussreichsten Schüler von Masaoka Shiki (1867-1902), mit dessen Modernisierung die Geschichte des Haiku als literarische Gattung beginnt. Während Shiki das Haiku für neue Einflüsse öffnete, war es Kyoshi, der es erneut begrenzte. „Erhalte-das-Alte“ (Shuky-ha) lautete der Name seiner Haiku-Gruppe. Mit Hilfe der von ihm ab 1889 geleiteten Literatur-Zeitschrift Hototogisu begründete er das so genannte „traditionelle Haiku“ gegen Modernisierungsbestrebungen anderer Haiku-Dichter – zum Beispiel seines Rivalen und Freundes Kawahigashi Hekigoto (1873-1937) – die in ihren Reformbestrebungen noch über Shiki hinaus gingen, und führte es zum Erfolg. Nach dem Tod Takahama Kyoshis übernahm zunächst sein Sohn Takahama Toshio (1900-1977), danach die Enkelin Inahata Teiko (geboren 1931) die Herausgeberschaft der größten Haiku-Zeitschrift Japans. Inahata Teiko ist Begründerin und Präsidentin der japanischen Gesellschaft für das traditionelle Haiku. Der Hamburger Haiku Verlag hat nun Passagen eines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzen lassen. Es handelt sich dabei um Ausschnitte aus Haiku Junikagetsu – Shizen to tomoni ikiru Haiku („Zwölf Monate mit Haiku – Zwölf Monate mit der Natur leben“), worin Inahata Teiko die Haiku-Lehre ihres Großvaters vorstellt. Übersetzt wurde das Buch von der Leiterin des Münchner Haiku-Kreises, Takako von Zerssen, auf deren Initiative hin auch Bilder und Zeichnungen aus dem Kyoshi-Museum in Ashiya in das Buch aufgenommen werden konnten. Zudem enthält es einige Kalligraphien von Kyoshi selbst, die uns auf ansprechende Weise Haiku „im Original“ erleben lassen.

In der vorliegenden übersetzten Kurzfassung des ursprünglichen Werkes finden sich auf sieben Seiten sieben Lektionen von Kyoshi, die im Anschluss von Inahata Teiko kommentiert und mit Haiku-Beispielen erläutert werden. In einem Grußwort weist der Japanologe Ekkehard May darauf hin, dass die Unterweisungen in dichterischer Sprache geschrieben und daher schwierig zu verstehen seien. Dies lässt sich allerdings in der deutschen Übersetzung nicht mehr nachvollziehen; sie sind in einfacher Sprache gehalten und wirken leicht verständlich. Die Lektionen behandeln die Notwendigkeit des Kigo (Jahreszeitenwort), die Bedeutung des Morenschema 5-7-5, Einfachheit und Klarheit im Haiku, die Wichtigkeit des Shasei und die Funktion des Haiku als Grußwort.

Das Haiku ist nach Kyoshi ein Gedicht, welches „Blumen und Vögel besingt“ (kachô fûei). Im Vordergrund stehe das Kigo, im Gedicht verborgen sei das subjektive Angerührtsein des Dichters. Entgegen einer Zen-orientierten Rezeptionsweise, derzufolge das Haiku ein spontaner und im Grunde kunstloser Ausdruck einer Erleuchtung sei, steht Kyoshis Auffassung vom Haiku als Gruß. Er rekurriert hierbei auf die Funktion des Startverses (hokku) in der klassischen Renga-Dichtung, der oftmals Grußwort für den Gastgeber war und entwickelt dies dahingehend weiter, dass ein Haiku auch ein „Gruß an die Natur, … an die Menschen, an sich selbst oder aber an transzendente Wesen wie Götter …“ (Seite 76) sein könne. Die Kunst der Haiku-Dichtung besteht also unter anderem darin, mehrere sich überlagernde Bedeutungsebenen zu kreieren.
Auch wenn der Band inhaltlich nur wenig neue Aspekte aufzeigt, ist es doch interessant zu beobachten, auf welche Weise hier Haiku-Politik betrieben wird. Zwar werden andere Haiku-Richtungen und Formen der Lyrik nicht direkt angesprochen, aber man spürt deren Präsenz in den Abgrenzungsbemühungen der Autoren. Sei es, dass Kyoshi insistiert, ein Haiku ohne Kigo sei es nicht wert, ein Haiku genannt zu werden, sei es, dass er davor warnt, andere Gedichtformen zu übernehmen und dem Leser empfiehlt „stolz“ auf den „edlen Charakter“ des Haiku zu sein, oder dass mehrfach betont wird, es handele sich bei Kyoshis Konzepten nicht nur um dessen persönliche Ansichten, sondern um „allgemein gültige“ Aussagen. Dies wirkt vermessen, bedenkt man, dass sich das Haiku schon immer erst im Gewebe der Differenzen ausbildete – ein andauernder Prozess. Das moderne Haiku spaltete sich nach Shiki zunächst in zwei große Richtungen: neben der Erfindung des so genannten „traditionellen Haiku“ experimentierten eine Reihe namhafter Dichter (Hekigotô, Ippekiro (1887-1946), Hosai (1885-1926), Seisensui (1884-1976), Santoka (1882-1940), Tôta (1919-2006) und andere) auf andere Weise mit der althergebrachten Dichtkunst und es entstanden – und existieren noch heute – Haiku-Stile ohne verpflichtendes Jahreszeitenwort und ohne einen festgesetzten Moren-Rhythmus. So wirkt Mays Bemerkung problematisch, man könne heutzutage im Westen vielerlei zweifelhafte Anleitungen und Rezepte zum Haiku finden, die sich gegenseitig widersprächen, hier aber komme einmal ein japanischer Haiku-Dichter zu Wort. Auch der Verlag suggeriert in seiner Werbung, das Buch repräsentiere das „authentische Haiku“. Fragt sich nur, was das ist. Würde man mehrere Vertreter des japanischen nicht-traditionellen Haiku daneben stellen, fände man eine vergleichbare Vielfalt an Empfehlungen wie „im Westen“. Die Haiku-Lehre Kyoshis ist eben nicht allgemein verbindlich, sondern eine, wenn auch die zurzeit einflussreichste, Richtung im Herkunftsland des Haiku. Selbst innerhalb dieser „traditionellen“ Bewegung gab es immer wieder Gegenpositionen und Richtungskämpfe. Ein Beispiel: Im Vorwort des Buches wird hervorgehoben, dass Kyoshi ganz besonders Frauen gefördert habe. Der Aufsatz „Eine Nora war sie nicht“ von Angelika Wienert zeigt am Beispiel der aus dem Hototogisu-Kreis ausgeschlossenen Dichterin Sugita Hisajo (1890-1946), um welchen Preis eine „einheitliche“ Richtung durchgesetzt wurde.

„Welch eine Stille!“ ist einerseits eine Bereicherung für das Verständnis des zeitgenössischen, so genannten „traditionellen Haiku“. Doch da der Herausgeber es versäumte, dieses historisch-kritisch einzubinden, reproduziert es in den Händen des unkundigen Lesers den bekannten Begriffs-Totalitarismus, dass es ein „eigentliches“ Haiku gäbe: das sich traditionell gerierende. Man wünscht sich von den Herausgebern weitere Veröffentlichungen, die uns „Westlern“ die Mannigfaltigkeit gerade auch des japanischen Haiku nahe bringen.

Angemerkt sei noch, dass die editorische Notiz, mit der Veröffentlichung komme hierzulande erstmals ein japanischer Haiku-Dichter zu Wort, falsch ist. Bereits 1986 erschien im Günther Klinge Haiku-Verlag das Buch von Inahata Teiko „Erste Haiku-Schritte – eine Fibel“. Dieses ist zwar zurzeit nicht mehr im Buchhandel lieferbar, aber noch im Bestellkatalog der Deutschen Haiku-Gesellschaft zu finden.

Zum Weiterlesen: Hisajo: Angelika Wienert

 

Ersteinstellung: 10.09.2006