Tanka

Tanka von Dietmar Tauchner

Das Zimmer
voller Gesten und Stimmen
früherer Freunde …
kurz vor Tagesanbruch
öffne ich dem Wind die Läden.

Scheinwerferlichter
auf der Schneefahrbahn
suchen den Heimweg;
ringsum auf den Feldern
der volle Mond.

Der Schock
als ich zum ersten Mal
Opa
auf einem Foto sah:
er sah aus wie Hitler!

Irgendwo
schlägt ein Hund an.
Ich gehe weiter
und weiter, heimwärts,
unter funkelnden Sternen.

angebellt
von einem streunenden Hund
gehe ich weiter
über den Paß
weiter ins Tal

Eines Traums
kam ich übers Sonnenblumenfeld
in dein Haus
wo wir die Wunden schlossen
und die Wunder öffneten

 

Tanka von Gerd Börner

an dem Haus
das einst die Mauer teilte
vorbei
unter Kirschen nun
die alten Wege gehen

Eisnebel im Gras
und Knochensplitter;
schussvernarbt
stehen hohe Eichen
sonst leben keine Zeugen

Des Freundes Kummer:
die beiden Söhne leben
in Zwietracht …
Bei frischem Tee frage ich
Wie geht es deinem Bruder?

Die letzte Ernte
vor dem Bagger –
wieder vertrieben
ziehen zuerst die Toten
aus

kamst nicht mit
von Berlin nach Berlin
mein Freund
die Akten sagen
du warst keiner

 

Tanka von Udo Wenzel

Um das Feuer
die Flüchtlinge
das Meer
groß genug für
tausend Monde

In den Morgen
vom Garten herauf
glockenhell
die Stimme meiner Tochter –
ich lege mein Buch beiseite.

Rauschende Bäume:
Drachen, die ihre Rachen aufreißen
wider den Wind.
Nach dem Streit tobe ich
mit den Kindern ums Haus.

Atem holen
im Schatten der Birken;
ich halte
mein Röntgenbild
gegen die Sonne.

Blatt für Blatt
kehrt in den Garten
das Licht zurück,
lese ich sorgenvoll
den Befund.

Unsere Blicke
folgen dem Reiher
wie langsam doch
er sich hinaufschwingt
ins Abendlicht

Vorüber
die Hitze
die Nächte
wo wir uns liebten
zwischen den Monden

Handgeschrieben,
der abgegriffene Band
aus Vaters Regal –
in meiner Kindheit lesend
werden die Schatten länger.

 

Ersteinstellung: 10.09.2006