Verpönt

Tabuthemen im Haiku & Senryu
Dietmar Tauchner

I

Im Duden wird der Terminus Tabu folgendermaßen definiert: „Tabu, etwas, das sich dem (sprachlichen) Zugriff aus Gründen moralischer, religiöser oder konventioneller Scheu entzieht.“

Was als verpönt gilt, verändert sich innerhalb historischer, sozialer und individueller Strukturen. Was heute ein Tabu sein mag, muss in Zukunft nicht auch eines sein. Was in einem Kulturkreis oder einer sozialen Schicht als unausprechlich gilt, kann anderswo ein freies Thema sein. Schließlich ist es von Mensch zu Mensch verschieden, was als Tabu gilt oder nicht.

Manche Tabus erscheinen offenkundig als sinnvoll; andere wieder erscheinen zweifelhaft, gelten als selbstverständlich, ohne aber begründbar zu sein. Ob allerdings eine sprachliche Zugriffsverweigerung auf gewisse Themen vonnöten beziehungsweise sinnvoll ist, mag von Fall zu Fall entschieden werden und sei hier dahingestellt.

Tabus entstehen, um die Welt des sozialen Miteinanders verträglich zu ordnen, um vor jenen chaotischen Kräften des Unbewussten zu schützen, die die rationale Ordnung einer Gesellschaft oder eines Individuums tatsächlich oder fiktiv bedrohen; sie trennen die Welt der Vernunft und Zivilisation von der Welt der Triebe und der Natur.

II

Nun gründet sich das Genre Haiku darauf, wach für den gegenwärtigen Moment zu sein, diesen in seiner Fülle und Ganzheit wahrzunehmen, möglichst ohne intellektuelle Selektion und sentimentale Projektion. Objekt und Subjekt werden eins. Diese Einheit, diese Ganzheit bedeutet: nichts auszuschließen. Folglich kennt das „ganzheitliche Haiku“ keine Scheu, auch jene Bereiche des Daseins aufzugreifen, die unangenehm sind oder verpönt werden, um ganz und gar in der Wirklichkeit zu fußen.

Die Wirklichkeit ist doppelwertig: Glück und Unglück, Leben und Sterben, Hass und Zuneigung … wie Yin und Yang ineinander verschränkt, einander gegenseitig bedingend. Konkret: Fäkalien sind genauso ein Teil der Wirklichkeit wie Forsythien oder Kirschblüten. Gewalt ist genauso ein Teil der Wirklichkeit wie Zärtlichkeit. Das Verpönte gründet auf das Halbe, Begrenzte, und ist deshalb dualistisch, das heißt, es trennt die Wirklichkeit in zwei seperate Teile. Um aber die ganze Wirklichkeit erfassen und verstehen zu können, müssen demnach sowohl die helle als auch die dunkle Seite wahrgenommen werden.

Dee Evetts schrieb in ihrer Kolumne „The Conscious Eye“: „It is axiomatic that no subject under the sun is inappropriate to haiku, in particular, and to literature in genral – neither vagrancy nor prostituiton, not impotence, senility, or physical disablement. All are part of life’s pageant, or in less purple language, what we completley and collectivly are. What matters is not the subject, but the writer’s attitude.“ (1)
„Es ist unumstößlich, dass kein Thema unter der Sonne unpassend für das Haiku im besonderen und für die Literatur im allgemeinen ist – weder Landstreicherei noch Prostitution, weder Impotenz noch Senilität oder körperliches Gebrechen. All das ist Teil des Festumzugs Leben, oder weniger pathetisch, Teil dessen, was wir ganz und gar sind. Was zählt ist nicht das Thema, sondern die Einstellung des Autors.“

Entscheidend ist nicht das Sujet, sondern die Intention und Geisteshaltung des Autors. Nimmt dieser wahr, was um ihn herum geschieht, versucht dieser die Wirklichkeit zu erfassen, ohne sie zu bewerten? Oder wird die jeweilige Wahrnehmung instrumentalisiert, einer bestimmten Haltung oder Wirkung wegen? Wird eine Seite des Daseins bewusst ausgeklammert, um die andere zu kompromittieren, ihre Wirklichkeit zu schmälern? Das nur Schöne ist genauso einseitig wie das nur Hässliche; das Beschönigen genauso wie das bloße Schockieren-Wollen. Weder das eine noch das andere macht die Wirklichkeit allein aus.

 

Freilich gibt es Unterschiede in der Herangehensweise zwischen Haiku und Senryu: Das Senryu erfüllt durchaus eine aufklärerische Funktion, es zeigt die Doppelmoral auf, entlarvt die Schwächen und Widersprüche der Menschen und nutzt dazu die zahlreichen Möglichkeiten des Humors.

the official’s little son –
how fast he’s learned to open
and close his fist . (2)

Des Beamten kleiner Sohn –
wie schnell er gelernt hat,
die Faust zu öffnen und zu schließen.

Eines der berühmtesten japanischen Senryu. Darin werden die ersten Bewegungen eines Kleinkinds auf eine gängige Metapher für Korruption, „die Hand aufhalten“, bezogen.

when the night falls
the day starts to break
on the brothels (3)

Bei Einbruch der Nacht
beginnt der Tag
in den Bordellen

Das Haiku hingegen hat keine aufklärerische oder entlarvende Absicht, sondern beobachtet absichtslos; es nimmt die dunklen, verpönten Seiten ohne Scheu und moralische Intention genauso auf, wie das Schöne und Helle. Da im Haiku das Wesentliche zumeist unausgesprochen bleibt, wird das Tabu scheinbar bestätigt. Tatsächlich verlagert sich das Verpönte in die Vorstellung, wo der Rezipient entscheidet, ob und in welcher Form es Wirklichkeit wird oder nicht.

 

after pissing
rinsing my hands …
hard winter rain (4)

Nach dem Pissen
die Hände abspülen …
heftiger Winterregen

Issa

 

dog shit
or me …
the fly doesn’t care (5)

Hundescheiße
oder ich …
der Fliege ist’s egal

Stanford M. Forrester

 

Eine klare Unterscheidung zwischen Haiku und Senryu ist keineswegs immer leicht, wie die folgenden Beispiele zeigen.

 

out of kindness now
I shout at my father
going deaf (6)

aus Güte nun
ich schreie Vater an
der taub wird

Kevin Brophy

 

hospice visit he still beats me at chess (7)

Hospizbesuch er schlägt mich noch immer im Schach

Joanna Preston

 

Beide Beispiele haben nicht mehr die Natur im engeren Sinne zum Gegenstand, sondern den Menschen, der traditionell eher ins Gebiet des Senryu fällt. Diese „ernsten Senryu“ zeigen nicht die komische, sondern die tragische Seite des Daseins auf. Der Mensch selbst wird als Teil der Natur natürliches Sujet des Textes. Das allein ist mitunter ein Tabu, denn damit muss auch, um die Glaubwürdigkeit zu wahren, von Menschlichem die Rede sein und von Menschen, die zwischen den Polen pendeln, permanent in ambivalenten Situationen interagieren. Die jeweils andere Seite ist ein dynamischer Bestandteil der Wahrnehmung geworden, oder richtiger: immer schon gewesen.

 

Im folgenden sollen einige Haiku und Senryu vorgestellt werden, die sich dem Verpönten auf unterschiedliche Art und Weise nähern, um ganz und gar in der Wirklichkeit zu stehen:

 

Immer wieder
fragt sie, wer ich sei.
Mutter …

Großer Empfang.
Der Ehrengast
furzt

Vermintes Land –
auch ihre Puppe
hat nur ein Bein

Eiskalt, die Nacht.
Sie sei die Tochter
ihres Großvaters

Familientreffen –
ein Onkel erhebt sich
zum Hitlergruß

Andrea D’Alessandro

 

nasse Hose
merkt er
jetzt nicht mehr

einen Kübel Wasser
in der Frostnacht
vor Nachbarins Haus

erste Falten
auf deiner Haut
noch siegt die Lust

Vater mit Stahlhelm
spüre wieder
die Schläge

Zebrastreifen
wippender Arsch
im Scheinwerferlicht

ihre Brustwarzen
Jesusprediger
verhaspelt sich

Martin Berner

 

Betreutes Wohnen –
auf dem Kackstuhl
die Hände gefaltet

Straßenfest –
wie es lacht, das Kind
mit der Glatze

Frische Aster –
schneide Vater
die Fußnägel

Auf dem Arm
Altersflecke
zwischen den Zahlen

Unter die Bluse …
zu spät
löst sich der Blick

Gerd Börner

 

Im Schnee
mein Weg,
zwischen Pinkelmarken.

Neujahresvorsätze …
An der Bushaltestelle
dann die Kotze.

Volker Friebel

 

Winternacht –
schwer einzuordnen
die Schreie nebenan

Im Hotel
die dünnen Wände
und der Neid

In der Badewanne
ausgerutscht
sagt sie

Beim Kinderarzt
die Blutergüsse
erklären

Jochen Hahn-Klimroth

 

Am Badesee.
Kein Wort rutscht ihm raus,
aber ein Hoden.

Thomas Hemstege, Vierteljahresschrift der Deutschen Haikugesellschaft, Nr. 48, März 2000

 

Oh diese Hitze!
Die Marktfrau zupft Blumen
und Busen zurecht.

Ingrid Kunschke

 

von allen angestarrt –
die geliebte
des pfarrers

gestreichelt heute
von händen,
die schlugen

Ramona Linke

 

erster schnee
bleibe im bett
mit einer latte

Weihnachtsverkauf
ein Alter mustert
den Arsch der Verkäuferin

Ich furze
stürmischer Applaus
im Radio

Erster Kriegstag
an einer sonnigen Wand
machen zwei Fliegen Liebe

aus dem Bordell
denke an Weihnachtsgeschenke
für die Kinder

Dietmar Tauchner

 

Blinde Mauer.
Im gleißenden Schnee
pisst eine Katze

Udo Wenzel

 

Leder, Latex, Peitschen…
das Hündchen zieht
an der Leine

Angelika Wienert

 

(1) A Glimpse of Red, Red Moon Anthology 2000, Red Moon Press, Winchester, 2001

(2) Makoto Ueda, Light Verse from the Floating World, An Anthology of Premodern Japanese Senryu; Columbia University Press, 1999

(3) ebenda

(4) übersetzt von David G. Lanoue, Cup-of-Tea-Poem, Asian Humanities Press, Berkley, California, 1991

(5) Edge of Light, Red Moon Anthology 2003, Red Moon Press, Winchester, 2004

(6) A Glimpse of Red, Red Moon Anthology 2000, Red Moon Press, Winchester, 2001

(7) The loose Thread, Red Moon Anthology 2001, Red Moon Press, Winchester, 2002

 

Ersteinstellung: 08.03.2005