Haiku vergangener Jahre
Als Haiku bezeichnet Arnfried Astel diese Kurzgedichte gar nicht, aber das Wort fällt mir beim Lesen seines Gedichtbandes von 1982 sofort ein. Da stehen auch längere Gedichte, und manche so kurze, dass sie zunächst wie Notizen wirken.
VOGELschnabelförmige
Sonnenblumenkerne.
Das ist Evolution, auch Konrad Lorenz schreibt von der Art und Weise wie der Huf auf die Erde passt.
FLIEGENDE Schwäne
über dem Schnee
auf dem Weiher.
Das fliegende Weiß, das liegende Weiß, die Ruhe darunter. Ein Karpfen.
FETZEN der
Schlangenhaut
einer Birke.
Von den Fetzen die Assoziationen zur Birke, zur Schlage, zur Vereinigung von Schwarz und Weiß.
WAS ist los?
Das Wasser erhebt sich
in Kreisen
um die Störung.
Was Leben ist? Hier erscheint es als Neugier.
IN den Scherben die Spuren
der Finger des Töpfers,
die du blind nachfährst.
Der Töpfer ist lang anderswo, aber jetzt, auf dem Boden, die Scherben der Vase aufhebend, berührren die Finger des Dichters die seinen.
WELLENförmige
Dachziegel
gegen den Regen.
DIE Woge im Pflaster.
Die Wellen im Pflasterstein.
Die Nachahmung der Regenwellen durch den Menschen, der etwas gegen sie setzt.
RÄDERWERK
Das Wagenrad
greift ins Schattenrad
auf dem Acker.
Unheimlich, wie Welt und Schattenwelt ineinander greifen, oder wie sie scheinen machen, als gelänge ihnen eine Verbindung. Totenstille.
Alle Texte aus Arnfried Astel: Die Amsel fliegt auf. Der Zweig winkt ihr nach. Wunderhorn, Heidelberg, 1982.
Weitere Texte von Arnfried Astel, auch bisher nicht in Büchern veröffentlichte, finden sich auf der Netzseite: http://www.zikaden.de
Ausgewählt und eingeleitet von Volker Friebel im November 2005, Kommentare 16.09.2006.
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„Bridge of Voices“ von Werner Reichhold, eine „Brücke von Stimmen“, bereits 1990 erschienen: Viele der Gedichte sind mehrsprachig, immer Englisch, oft Deutsch, manchmal Französisch, Italienisch, Hebräisch, Arabisch. Fotomontagen stehen dabei. Meine Sprachkenntnisse genügen nicht, den ganzen Reichtum des Buchs zu erfassen; fasziniert versuche ich Haiku, Haiku-Sequenzen oder längere Gedichte mit Haiku-Kernen zu übersetzen. Hier nur einige der deutschsprachigen Texte. Werner Reichhold lebt zwar schon lange in Kalifornien, stammt aber aus Deutschland, die Übertragungen sind von ihm selbst.
Wellensegler
Wind in beiden Händen
gleitend
Wasserhühner schwimmen
gefangen im Dreieck
der See
Füße im Schaum
Aphrodite
hebt die Gezeiten
handgefaltet
ein Drache entspringt
Papier
Sanddüne
der Schatten einer Wolke
wellenförmig
Strandläufer
kleine Schritte rollen
Spuren in Flug
durch ein Tor von Duft
flattern in beiden Richtungen
Flügel
Erkunden wie sich das Außen im Innen verändert – die Sprache ist dazu oft entfernt von der realistischen Schilderung. Bei solchen Texten ist es nicht immer leicht zu unterscheiden, ob es sich „nur“ um Experimente mit der Sprache handelt oder um den Versuch, für die Beobachtung von Wellenseglern, von Schatten und Dünen, von Schaum auf dem Meer, Worte zu finden, die dem Erleben angemessener sind als die Skizze der Fakten. Mir scheint diese Mischung aus genauer Beobachtung, dann aber immer wieder Brechung der Realität in einer Sprache des Inneren, einer der interessantesten Versuche, nicht in der Nachahmung fremder Kultur stehen zu bleiben, sondern das Haiku bei uns heimisch zu machen.
Werner Reichhold: Bridge of Voices. (Brücke der Stimmen.) Aha-Books, Gualala (Kalifornien, USA), 1990, 136 Seiten, $11,50, ISBN:0-944676-13-8.
Ausgewählt und dargestellt von Volker Friebel, August 2005
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Einige Verse entstanden in Deutschland, andere in Kalifornien: Jane Reichhold ließ ihre Haiku des Jahres 1984 denn auch in einer englisch- und einer deutschsprachigen Ausgabe drucken. Vor einigen Wochen erst fand ich das Buch zufällig im Antiquariat. Wie schade, diese Haiku nicht 20 Jahre früher kennengelernt zu haben! Hier einige Beispiele, von der Autorin aktuell überarbeitet:
Dämmerung
Finken piepen einen Riß
in die Dunkelheit
Der Kater
nimmt vom Abend
ein Vogellied
Alte Blätter
umgewendet
vom hungrigen Vogel
Sommerstrand
Kinderschreie schlagen Rad
im Sand
Schränke vermessen
vor dem Fenster
die Milchstraße
Strandtanz
den Stock gen Himmel gestoßen
das Blau zu brechen
Nachtstrand
trage mein feinstes Kleid
für den Mond
nach dem Sturm
des Röhrens Rückkehr
in die Steine
Jane Reichhold: Reißnägel auf einem Kalender (Thumbtacks on a calendar). Humidity Productions, Hamburg, 1985.
Ausgewählt und eingeleitet im Juni 2005 von Volker Friebel.
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Regennacht.
Kein Mond.
Nie war er so schön.
Ich habe eine Teichhuhnfeder
an sein Haar gehalten:
die gleiche Bläue.
Im Ungesagten
das Unsagbare
sagen
Gelöstes Haar.
So leise hat er damals
meine Brüste berührt.
Nur das Weiß der Lilien
dämmert noch
durch die Dunkelheit des Gartens.
Toyotama Tsuno ist ein literarisches Pseudonym des deutschen Schriftstellers Manfred Hausmann (1898-1986). Dieser verfasste zahlreiche epische, lyrische, dramatische und essayistische Werke und übertrug sowohl griechische, chinesische als auch japanische Lyrik ins Deutsche. Vor allem in der Nachkriegszeit war Manfred Hausmann bei der nach Sinn suchenden Leserschaft wegen seines christlich-humanistischen Ethos’ sehr geschätzt.
„Gelöstes Haar“ enthält Kurzlyrik nach japanischem Vorbild, vor allem Haiku und Tanka. Über die fiktive Autorin Toyotama Tsuno erklärt Hausmann, dass sie, aus Hokkaido stammend, mit ihrem Mann nach Paris kam, wo sie an einer Tuberkulose im Alter von 32 Jahren gestorben sei: „In ihren Gedichten durchdringen sich japanische und europäische Gedanken, Empfindungen und Bilder, so daß Schattierungen von zartestem Reiz entstehen. Sie offenbaren aber auch die Schwermut einer Seele, die ganz in diese Welt gebannt ist“ (aus dem Nachwort von Manfred Hausmann). Einige der Gedichte haben erotischen Charakter, die teilweise entfernt Ähnlichkeit mit den frühen Gedichten der bedeutenden japanischen Schriftstellerin Akiko Yosano (1878 -1942) aufweisen. Manches erinnert nach westlichem Verständnis eher an epigrammatische Dichtung, wie zum Beispiel das Gedicht über das Unsagbare, welches gelegentlich zitiert wird, um ein Charakteristikum der Haiku-Dichtung zu umschreiben. Die fingierte Autorenschaft wurde erst vor kurzem entdeckt.
Gedichte aus: Manfred Hausmann: Gelöstes Haar. Japanische Gedichte von Toyotama Tsuno, Verlag die Arche, Zürich, 1974 (Erstdruck 1968), (Seite 32, 49, 26, 88, 52).
Ausgewählt und besprochen im Mai 2005 von Udo Wenzel.
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Taubenetzt das Gras –
vor nackten Kinderfüßchen
flieht der Frosch
Keines Menschen Spur –
nur Wolken spielen Haschen
mit dem vollen Mond
Lydia Brüll, Japanologin, die wichtige Bücher zu Lyrik und Geistesgeschichte veröffentlicht hat. Ausgewählt April 2005 von Volker Friebel
Welche Frühlingsnacht –
in den Lachen der Felder
Monde ohne Zahl
Neben dem Kamin
das Zirpen eines Heimchens –
Winterabend
Abendgewitter –
Regenschirm wird der Kröte
ein Rhabarberblatt
Des Wassers Freude –
feines Wellengekräusel
im Sommerwind.
Unterm Wasserfall –
einmal nur hinwegspülen
die Last des Lebens.
Horst Hammitzsch (1909-1991) war ein bedeutender Japanologe und Übersetzer. Die drei ersten Haiku wurden von Lydia Brüll mitgeteilt, die beiden letzten stammen aus: Peter-Cornell Richter (Photographien) & Yôdô (Horst Hammitzsch; Haiku): Über den Hügel hinaus. Herder, Freiburg im Breisgau, 1983. In diesem Buch dichtet Horst Hammitzsch zu Fotografien von Peter-Cornell Richter Haiku.
Im vorletzten Gedicht klingt ein berühmtes Prosastück des Dschuang-Dsi über die Freude der Fische an. Als dieser chinesische Daoist auf einem Spaziergang die Freude der Fische erwähnte, leugnete sein Gefährte, dass er diese, ohne Fisch zu sein, erkennen könne. Nach einigem sophistischem Geplänkel schließt Dschuang Dsi mit der Bemerkung: „Ich erkenne die Freude der Fische aus meiner Freude beim Wandern am Fluß.“ (Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland; Übersetzung Richard Wilhelm).
Das Foto zum letzten Haiku zeigt einen Wasserfall, der durch Nebel stürzt, unbestimmt abwärts zwischen Bäumen und Fels.
Ausgewählt und beschrieben im April 2005 von Volker Friebel.
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Durch Morgengrauen
flitzen Schwalben. Die ersten
Fenster öffnen sich.
Schneegespurter Pfad –
und doch verliere ich mich
in dieser Blendung.
Wer singt zuende
diese Melodie? Sie schwingt
über sich hinaus.
Hajo Jappe (1903-1988), Freund von Imma und Wilhelm Bodmershof. Carl Heinz Curz zitiert im Vorwort zu Hajo Jappes „Gesammelte Haiku“ aus einem Brief Jappes: „Sie (die Haiku im Deutschen (U.Wenzel)) sind ja nicht damit geschaffen, daß wir uns, in zwangloser Zählung und in natürlicher Sprechweise, lediglich an die – uns eigentlich fremde – Silbenzählung 5/7/5 halten, sondern daß, vom Bild ausgehend, nicht ein bloßes Gefühl oder ein Gedanke oder ein Eindruck skizziert wird – vielmehr muß in der Spannung zweier Pole, in der Bewegung von einem zum anderen hin, eine Bedeutung, eine Transzendenz aufleuchten, die nicht ausgesprochen wird (im Unterschied zum Epigramm, Aphorismus etc.) Ohne diese geheime Hintergründigkeit, die der Leser zu meditieren hat, ist ein solcher Dreizeiler flach, raum- und hintergrundlos, eben un-bedeutend – kein echtes Haiku …“ (Hervorhebungen im Original).
Hajo Jappe: Gesammelte Haiku. Graphikum, Göttingen 1992,
gefunden und dargestellt von Udo Wenzel, März 2005
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noch lang nicht abend
die rehe überqueren
rasch die märzwiesen.
tiefe baumschatten
der verkleidete abend
auf vogelzungen.
schwimmende rosen
auf dem alten schloßweiher
ein frosch ruft kuckuck.
H.C. Artmann, (1921-2000). Österreichischer Dichter. Erste Lyrikveröffentlichung 1947. Einer der Initiatoren der „Wiener Gruppe“. Poetischer Avantgardist und Sprachvirtuose. Beeinflusst von Dadaismus und Expressionismus. Veröffentlichung von Gedichten, die das gesamte lyrische Spektrum vom Alexandriner bis zum Haiku umfassen, auch Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Übersetzungen. Zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem 1997 den Georg-Büchner-Preis. Der Haiku-Band „nachtwindsucher“, aus dem die drei Haiku stammen, wurde von Masumi Midorikawa ins Japanische übersetzt.
nachtwindsucher. österreichische haiku. In: H.C.Artmann:
Sämtliche Gedichte. Salzburg, 2003,
gefunden und dargestellt von Udo Wenzel, März 2005
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Müde der Liebe
sinnt über den Frühling er nach –
der alte Kater
Horst Hammitzsch
Horst Hammitzsch (1909-1991) war ein bedeutender Japanologe und Übersetzer.
Im Schneegestöber
tummeln sich Mutter und Kind –
und der Teddybär
Lydia Brüll
Lydia Brüll, Japanologin, die wichtige Bücher zu Lyrik und Geistesgeschichte veröffentlicht hat.
Der alte Mann
verbeugt sich vor dem leeren
Apfelbaum.
Ein taubstummes
Kind – spricht mit einem
Schmetterling.
Wolfgang Joest
Wolfgang Joest, geboren 1942 in Berlin: Zwei Haiku aus dem Buch „Teeblätter“ (Selbstverlag, 1976), das eine Vielzahl eigener und fremder Haiku vereint, zum Teil aus Reisen und mit kurzen Notizen.
Wie schwierig es ist
den Menschen auszuweichen –
am Jahresende!
Udo Wenzel
Das Jahresende von Udo Wenzel wurde auf der Netzseite HaikuHaiku zur Jahreswende 2002 / 2003 sehr unterschiedlich aufgenommen. Ist das überhaupt ein Haiku? Es ist offenbar eine Feststellung, ein Gedanke, also scheinbar unvereinbar mit dieser Gedichtart. Erst als vorgebracht wurde, man könne die Verse als Stoßseufzer verstehen, war der Kontakt mit dem geläufigen Haikuverständnis wieder hergestellt.
überhängender schnee
nicht sich losreißen können
vom anblick
Mario Fitterer
Das Haiku hat sich aus einer früheren Fassung entwickelt, die zu finden ist in:
Fitterer, Mario: der springende stein. Haiku und ein Dialog. Mafora, Denzlingen, 1993.
Wie es kippt, von der Erwartung des sich losreißenden Schnees zur Person des Autors, zur Person des Lesers.
Eine silberne
Münze zurückerhalten als
Chrysantheme.
Die kleinen, schmutzigen
Stiefel haben den Frühling
ins Haus gebracht.
Wolfgang Joest
Wolfgang Joest wurde 1942 in Berlin geboren, die beiden Haiku entstammen seinen Privatdrucken Papierschwalben“, Lauffen, 1974, oder „Teeblätter“, Lauffen, 1976, und sind zitiert nach:
Sakanishi, H.; H. Fussy, K. Kubota & H. Yamakage (Hg): Anthologie der Deutschen Haiku. Dairyman, Sapporoshi, 1978.
Ersteinstellung: ab 08.11.2004
Alle Rechte bei den Autoren oder deren Verlagen bzw. Rechtevertretern,
Zusammenstellung und Kommentierung wenn nicht anders aufgeführt von Volker Friebel