Die Betrachtung der Dinge

Dietmar Tauchner im Gespräch mit Turgay Uçeren

 

Vorbemerkung: Das Gespräch wurde für die türkische Netz-Zeitschrift Uta in deutscher Sprache geführt und in Türkisch erstveröffentlicht.

 

Turgay Uçeren: Lieber Dietmar Tauchner, auf ihrer Webseite bezeichnen Sie sich als Kurzlyriker. Diese Bezeichnung deutet für mich eine große Bindung von Ihnen zum Haiku an. Was ist für Sie Haiku?

Dietmar Tauchner: Da das Haiku eine lebendige Dichtungsform ist, halte ich eine letztgültige Definition für unmöglich und wenig sinnvoll. Zwar kann man die Techniken auflisten, die im traditionellen japanischen Haiku verwendet worden sind und immer noch verwendet werden, aber das sind mehr Richtlinien als feste Regeln. Grundsätzlich würde ich sagen: Lerne die Haikuregeln, damit du sie vergessen kannst.

Es gibt aber einige freie Definitionen, die mir sehr gut gefallen. Robert Spiess, der langjährige Herausgeber von Modern Haiku, meinte: das Haiku sei „ein offenes Geheimnis“; und Alan Watts nannte es „ein wortloses Gedicht“. Ich würde sagen, ein Haiku ist ein kurzes Gedicht, das meistens in konkreter, bildhafter Sprache eine Einsicht in das Wesen der Natur als solche und in die Natur des Menschen mit all seinen Erfindungen wiedergibt.

Turgay Uçeren: Ich habe auch gelesen, dass Sie längere Aufenthalte im Fernen Osten hatten. Welche Wirkungen hatten diese Aufenthalte in Ihrer Beziehung zum Haiku? Sind Sie vielleicht gerade während dieser Aufenthalte oder danach zum Haiku schreiben gekommen?

Dietmar Tauchner: Damals wusste ich so gut wie gar nichts über das Haiku, und ich bin auch auf meinen Reisen durch Nepal, China und Tibet nicht auf das Haiku gestoßen. Meine Beschäftigung mit dem Haiku hat erst später begonnen. Aber indirekt haben mich diese Reisen wahrscheinlich doch auf das Haiku vorbereitet. Da ich schon sehr früh an den Kulturen Asiens und besonders am Buddhismus interessiert war, lernte ich auf diesen Reisen vielleicht eine spezielle Weltsicht kennen, die sich später für das Schreiben von Haiku als nützlich erwiesen hat. Ich meine damit, eine akzeptierende Betrachtung der Dinge, wie sie sind, ohne sie durch das Denken unbedingt interpretieren zu müssen.

Turgay Uçeren: Welche Philosophie verbinden Sie mit dem Haiku?

Dietmar Tauchner: Philosophie und Haiku hängen nicht unbedingt miteinander zusammen. Im Haiku geht es nicht um irgend eine philosophische Überlegung, sondern vielmehr um eine reine Wahrnehmung dessen, was ist. Das Haiku erklärt nicht, es nimmt wahr!

Turgay Uçeren: Wie traditionell darf für Sie Haiku sein? Inwieweit halten Sie sich an die traditionelle Form (Regeln) bei Ihren Haikus?

Dietmar Tauchner: Ich halte wenig davon, Silben zu zählen, um genau 17 Silben zu verwenden. Ebenso halte ich wenig davon, dass ein Haiku unbedingt ein Kigo (also ein Jahreszeitenwort) enthalten muss. Wichtiger ist, dass die Erfahrung möglichst unverfälscht, ohne intellektuelle Einmischung, umgesetzt wird, einerlei wie viele Silben es dafür braucht. Ein Haiku muss ganz im Hier und Jetzt ankommen, einerlei, ob es sich dabei um ein traditionelles oder innovatives Haiku handelt.

Ich selbst schreibe Haiku in unterschiedlichen Formen, manchmal auch siebzehnsilbige, manchmal nur einzeilige, und halte mich an das Credo von William Burroughs, wonach das Bewusstsein seine Form wählt. Ich zähle also keine Silben, verlagere mich manchmal eher auf urbane und psychologische Themen, was eindeutig in Richtung Senryu geht, und beziehe mich immer gerne auf die Natur. Der Bezug zur Natur kann davor bewahren, zu gedankenlastig zu werden. Immerhin meinte auch Basho: Lerne von der Föhre über die Föhre.

Turgay Uçeren: In vielen Ihrer Haikus ist ein Bild aus Natur und der jetzigen Zivilisation zu sehen. Zum Beispiel:

Abreisetag
das Auto bedeckt
mit Blütenstaub

Für mich als Leser, der wissen muss, dass Haiku ein Momentanbild ist, ist es wie ein Blick in Ihr Lebensumfeld. Entspricht dieses Bild meiner Vermutung?

Dietmar Tauchner: Es stimmt. Die meisten meiner Haiku werden von meinem Lebensumfeld, von alltäglichen Begebenheiten, angeregt. Zwar schreibe ich mitunter auch fiktive Haiku, also solche, die ich mir ausdenke, aber meistens kommt die Inspiration aus der Beobachtung meines Lebensumfelds. Das erscheint mir auch wichtig: Ansonsten läuft man nämlich schnell Gefahr, dass die eigene Vorstellung die Wirklickeit überdeckt. Und die Wirklichkeit ist fast immer wirksamer als die Vorstellung.

Turgay Uçeren: Gibt es Haiku Meister, die eine besondere Wikung auf Sie haben?

Dietmar Tauchner: Von den alten Meistern bin ich besonders von Basho beeinflusst. Seine Leitworte, im 17 Jahrhundert aufgestellt, sind für mich immer noch inspirierend. Natürlich schätze ich auch Issa, Buson und Shiki. Außerdem hege ich uneingeschränkte Bewunderung für die Haiku von Taneda Santoka. Auch das Werk einiger zeitgenössischer Haijin ist für mich sehr ansprechend. Vor allem zur amerikanischen Haikuszene und ihren Autoren fühle ich mich hingezogen, wie zum Beispiel: Marlene Mountain, Jim Kacian, Barry George, George Swede … um nur einige zu nennen.

Turgay Uçeren: Sie haben als im Westen lebender Kuzlyriker auch den Osten kennengelernt. Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den Haiku-Schreibern beider Welten? Gibt es überhaupt für Sie Unterschiede?

Dietmar Tauchner: Eine interessante Frage. Ich denke, dass es kulturelle Unterschiede gibt, die sich in der Herangehensweise an das Haiku zeigen. Jemand der zum Beispiel in Japan aufwächst, hat andere Werte als jemand, der beispielsweise in Österreich aufwächst. Um es mit einer Paraphrase auf Immanuel Kant zu beantworten: Das Haiku ist zwar universiell, aber nicht absolut. Das bedeutet, dass zwar überall auf der Welt Menschen wunderbare Haiku schreiben können und auch tatsächlich schreiben (was ein Blick auf die internationale Haikuszene belegt); weil der „Haiku-Geist“ allen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft offen steht – dass aber überall andere kulturelle und soziale Raster angewandt werden, um dem Haiku-Geist Ausdruck zu verleihen. Wichtig ist dabei natürlich auch die Sprache. Manches, das sich in Türkisch wunderbar formulieren lässt, wird kaum ins Deutsche übersetzbar sein, und umgekehrt.

Turgay Uçeren: Warum schreiben Sie Haiku? Könnten Sie ein paar Beispiele geben?

Dietmar Tauchner: Um dem Wunder des Alltäglichen so nahe wie möglich zu sein.

Ein neues Jahr
die Fußspuren
zwischen Gräbern

Tauwetter
das Kind flüstert mir
ein Geheimnis ins Ohr

Almwiese
ein Kuhfladen entlässt
zwei Schmetterlinge

Frühlingswanderung
vorbei an einem Wegweiser
auf dem nichts steht

Sommermorgen
das Schlafzimmer
beginnt zu singen

ihre sms      fliederduft

Turgay Uçeren: Zum Abschluss bitte ich Sie um einige Ratschläge, gerichtet an die türkischen Haiku-Freunde.

Dietmar Tauchner: Ich möchte mit einem Basho-Zitat antworten: „Ich suche nicht, den Spuren der Alten zu folgen; ich suche die Dinge, die sie auch schon suchten.“ (Nach Dietrich Krusche. München, dtv 1994.) Vertrauen Sie auf Ihre Kreativität. Halten Sie Ausschau nach dem Neuen (atarashimi). Adaptieren Sie das Haiku gemäß Ihrer kulturellen und individuellen Bedingungen und Bedürfnisse. Und werfen Sie gelegentlich einen Blick auf die alten japanischen Meister. Kurz: Geben Sie dem Geist des Haiku ein Zuhause in der türkischen Sprache.

 

Ersteinstellung: 10.05.2006