Rezension Wirth 2020b

von René Possél

Klaus-Dieter Wirth (2020): Der Ruf des Hototogisu – Grundbausteine des Haiku II. Allitera-Verlag, München, 291 Seiten, 19,90 €.

Ein Jahr nach dem ersten bringt Klaus-Dieter Wirth Mitte 2020 den zweiten Teil seines Werkes „Der Ruf des Hototogisu – Grundbausteine des Haiku II“ heraus. (Der erste Teil wurde im Oktober 2019 von Beate Conrad rezensiert und auf haiku-heute veröffentlicht: https://www.haiku-heute.de/archiv/rezension-wirth-2019/)

Der 2. Teil enthält (nach 20 im ersten Teil) 25 weitere Gestaltungsmittel des Haiku, „Grundbausteine“ wie Wirth selber sie nennt. Das Stichwort „bauen“ weist hin auf die Verwendungsmöglichkeit für jene, die selber Haiku schreiben. Es ist ein Arbeits-, Grundlagen- und Referenz-Werk und geht zurück auf die „Grundbausteine des Haiku“, die Wirth in über 35 Ausgaben der Zeitschrift „Sommergras“ des DHG geschrieben hat. Beide Bände sind gedacht als Orientierung für „interessierte Einsteiger“, aber auch für „fortgeschrittene Liebhaber“ (Hototogisu, Teil I, S. 11).

Der Folgeband setzt die grundlegenden Aussagen über das japanische Haiku voraus, die Wirth im ersten Band gemacht hat. In einigen Kapiteln von Band II werden nun die Weiterentwicklungen und entsprechenden Diskussionen der westlichen Adaption des Haiku ausführlicher zum Thema gemacht.

Alle 25 Kapitel des Buches sind ähnlich aufgebaut:
Zunächst eine Darstellung des Haiku-Aspektes bzw. Grundbausteins, dann die geschichtlichen Aspekte der japanischen wie der westlichen Tradition und schließlich die Belegung anhand vieler Beispiele aus der Tradition sowie aktuellen Produktion von Haiku aus Ländern der westlichen Welt.

Es ist beeindruckend festzustellen, wie bei literarischen Stilelementen der gründliche und anspruchsvolle Philologe in Wirth durchschlägt. So gesehen hat der Leser nicht nur ein eng geführtes Buch über eine japanische Gedichtform vor sich, sondern auch ein umfassendes, literaturwissenschaftlich und germanistisch beschlagenes Werk.

Am Beispiel des Kapitels 43 sollen der generelle Aufbau und (nur kurz) eine dort genannte Weiterentwicklung des Haiku angesprochen werden. Zuletzt werden Eigenart und Bedeutung des Werkes von Wirth gewürdigt.

Menschlicher Bereich“ hat Wirth das Kapitel 43 genannt. In der weiteren Entwicklung und in der Internationalisierung des Haiku habe sich das eher naturbestimmte Haiku in jüngerer Zeit in eine mehr menschenbestimmte Richtung entwickelt.

Wie immer bei Wirth folgt nach der Darstellung des Themas ein Abschnitt der japanischen Tradition dazu, vor allem die Unterscheidung von Haiku und Senryu bis in die Jetzt-Zeit. Das wird belegt mit alten und neuen Beispielen.

Die Schwierigkeiten, innerhalb und außerhalb der japanischen Kultur all die Brauchtumsbegriffe des „Kigo“ (des Jahreszeitenwortes) zu verstehen, hätten dazu geführt, dass sie in der zeitgenössischen Dichtung mit der Zeit eher vernachlässigt wurden. Stattdessen würde z.B. angeregt, die Jahreszeitenwörter durch so genannte Schlüsselwörter zu ergänzen.

In der westlichen Welt wurde im Verlauf der Rezeption der „Juxtaposition“ als Hauptkonstruktionsmerkmal des Haiku eine immer größere Bedeutung beigemessen. „… Durch die damit betonte inhaltliche Zweiteilung bei der ansonsten formalen Dreiteilung (bestärkt man) die notwendige Asymmetrie, die letztlich alle Formen der Kunst in Japan charakterisiert …“  (Teil II, S. 224)

Es spricht für die Offenheit des Autors, dass er (trotz und gerade wegen seiner ausgezeichneten Kenntnisse der Haiku-Tradition!) die genannten Entwicklungen in der Gegenwart eher positiv sieht als negativ abwertet. „Überall ist Haiku-Welt!“ schreibt er zum Abschluss seiner Darstellung.

Danach folgen wie immer zahlreiche Beispiele aus Japans Vergangenheit und Gegenwart wie aus dem westlichen Bereich zum Thema des Kapitels. Die Besprechung eines Buches über Gedichte wäre nicht vollständig ohne die Zitierung einiger solcher Beispiele. Hier also ein bei Wirth zum Thema „menschlicher Bereich“ genanntes „traditionelles Gedicht“ des Japaners Yosa Buson (1716-1784) und eines der Deutschen Christa Beau (Jg. 1948):

Herbstliches Frösteln
Im Schlafraum trete ich auf den Kamm
Meiner toten Frau

Wohnungswechsel
ankommen im Licht
neuer Räume

Wer die beiden Bände von K.-D. Wirth zusammen nimmt, der hat (zum ersten Male in dieser Form!) ein ausführliches, sachkundiges und mit einer Fülle von Beispielen alter und neuer Haiku-Autoren belegtes Werk über die Dichtkunst des japanischen Haiku vor sich. Es ist noch dazu illustriert mit den markanten, eigenständigen Kunstwerken der sumi-e haiga des Rumänen Ion Codrescu.

„Der Ruf des Hototogisu“ hat Klaus-Dieter Wirth sein Werk über das Haiku genannt. „Der Ruf des Kuckucks“ ist die einfache deutsche Übersetzung.

Wer das japanische Wort nachschlägt, merkt aber bald, dass damit mehr gesagt ist als die einfache Übersetzung verrät. Das Wort Kuckuck ruft bei uns nicht die gleichen Assoziationen hervor wie in Japan. „Hototogisu“ hat dort drei Aspekte:

1. Es spielt in Japan eine bedeutsame Rolle als literarisches Motiv;

2. Es wird nicht nur als schön empfunden, sondern auch als traurig;

3. 1897 gründete Masaoka Shiki eine Zeitschrift gleichen Namens zur Förderung des japanischen Haiku, die noch heute existiert.

Der Titel macht m.E. deutlich, was die Bände I und II in extenso zeigen:

Wer Haiku dichten will, sollte zunächst die japanische Tradition gründlich kennen und davon lernen. Er mag dann eine Ahnung bekommen von der mit bestimmten Wörtern verbundenen, reichen kulturellen Bedeutung bzw. dem Nachhallen einer anderen Zeit und Mentalität.

Wer aber heute Haiku dichten will, darf nicht die Asche der Tradition anbeten (Jean Jaurès). Er muss vielmehr das Feuer, die Begeisterung für das kleinste Gedicht der Weltliteratur mit dessen erstaunlich vielen Gestaltungsmöglichkeiten in sich spüren, schüren und weitergeben.

Weiter-Gabe –  das heißt aber auch: Fundierte und passionierte Weiter-Entwicklung mit neuen Formen und Nachhall-Räumen unserer Zeit.

Für Traditionsbewusstsein und Leidenschaft beim Thema Haiku und damit für Einsteiger wie für Liebhaber dieser Gedichtform sind die beiden Bücher von Klaus-Dieter Wirth hervorragend geeignet.