Nichts Besonderes

John Stevenson im Gespräch mit Dietmar Tauchner

 

Dietmar Tauchner: John, könntest du bitte definieren, was ein Haiku ist?

John Stevenson: Nein, ich kann es nicht definieren. Ich kann aber eine Beschreibung von einigen Haiku-Eigenschaften geben. Haiku sind Kurzgedichte. Die ersten Haiku wurden in Japan geschrieben. Sie wurden vom Eröffnungsvers eines Gemeinschaftsgedichtes, als Renku bekannt, abgeleitet. Dieser Eröffnungsvers, Hokku genannt, hatte bestimmte Charakteristika, was Form, Inhalt, Stil und kulturelle Eingebettetheit betrifft. Er verhielt sich zum anschließenden Renku in einer speziellen Weise. Viele dieser Charakteristika wurden, in mitunter veränderter Form, bezeichnend für das Haiku.

Dietmar Tauchner: Was macht ein Haiku einzigartig?

John Stevenson: Was das Haiku unter anderem einzigartig macht, ist der Umstand, dass viele beachtete Meister, wie zum Beispiel Bashô, Buson und Issa, den Begriff „Haiku“ nicht gekannt haben, da dieser erst nach ihrem Ableben geprägt worden ist. Ich glaube, dass man das beachten sollte, wenn man versucht ist, eine Haiku-Definition zu ernst zu nehmen. Kurzgedichte können sehr wirksam geschrieben werden, ohne eine Definition oder ohne die Bezeichnung „Haiku“.

Dietmar Tauchner: Welche Technik ist für ein Haiku notwendig? Braucht das Haiku eine spezielle Form?

John Stevenson: Fast jede Antwort darauf kann mit einem guten Gegenbeispiel oder einer Ausnahme entkräftet werden. Es gibt wenig, was als notwendig angesehen werden muss. Ich meine, dass Wortökonomie und sprachliche Genauigkeit allgemein erforderlich sind, weil es sich um sehr kurze Gedichte handelt. Um genau wie beim japanischen Haiku vorgehen zu können, wären wichtige Elemente: eine homogene Kultur mit jahrhundertelanger literarischer Tradition und eine Schriftsprache, die sich aus einer anderen entwickelt hat.

Haiku in jeder anderen Sprache als der japanischen, und in jedem anderen Kulturkreis, sind notwendigerweise Adaptionen des ursprünglichen japanischen Haiku. Die Frage nach der Form ist ein gutes Beispiel dafür. Das Hokku, und später das Haiku, benutzten eine Versform, die in der japanischen Dichtung schon weithin verbreitet war. Aber diese Form lässt sich nicht sehr gut auf andere Sprachen und Kulturen übertragen. Vor vielen Jahren rezitierte ich ein siebzehnsilbiges englischsprachiges Haiku vor einigen japanischen Poeten. Ihre einzige Frage war: „Warum ist das so lang?“ Die Antwort ist, dass englische Silben beträchtliche Unterschiede in ihrer Vokallänge aufweisen, wohingegen japanische „Silben“ einheitlich kurz sind. Es scheint so, dass die meisten siebzehnsilbigen englischsprachigen Haiku längere Gedichte als die japanischen Haiku sind. Bedeutet das nun, dass englischsprachige Haiku eine Form haben sollten, die mit weniger als siebzehn Silben auskommt? Die Antwort hängt davon ab, welche Charakteristika des japanischen Haiku jemand als die wichtigsten oder nützlichsten erachtet, welche es zu importieren oder am besten zurückzulassen gilt. Es gibt keinen Weg, alle Merkmale des „klassischen“ japanischen Haiku auf einer bestehenden Grundlage in einer anderen Sprache und Kultur zu reproduzieren. Tatsächlich klagen viele zeitgenössische Japaner darüber, dass es an Möglichkeiten fehlt, klassische Haiku innerhalb der eigenen modernen Kultur zu reproduzieren, einer Kultur, die sehr stark modifiziert wurde durch den Kontakt mit dem Rest der Welt. Zeit ist ein Faktor für uns alle. Schreiben zeitgenössische englischsprachige Autoren genauso wie Shakespeare oder Chaucer? Sollten sie das?

Dietmar Tauchner: Was sind die Themen des Haiku? Gibt es Themen, die nicht für das Haiku geeignet sind?

John Stevenson: Ob Themen als ungeeignet betrachtet werden, hängt davon ab, was jemand als bedeutsam im traditionellen japanischen Haiku erachtet, und was jemand darüber hinaus bewegen möchte. Das Hokku hatte bestimmte thematische Anforderungen, und das Haiku scheint einige davon übernommen zu haben, als es sich zu einer eigenständigen Form entwickelte. Da ist zum Beispiel das Kigo, das Jahreszeitenwort. Vom Hokku wird erwartet, dass es die Jahreszeit widerspiegelt, in der das Renku angesiedelt wird. Und es wird erwartet, dies unter Einhaltung gewisser poetischer Konventionen zu machen, die sich über Jahrhunderte der Praxis entwickelt haben. Das Hokku hat also den Auftrag, gleichzeitig ein jahreszeitliches Bild zu präsentieren und einen Ort innerhalb der literarischen Kultur Japans; und es hat auch noch andere Anforderungen zu erfüllen. Das Hokku ist ein Teil der Eröffnungssektion eines Renku, und diese Sektion hat Erwartungen an Ton und Inhalt zu erfüllen. Bis zu welchem Grad diese Betrachtungen für das Haiku bedeutsam sind, und gerade für das Haiku, das für eine andere Sprache adaptiert worden ist, ist eine offene Frage. Ich habe diesbezüglich meine eigenen Präferenzen, aber ich würde mich nicht darum kümmern wollen, diese jemandem aufzuerlegen.

Dietmar Tauchner: Wie wichtig sind die Regeln der alten japanischen Meister, allen voran Bashô und Shiki, heute noch?

John Stevenson: Ich hoffe, dass sie nicht zu wichtig sind, weil ich kein unmittelbares Wissen darüber habe. Ich versuche von den Gedichten zu lernen, aber ich kann kein Japanisch, bin kein Experte für japanische Geschichte und Kultur, und muss auflesen, was ich kann, aus den Vergleichen verschiedener Übersetzungen und aus den kritischen Kommentaren, die in Englisch erhältlich sind. Ich vermute, dass die meisten Poeten, die Haiku-Versionen außerhalb Japans schreiben, in einer ähnlichen Situation sind.

Dietmar Tauchner: Über die Zukunft des Haiku: Was sollte vermieden, was sollte gefördert werden?

John Stevenson: Die Frage, wie ich sie sehe, ist nun, welche Elemente japanischer Haiku können wir adaptieren und einzusetzen lernen, und was müssen wir aus unserer eigenen Kultur zuführen, damit Haiku für uns funktionieren. Ich erwarte, dass das eine wichtige Frage für viele Jahre bleiben wird, bis das Haiku in die jeweiligen Kulturräume vollständiger integriert ist.

Dietmar Tauchner: Wie sehr wird das Genre Haiku in den USA akzeptiert?

John Stevenson: Meinst du, was ich aus der gegenwärtigen Popularität des Haiku in den USA mache? Wenn ja, muss ich sagen, dass ich dieser Popularität misstraue. Zum größten Teil basiert sie auf dem Sinn für „Neuigkeiten“. Ich glaube nicht, dass Popularität ein Maßstab für künstlerische Relevanz ist.

Dietmar Tauchner: Wird das Haiku jemals als unabhängiges literarisches Genre im Westen akzeptiert werden? Wenn ja, welche Bedingungen müssen dafür erfüllt werden?

John Stevenson: Das scheint mir unwichtig zu sein, obwohl ich bemerke, dass sich andere darum sehr kümmern. Es scheint mir, dass da ein Meinungsspektrum über den Wert von Haiku existiert, wie es in Japan der Fall ist und immer war. Ich sehe keinen Grund dafür, eine große Veränderung zu erwarten, und ich persönlich sehe auch keine Notwendigkeit für eine Veränderung auf diesem Gebiet. Was auch immer von einer größeren Akzeptanz gewonnen werden soll, scheint mir nur eingebildet zu sein. Das Haiku selbst ist zwiegespalten bezüglich der Frage nach seiner Wichtigkeit. Ein Prinzip der Haiku-Ästhetik ist, dass das Haiku „nichts Spezielles“ enthält. Die Prämisse könnte sein: Was immer profund ist im Leben, ist auch präsent in den meisten gewöhnlichen Dingen. Ich glaube nicht, dass sich Haiku verbesserten, wenn sie weithin als wichtig akzeptiert würden.

Dietmar Tauchner: Warum schreibst du Haiku? Was ist die Absicht deines Schreibens?

John Stevenson: Ich kann das nicht gänzlich beantworten. Ich schreibe seit über fünfzig Jahren Gedichte. Die Gründe dafür haben sich weiterentwickelt. Ich schreibe Haiku, weil ich finde, dass sie für bestimmte Dinge am geeignetsten sind. Ich schreibe Senryu, Tanka, Haibun, freie Verse, Sonette, Limericks usw., um andere Dinge auszudrücken. Ich hatte Anfang des Jahres eine Lesung, wo bei der anschließenden Diskussionsrunde jemand fragte, was die Absicht des Gedichte-Schreibens sei. Nachdem ich eingestanden hatte, dass diese Frage über meine Fähigkeit ginge, eine vollständige Antwort zu geben, wagte ich die Meinung zu äußern: Gedichte sind das Produkt der Suche nach Wahrheit, die noch nicht in Worten ausgedrückt worden ist.

Dietmar Tauchner: Wer hatte den größten Einfluss auf dich als Poet? Und warum?

John Stevenson: Manche weichen dieser Art von Frage gerne aus. Ich sympathisiere damit, weil ich mir bewusst bin, dass mich eine große Anzahl anderer Dichter beeinflusst hat. Ich würde aber meine Liste mit Cor van den Heuvel beginnen. Er hat mich als Poet beeinflusst, als Theoretiker, als Förderer des Haiku, als lebende Verkörperung der Haiku-Praxis über vierzig Jahre hinweg, und als Mensch. Andere Haiku-Poeten haben mich auf ähnliche Weise beeinflusst, aber Cors Einfluss ist bestimmt am größten. Das hat sich teilweise auch deshalb so entwickelt, weil ich ihn öfters bei Veranstaltungen der „Haiku Society of America“ in New York und bei verschiedenen Konferenzen in den USA und Kanada getroffen habe. Ich war von der Klarheit und Direktheit seiner Aussagen bei Workshops beeindruckt. Ebenso bin ich von der Qualität seiner Haiku beeindruckt. Manchmal ist der Initial-Effekt seiner Haiku wie ein Schock für mich, aufgrund der Klarheit des Bildes. Du hast eine ziemlich gute Kamera, und dann siehst du Bilder, die von einer viel besseren gemacht worden sind …

Dietmar Tauchner: Bist du in irgendeiner Weise von den amerikanischen Imagisten, wie Pound, Lowell, etc. beeinflusst worden?

John Stevenson: Nicht direkt, obwohl deren Einfluss überall vorhanden ist und mich wohl auch durchdrungen hat. Bevor ich begonnen habe, Haiku zu schreiben, war wahrscheinlich der stärkste Einfluss unter den amerikanischen Dichtern der von Poe, Whitman und Stevens. Ich denke nicht, dass ich versucht habe so zu schreiben wie diese Autoren. Vielleicht ist eines der Dinge, die amerikanische Dichter gemeinsam haben, die Begierde, anders zu sein als die anderen, einzigartig zu sein. Ich mag Poes Lyrik und bewundere Whitmans Annäherung an die neue Welt in der Dichtung. Stevens ist immer ein Vergnügen, weil er Themen mit Humor behandelt, die sonst staubtrocken sein könnten.

Dietmar Tauchner: Zum Schluss: Welche Ratschläge würdest du deutschsprachigen Haiku-Schreibenden geben?

John Stevenson: Ich fühlte mich anmaßend, würde ich ihnen Ratschläge erteilen. Wenn sie Haiku für ihre eigene Sprache adaptieren, könnte es allerdings sein, dass sie auf ähnliche Themen stoßen wie englischsprachige Haiku-Poeten.

 

Haiku von John Stevenson

 

cold saturday –
drawn back into bed
by my own warmth

kalter Samstag –
ins Bett zurückgezogen
von der eigenen Wärme

 

winter beach
a piece of driftwood
charred at one end

winterlicher Strand
in Stück Treibholz
verkohlt an einem Ende

 

a deep gorge …
some of the silence
is me

eine tiefe Schlucht …
etwas von der Stille
bin ich

 

winter sun
a stranger makes room
without looking

Wintersonne
ein Fremder macht Platz
ohne zu schauen

 

snowy night
sometimes you can’t be
quiet enough

Schneenacht
manchmal kannst du nicht
still genug sein

 

new snow
the arc
the door makes

Neuschnee
der Bogen
den die Tür macht

 

one last look
through the old apartment
a dry sponge

ein letzter Blick
in die alte Wohnung
ein trockener Schwamm

 

thin winter coat
so little protection
against her boyfriend

dünner Wintermantel
so wenig Schutz
gegen ihren Freund

 

autumn wind
the leaves are going
where I’m going

Herbstwind
die Blätter gehen
wohin ich gehe

 

Alle Übersetzungen ins Deutsche von Dietmar Tauchner.

 

John Stevenson, ehemaliger Präsident der Amerikanischen Haikugesellschaft, ist gegenwärtig als Redakteur von Frogpond tätig, einem der ältesten und verbreitetsten englischsprachigen Haikujournalen.

 

Ersteinstellung: 05.01.2006