Echoräume

Ein Gespräch über das Haiku
zwischen Helga Stania und Volker Friebel

 

Volker Friebel: Der erste Text von dir, an den ich mich erinnere, ist ein Haiku:

der alte Hippie –
Wind streicht über sein Herz
von Wiesenblumen

Das wurde für das Haiku-Jahrbuch 2006 „Feine Kerben“ von einer Jury ausgesucht, hat dorthin den Weg aber wohl von der Netzpräsenz haiku.de gefunden, damals Organ des Hamburger Haiku Verlags.

Blättere ich das Jahrbuch 2006 heute durch, hat sich die Art Haiku zu schreiben verändert, schon formal. Einige wenige Zweizeiler finden sich dort und im ganzen Buch ein einziger Einzeiler. Deine Haiku sind damals alle in drei Zeilen notiert. Kannst du etwas über die Entwicklung deines Haiku-Dichtens sagen? Wann und wie bist du denn auf das Haiku aufmerksam geworden und hast zu schreiben begonnen?

Helga Stania: Während einer Zenveranstaltung um 2004 im Lassallehaus bei Zug las ich in dort ausgestellten Büchern erstmals Haiku.

Wieder daheim, informierte ich mich im Internet. Ich wollte lernen, gute Haiku zu schreiben, kaufte hilfreiche Bücher und las, las … Später fand ich in zwei deutschen Foren freundliche Unterstützung. Nach langem Ruhen meines Textes, sandte ich erstmals ein Haiku an Haiku heute.

Das Fundament für meinen Kontakt zur Natur war auf Wanderungen mit meinen Eltern gelegt worden, bei denen sie mir Pflanzen- und Tierwelt und die Geschichte meiner Heimatregion nahebrachten.

Angelika Wienert war’s, die mich aufforderte, ein kurzes Haiku ins Englische zu übertragen und bei Mainichi einzureichen. Das Ergebnis gab mir Aufwind.

Im Laufe der Zeit beschäftigte ich mich vermehrt mit Haiku aus dem angelsächsischen Raum, vertiefte mich dort in einzeilige Haiku, lernte mit der Form zu spielen, größere Offenheit zu versuchen.

Die Einzeiler kommen leichter daher und geben den Lesern die Möglichkeit, Zäsuren selbst zu entdecken; oft sind unterschiedliche möglich, wobei sich dann eventuell die Aussage verschiebt.

Auch moderne Lyrik erschließt mir Wege aus der Gleichförmigkeit. Muss ein Haiku schnell verstanden, erklärt werden? Ich genieße es, Haiku in Gedanken mit mir herumzutragen, eigene und auch fremde, bis sich mir vielleicht ein neuer Blick darauf eröffnet. Bei meinen Texten bemühe ich mich, in Anlehnung an Roland Barthes, „die Sprache in der Schwebe zu halten“.

Volker Friebel: Ich hab mich an den Texten von Roland Barthes versucht, weil Mario Fitterer immer wieder von ihm schrieb, konnte aber wenig damit anfangen. Was meinst denn du etwa mit versuchen, „die Sprache in der Schwebe zu halten“? Sprache ist doch ein Medium, zwischen Verstand und Verstand, zwischen Herz und Herz meinetwegen. Sollte sie nicht möglichst klar sein, also gerade nicht in der Schwebe, was doch wohl Unklarheit meint, mindestens provoziert?

Helga Stania: Ist es nicht auch möglich, im Zusammenspiel genauer Begriffe Leichtigkeit zu erzeugen, eine Durchlässigkeit zuzulassen, welche den Text nicht festlegt, ihm vielmehr Luft lässt für Leser, sich hineinzudenken, die eigene Sicht auf die Dinge mit einbeziehen zu können. Ich denke in diesem Zusammenhang oft an Emily Dickinson: … good poems must flee. Sich verflüchtigen …

Ein Haiku sollte meines Erachtens nichts Endgültiges sein, auf keinen Fall eine in sich geschlossene Einheit; nach seinem Ende geht es weiter mit dem, was es beim Leser anstößt. Haiku lesend zu erfassen scheint mir nicht unbedingt einfacher zu sein, als sie zu schreiben.

Volker Friebel: Im Sommergras, der Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, veröffentlichst du gelegentlich Haibun, Kombinationen von Prosa und Haiku. Ich darf ein Beispiel aus dem Dezemberheft 2022 zitieren:

unterwegs

von italien her wanderte er über die grüne grenze, der bär, einzig von einer fotofalle registriert, bleibt er verborgen in den engadiner wäldern, vielleicht als durchreisender beeren erntend an einem lichtungsrand

sonnenglut eines widderchens rote flecken

[Widderchen (Zygaena carniolica), Schmetterling]

Lyrische Prosa, ein Haiku anschließend, dahinter noch die Erläuterung, was mit „widderchen“ gemeint ist. Die Verbindung zwischen Prosa und Haiku lässt sich über den Gegensatz Bär und Schmetterling sowie über die roten Flecken des Schmetterlings und die Beeren des Bären herstellen.

Für mich ist das ein Beispiel für „die Sprache in der Schwebe zu halten“, und nicht nur bei Lyrik.

Worum geht es bei Literatur? Das kann Unterhaltung sein, um Zeit totzuschlagen oder einen angenehmen Nervenkitzel. Oder es geht um Lernen, nicht nur bei Sachtexten, auch beim Erleben von Schicksalen und menschlichem Miteinander im anspruchsvolleren Roman. Der Harmonie schöner Sprache zu lauschen und selbst etwas davon in sich zu spüren oder in sich nehmen zu können, mag auch noch wichtig sein.

Besonders angesprochen fühle ich mich allerdings von Texten, auf die nichts davon zutrifft, mindestens nicht dominiert, sondern die sich dem Verstand gleichsam entziehen. Nicht unbedingt, weil sie unverständlich sind. Der Prosateil deines Textes ist sehr klar, und auch das Haiku ließe sich im Rahmen einer Gedichtinterpretation aufschlüsseln. Was mir hier allerdings widerstrebt.

Die Texte stehen zu lassen, sie nicht verstehen zu wollen, sondern in sie einzutauchen, sie zu atmen – das ist dieser Art von Texten wahrscheinlich am angemessensten.

Was für Texte sind das? Wie lassen sie sich charakterisieren?

Helga Stania: Das sind Texte, die ich am liebsten mit geschlossenen Augen läse. Zum Beispiel jene von John Burnside, Philippe Jaccottet und Esther Kinsky.

Was macht sie für mich so besonders? Mir spricht aus dieser Prosa, diesen Gedichten eine große Liebe zur Natur, die den Menschen einschließt. Ich lausche einem Sound, der mir unter die Haut geht. Die schöne Sprache und besonders bei Kinsky auch die interessanten Wortschöpfungen; dort erscheint mir das Große im Kleinen, Alltäglichen.

Sollte ich auf eine Insel gehen müssen und nur ein Buch mitnehmen dürfen: Es wären Kafkas Erzählungen.

Volker Friebel: Im Haiku-Jahrbuch 2009 hast du veröffentlicht:

ein Ponywagen
am Rande des Himmels
das Licht

Wie dein „Pirol“ (ganz unten) begleitet mich dieser Text schon lange. Wahrscheinlich fasziniert mich die Perspektive, unter der unser Ich-zentriertes Leben gezeigt wird, als etwas am Rand des Himmels, der Galaxie, der Unendlichkeit. Was klein macht – aber auch groß.

Wie findest du solche Texte? Erst tatsächlich gesehen in der Natur? Oder in dir? Und bearbeitest sie dann? Wie stark können sie sich dabei ändern? Ist dir ein gehaltener Bezug zum Gesehenen beim fertigen Text wichtig oder ist der dann gleichgültig? Wann ist ein Haiku „fertig“?

Helga Stania: Dieses Haiku geht auf ein Erlebnis zurück. Ich war früh morgens zu Fuß unterwegs, als am Horizont das kleine Gespann auftauchte, sich näherte und auf anderem Weg verschwand. Das Haiku kam einfach zu mir.

Es gibt einige dieser spontanen Haiku, die unverändert blieben, Haiku, die ich mit einem Ort, einem Ereignis verbinde. Sie alle haben eine Zeitlang geruht, bis mir klar war, die Ursprungsform soll bleiben.

Häufig erwächst aus dem Erlebten nur ein Haikuteil, den ich notiere und im Kopf behalte. Solche Fragmente können beim Wiederlesen mit anderen verschmelzen und das Ergebnis ist möglicherweise anders, als urspünglich geplant. Beim fertigen Text spielt der Bezug zum selbst Erlebten eine untergeordnete Rolle. Sollten mir Klang oder Rhythmus nicht zusagen, steht eine Veränderung an.

Einen Text in mir selbst finden: Es ist dann im Allgemeinen ein äußerer Anstoß, ein interessanter Begriff, ein Duft, ein Gespräch, Literatur oder eine gute Reportage, die meine Gedanken anregen, aus einem inneren Reservoir zu schöpfen.

Fertig ist ein Haiku für mich, wenn ich nichts mehr verändern möchte, wenn es für mich stimmig ist. Dann darf es sich für andere öffnen.

Volker Friebel: In der japanischen Tageszeitung The Mainichi (5. November 2022) lese ich von einer Studie an der Universität Kyoto. Online sollten Leser unterscheiden, ob dargebotene Haiku von menschlichen Autoren (japanischen Klassikern) oder von einer Künstlichen Intelligenz (KI) gedichtet worden waren. Sie konnten es nicht. Und stuften die Haiku, die von der KI geschaffen, aber von Menschen vorher ausgewählt worden waren, als die schöneren ein, im Vergleich zu zufällig ausgesuchten Haiku der KI und Haiku der japanischen Klassiker.

Dass sich KI als bessere Haiku-Autoren und bald womöglich gar als bessere Menschen erweisen, kann ich gut nachvollziehen. Und stelle mir trotzdem die Frage, was das für unsere Wertschätzungen in der Zukunft bedeutet.

Werden Texte zunehmend gar nicht aus sich selbst, sondern als Erzeugnisse von Menschen interessant? Wie wir auch unter den Myriaden guter japanischer Haiku uns nicht die besten heraussuchen, sondern nur sehr wenige, die die Atmosphäre eines Basho oder Issa oder Santoka ausstrahlen? Werden Texte zunehmend vor und mit einem Hintergrund interessant, mit den Autoren? Was dem Sinn von Haiku eigentlich zuwiderläuft, wenn es heißt, das Ich sollte sich hier möglichst heraushalten.

Helga Stania: KI: Ich verfolge diese Entwicklung über die Presse mit großem Interesse, sehe das Gute und das Gefährliche.

Eine Ausstellung, die von künstlicher Intelligenz geschaffene Kunstwerke, vor allem Gemälde, zeigt, möchte ich gern besuchen können. Vielleicht im Gegenspiel mit von Künstlern geschaffenen Werken.

Auch hinter der computergenerierten Kunst steht ein Mensch, eine andere Art Künstler im symbiotischen Schaffen mit der Maschine. Im Museum of Modern Art (MoMA, New York) gibt es eine Ausstellung dazu.

Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dass uns Algorithmen den Rang ablaufen können. Allerdings möchte ich nicht im Dunkeln gelassen werden, ob zum Beispiel ein Haiku auf menschlich konventionelle Art entstanden ist oder unter Zuhilfenahme von KI-Programmen.

Volker Friebel: Die Welt ist durch die sozialen Medien noch schneller geworden: Eine Bemerkung flammt auf – und erlischt sofort wieder. Haiku in sich zu tragen, wie du schreibst – das klingt gut. Kannst du Beispiele von eigenen Haiku und Haiku anderer Autoren geben, mit denen du dich immer wieder beschäftigt hast? Und warum?

Helga Stania: Mir fällt dieses Haiku ein:

der kranken vom wald die vogellieder heimbringen

Während einer Wanderung horchte ich auf den Vogelgesang, nahm ihn mit dem Smartphone auf, um die Sänger zu bestimmen. Meine Gedanken gingen zur Mutter, die die Vögel sehr liebte. Im Gehen entstand das Haiku.

Bin ich heute auf diesem Weg unterwegs, ist der Text stets parat.

Ein anderes Haiku:

morgenmond –
das alte ross
wälzt sich im schnee

Die Beobachtung während eines Morgenspaziergangs mit Hund im Jahr 2008; bei anschließenden Wanderungen fanden die Worte zueinander. Noch immer, passiere ich Pferdekoppeln, taucht dieses Haiku auf.

Es war jener Winterurlaub, als ich erstmals Haiku von Mario Fitterer las. Ich kehre von Zeit zu Zeit zu ihnen zurück.

staunen
buschwindröschen
im schelmengraben

Ein außerordentliches Bild, gemalt mit wenigen Worten. Es ist eine alte Schlossallee, die mir alljährlich die Buschwindröschen präsentiert. Auch unter Hainbuchen haben diese Frühblüher etwas Schelmisches. Vorwitzig sind sie, rufen mich von Jahr zu Jahr zum Staunen auf und ich erinnere dieses Haiku, dem der Wortteil -graben- auch einen Hauch Dunkel beifügt, so wie sich im Schelmischen auch Abgründiges spiegeln mag. Was dem Autor der Schelmengraben bedeutet, welche Geschichte dahinter steht, bleibt mir verborgen.

Volker Friebel: Du betreibst die Haiga-Präsenz ahaiga.ch. Wie kamst du zum Haiga?

Helga Stania: Seit meiner Schulzeit fotographiere ich, habe auch meine Fotos damals selbst entwickelt. So lag der Weg zum Haiga nahe.

Es bietet vielfältig gestalterische Möglichkeiten in Bild und Text, in der Art der Verlinkung und hat dabei etwas vom Fluidum des Kettengedichts.

Wirklich gut ist für mich ein Haiga, wenn es mich „aufhorchen“ lässt, das mag die Bildgestaltung sein, das Haiku und/oder die Verknüpfung.

Besonders schön ist es, wenn eine Zwiesprache erreicht wird zwischen Bild und Text.

Volker Friebel: Besonders schön – als Regel siehst du das also nicht an? Man liest das doch so, ein Bild solle nicht einfach das Haiku wiedergeben, sondern etwas anderes, und die Spannung zwischen beiden ergebe dann die Qualität des Haiga. Was ein schöner und auch naheliegender Gedanke ist, mir aber doch nur als eine von unzähligen Möglichkeiten bei der Gestaltung von Haiga erscheint und, wenn das so als Regel genannt wird, als Beschränkung des dichterischen Raumes.

Helga Stania: Das ist jetzt die Frage: Müssen wir uns von Regeln einengen lassen? Warum nicht darüber hinaus gehen nach dem Motto: Lerne die Regeln, um sie zu vergessen? Wenn Neues entstehen soll, ist es dann nicht erforderlich, die ausgefahrenen Spuren zu verlassen?

Eine Bildbeschreibung ist unerwünscht, aber Elemente des Bildes im Haiku aufzunehmen, muss nicht schlecht sein. Den gestalterisch-dichterischen Raum beim Haiga halte ich für groß; es mag auch nur die Andeutung eines Bildes genügen für ein damit harmonierendes Haiku. Understatement steht sowohl Haiku als auch dem Haiga gut zu Gesicht.

Ob Bild oder Text den Ausgang des Gestaltens bilden, ist sicherlich unterschiedlich, bei mir jedenfalls nicht festgelegt.

Volker Friebel: Ich denke, Regeln sind eine Hilfe, wenn man sich Haiku oder Haiga noch nicht wirklich verinnerlicht hat, eine breite, sichere Straße. Die Feldwege sind interessanter.

Jemand hat mal bei Haiku heute ein Haiga mit einem bloßen Foto eingereicht, den Text von Hand hineingeschrieben. Mir hat das gut gefallen, diese Einfachheit, neben all dem Photoshop-Overkill, ich hab es veröffentlicht.

Aber ich sehe auch, wie Verfremdung und Bearbeitung manchmal neue Welten eröffnen.

Welche Rolle spielen deinen Erfahrungen als Autorin, Leserin und Herausgeberin Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit bei der Bewertung von Haiga?

Helga Stania: Die Leser, die Betrachterinnen von Haiga und Haiku sind sehr unterschiedlich, haben je einen anderen Hintergrund, andere Vorlieben, legen Regeln eng oder weit aus.

Ich bin der Meinung, nicht alles muss auf Anhieb verstanden werden; eher wäre es gut, wenn eine Fragehaltung evoziert würde. Was ich nicht nachvollziehen kann, braucht möglicherweise einen anderen Blickwinkel, einen anderen Betrachter oder ein mehrmaliges Zurückkehren zu diesem Werk.

Möchte ich etwas auswählen, betrachte ich es in Abständen immer wieder, bis ich zu einer Entscheidung komme. Daneben gibt es die Werke, die mich spontan erobern.

Zur Person

Geboren 1946 in Siegen/Westfalen, Studium der Biologie, Geographie, Pädagogik und Examen an der Universität Bonn; Lehramtstätigkeit an Realschulen; nach zahlreichen Wohnortwechseln in der Schweiz angekommen und heimisch geworden.

Veröffentlichungen in deutschen und verschiedenen englischsprachigen Anthologien.

Sechs Haiku von der Autorin selbst ausgewählt

wo der bach die asche nahm früher schnee

gräser in holz geschnitten die gabe zu sehen

ingwertee
ein randvoller moment
fernweh

petroglyphen  a l l e i n  d e r  w i n d

leicht nun die schritte  meiner gedanken treidelpfad

vesperläuten –
die rauen grannen
des roggens

Sechs Haiku der Autorin ausgewählt von Volker Friebel

nach soviel Nacht
Magnolienblüten

Sie sind nur ausgegangen …
Kirschblüten im Wind

am Rande der Galaxie
ein Pirol
besingt sein Revier

Psst …
Das kleine Mädchen
in seiner Buntstiftwelt

meine rückkehr zum klavier     pflaumenblüte

die menschen in bunkern allerheiligen

Verweise

Die Haiga-Präsenz von Helga Stania: https://www.ahaiga.ch/

Haiga von ihr finden sich dort, in den Monatsauswahlen von Haiku heute sowie auf der Präsenz Haiga im Focus von Claudia Brefeld: https://www.claudiabrefeld.de/Haiga-im-Focus.htm

Haiku von Helga Stania sind in Haiku-Zeitschriften sowie in allen Haiku-Jahrbüchern ab 2006 zu lesen:
https://www.haiku-heute.de/jahrbuch/

 

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