Gegen den Strom

Ein Gespräch über das Haiku
zwischen Hubertus Thum (HT) und Volker Friebel (VF)

 

VF: In einem Gespräch mit Dietmar Tauchner, „Ein Fenster zum Meer“ (2007), sagst du am Schluss: „Wörter schreiben die Dinge fest. Aber die Dinge sind nicht fest; sie sind ein leuchtendes, niemals endendes Strömen und Pulsieren.“ So werden sie in jedem Moment auch neu sich anbieten und zu fassen sein. Ich freue mich sehr, dass du dich wieder zu einem Gespräch über das Haiku bereit erklärt hast. Womit wollen wir beginnen?

HT: Beginnen wir bei den Wurzeln. Wir sind nun einmal keine Japaner und sprechen ihre Sprache nicht, abgesehen davon, dass wir einem ganz anderen Kulturkreis angehören. Dass hierzulande der Begriff „Haiku“ nicht längst durch einen anderen Terminus wie Kurz- oder Kürzestgedicht, poetische Miniatur, Mikrogramm o.ä. ersetzt wurde, macht mich einigermaßen fassungslos. NIEMAND im gesamten Abendland schreibt Haiku, sondern lediglich marginal davon beeinflusste Formen. Haiku ist, wie das Nō-Theater, etwas spezifisch Japanisches. Überhaupt ist mir die in unseren Kreisen häufig anzutreffende Nachahmung kultureller japanischer Errungenschaften, vom Haiga bis zum Renhai, höchst suspekt. Das ist reinster (kunstgeschichtlich längst überholter und zum Teil ziemlich unbeholfener) Japonismus.

VF: Westliche Haiku lassen sich allerdings nur mit den Übersetzungen japanischer Haiku vergleichen, kaum mit japanischen Haiku im Original. Dennoch gibt es etwas, das durch alle Unterschiede und Missverständnisse aus dem japanischen Haiku den Weg in die deutschsprachige Lyrik gefunden hat: der Moment. Und das Selbstbewusstsein von Dichtern, dass ein erlebter Moment und die Herstellung eines Moments im Dichter ausreicht für ein Gedicht. Auch in europäischen Gedichten älterer Zeit tauchten immer wieder solche Momente auf. Aber eingebunden in längere Gedichte. David Cobb hat in seiner Anthologie „Euro-Haiku“ (2007, Seite 34) etwas verändert den Schluss des Gedichts „Hälfte des Lebens“ von Hölderlin aufgenommen: „… die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / klirren die Fahnen“. In die „Anthologie der Deutschen Haiku“ von Sakanishi und Mitarbeitern (1979) wurden andere Verse aus längeren Gedichten deutschsprachiger Autoren aufgenommen, etwa von Alfred Mombert: „Über gelben Blättern, / niederwehend bei kalten Brunnen … / die ferne Flöte.“ Dass der Moment für ein Gedicht reicht – das gab es in der abendländischen Lyrik nicht. Das stammt aus dem japanischen Haiku. Ich empfinde es als eine Verbeugung vor den japanischen Dichtern, die das geleistet haben, wenn ich für solche Augenblick-Gedichte den Namen „Haiku“ verwende. Und damit das Verbindende zwischen den Versen unserer allerdings sehr verschiedenen Kulturen betone.

HT: Wie du ganz richtig bemerkst, lieber Volker, enthalten auch viele Gedichte in westlichen Sprachen das, was die Theorie den „Moment“ des Haiku nennt. In meinem Verständnis ist dieser Augenblick des plötzlichen Aufleuchtens der poetischen Erfahrung allerdings das Kennzeichen aller Lyrik, gleich welcher Sprache, die diesen Namen überhaupt verdient. Von Goethes Wandrers Nachtlied über Gottfried Benns Welle der Nacht, bis hin zu dem unvergleichlichen Gedicht Nur damit du Bescheid weißt von William Carlos Williams:

Ich habe die Pflaumen
gegessen
die im Eisschrank
waren

du wolltest
sie sicher
fürs Frühstück
aufheben

Verzeih mir
sie waren herrlich
so süß
und so kalt

Der „Moment“, von dem der Autor ergriffen wurde, muss nicht immer so explizit erkennbar sein wie in Hölderlins Hälfte des Lebens. Er ist jedenfalls nicht das alleinige Merkmal des japanischen Haiku. Im Gegenteil, er bestimmt – auch in der westlichen Hemisphäre – die Natur der poetischen Erfahrung, er ist der poetische Kern des Gedichts. Wir haben es also mit einem überall zu beobachtendem literarischen Phänomen zu tun.

Ich vermute seit Langem, dass der von dem irischen Schriftsteller James Joyce in die Literatur eingeführte Begriff der „Epiphanie“ (Erscheinung) ein Synonym für diesen Moment ist oder ihm in wesentlichen Einzelheiten ähnelt. Seine Definitionen sind jedoch, gewollt oder ungewollt, derart unscharf und die Beispiele im Werk so widersprüchlich, dass ich bei meinen Recherchen bisher zu keiner abschließenden Beurteilung gekommen bin.

VF: Das altgriechische Wort meint eigentlich die Erscheinung eines Gottes unter den Menschen, heute wird es fast nur noch christlich verwendet. Ich empfinde auch, dass für das, was in der Dichtung geschieht, ein Wort fehlt. Mit dem dafür immer noch gelegentlich gebrauchten „Haiku-Moment“ war ich nie recht glücklich. Nietzsche hat es ohne Bezug auf religiös verwendetes Vokabular vom Prozess her und als Inspiration zu fassen versucht. Er schrieb: „Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand.“

HT: Das ist ein ausgesprochen interessanter Aspekt, dem weiter nachgegangen werden sollte. Aber verweilen wir noch beim Haiku. Gewiss, indem sie den siebzehn Silben umfassenden Eröffnungsvers aus ihrer Renga-Kettendichtung herauslösten, ist den Japanern ein genialer Schachzug gelungen. Sie gaben ihm den Namen Hokku (später Haiku) und schufen damit eine auf das Äußerste verknappte lyrische Kunstform, nicht mehr und nicht weniger als die Blitzlichtaufnahme des Augenblicks der poetischen Inspiration.

Der Westen hingegen ist gesprächiger in seiner Lyrik; ihr fehlt weitgehend der Hang zur Prägnanz. Sie sieht den Apfel statt des Kerns, der seine Essenz ist und bereits alles enthält, was die Frucht – und den Baum! – ausmacht. Doch auf ihre Weise hat sie, was nicht vergessen werden sollte, ebenfalls bedeutende Sprachkunstwerke hervorgebracht.

Um das Bild auf den Punkt zu bringen: Westliche Lyrik beschreibt im Gedicht den ganzen Apfel: Form, Farbe, Duft, taktile Eigenschaften. „Haiku“ hingegen verschafft dem kreativen Leser die Möglichkeit, im winzigen Kern die ganze Frucht und den Baum zu sehen und so mit seinen Assoziationen, Gefühlen und inneren Bildern am schöpferischen Prozess teilzuhaben. Auf diese grundlegende Andersartigkeit ist wahrscheinlich das weitgehende Unverständnis der westlichen Welt für das Haiku zurückzuführen.

Es gibt, meine ich, dennoch keinen Grund vor der Leistung japanischer Dichter in Ehrfurcht zu erstarren und aus Sympathie auf einen fremdartigen Begriff wie „Haiku“ auszuweichen. Mir ist natürlich bewusst, dass dieser Begriff inzwischen im deutschen Wortschatz verankert ist. Seine unterschwellige Exotik hat die Akzeptanz und Rezeption des neuen Genres im Abendland jedenfalls nicht beflügelt, und ich hoffe immer noch auf den Geistesblitz eines Schreibenden, der dem deutschen „Haiku“ seinen wirklichen Namen, den einzig richtigen, verleiht.

VF: Lange Zeit war für das deutschsprachige Kurzgedicht allerdings alleine das Shasei-Konzept von Shiki maßgeblich: Realistische Wahrnehmung der Umgebung, das eigene Ich mit seinen Wertungen, Gedanken, Gefühlen soweit möglich zurückstellen. Du hast das schon früh als zu eng kritisiert, niedergelegt in deinem Aufsatz „Objektivität und Subjektivität im Haiku“. Ich habe den Eindruck, dass die letzten Jahre immer weniger Wert auf realistische Texte im Sinne des Shasei gelegt wird und sich die dichterische Gestaltung von Haiku der traditionellen westlichen Lyrik annähert. Bist du mit dieser Entwicklung zufrieden?

HT: Shasei, Masaoka Shikis „Skizze nach dem Leben“, ist eine wesentliche Errungenschaft, die auch die Gedichte der Imagisten (siehe das Gedicht von William Carlos Williams oben) erheblich beeinflusst hat. Nur der flüchtige Beobachter kann schließen, dass unter der Oberfläche der Dinge (und zwischen ihnen) nichts geschieht. Ernest Hemingways bewundernswert „karge“ realistische Prosa ist der schlagende Beweis des Gegenteils.

„Shasei“ wird nie aus dem Kurzgedicht verschwinden. Wogegen ich mich wende, ist seine von Shiki propagierte Ausschließlichkeit, die er aber durch eigene subjektive Gedichte höchstpersönlich ad absurdum geführt hat. Ogiwara Seisensuis Gedicht An der heißen Quelle (siehe unten) zeigt, dass Subjektivität in der modernen japanischen Kurzlyrik längst etabliert ist.

Objektivität ist also nur die Hälfte der Orange. Auch das subjektive Gedicht hat seinen berechtigten Platz, sind wir doch Nacht für Nacht Träumende, selbst wenn wir uns morgens an nichts erinnern. Wie also schreiben? Am Schluss meines Aufsatzes findet sich die Lösung: „Erst wenn der Jäger die Waffe vergisst, wird die Jagd zur Kunst.“

VF: Ich habe den Eindruck, dass du das Haiku im deutschsprachigen Raum gegenüber der etablierten Lyrik eher schlecht aufgestellt findest. Mir geht es umgekehrt. Ich finde die gegenwärtige Lyrik in einem erbärmlichen Zustand. Etablierter Lyriker zu sein bedeutet, in einem kommerziellen Verlag zu veröffentlichen und vielleicht tatsächlich die ganze Auflage von vermutlich 300 Exemplaren zu verkaufen, überwiegend an Lehrer, die die professionell-begeisterte Rezension eines Kultur-Journalisten auf den Seiten einer Tageszeitung gelesen haben und meinen, sie müssten sich für ihren Deutschunterricht mal wieder auf den neusten Stand bringen. Ich habe mir Texte aus einem Poesieautomaten notiert und fand die Texte gelobter Dichter davon nicht wirklich verschieden. Schwebende sinnfreie Texte zu schreiben, kann der Poesieautomat oft sogar besser. Eine ganze Anzahl etablierter Lyriker hat sich auch am Haiku versucht. Die Ergebnisse finde ich fast durchweg miserabel. Dagegen sehe ich gegenwärtig eine ganze Anzahl von Menschen, die sehr gute Haiku schreiben können.

HT: Dein Eindruck trügt, soweit es mich betrifft. Mit der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik kann ich kaum etwas anfangen. Wie ich an anderer Stelle sage: Nur Wenige sind zum Handwerk des Dichters oder Lyrikers berufen, doch Viele halten sich dafür.

Auf der anderen Seite steht die deutsche Lyrikszene, die ihrerseits dem „Haiku“ wenig abzugewinnen weiß.

VF: Ich habe deshalb vor, eine Anthologie des deutschsprachigen Haiku in Angriff zu nehmen.

HT: Dein begrüßenswertes Projekt einer mehrbändigen Anthologie des deutschen „Haiku“ weckt bei mir hohe Erwartungen, aber auch Besorgnis, haben wir es doch gerade in diesem Genre – und das war schon zur Zeit der japanischen Klassiker so und gilt selbstverständlich auch für meine eigene dreizeilige Hinterlassenschaft – mit reichlich Mittelmaß und wenigen herausragenden Texten zu tun, legt man literarische Bewertungskriterien zugrunde. Für den Spagat zwischen diesen beiden Extremen, der in einer Anthologie sehr kurzer Gedichte, die Bestand haben soll, vollzogen werden muss, wünsche ich dir deshalb eine glückliche Hand. Ich hoffe, dass die Anzahl der zu veröffentlichenden Arbeiten den interessierten Leser nicht erdrückt. Aus eigener Anschauung und von den Lese-Erfahrungen anderer weiß ich nämlich, dass die gleichförmige Struktur der Haiku-Miniaturen – besonders jener mit dem Break nach der ersten Zeile – bei der Lektüre schnell ermüdend wirkt. Kern reiht sich an Kern. Du kennst ja meine Auffassung, die ich im Projekt Sperling und im Netz unter Haikuscope immer konsequent umgesetzt habe: Eigentlich müsste jedes gelungene „Haiku“ für sich allein auf einer Seite stehen – und mehr als eines sollte dem Leser am Tag nicht zugemutet werden. (Hier darf jetzt ein von dir gesetztes, nachsichtig lächelndes Emoticon stehen).

VF: Künstliche Intelligenz kann auch dichten. Ich meine nicht den Poesieautomaten, der ist nicht intelligent. Ich meine Hua Zhibing, die erste virtuelle Studentin, die sich 2021 an die Tsinghua-Universität in Beijing eingeschrieben hat. Wenn KI nicht nur Probleme lösen und Autos fahren, sondern auch dichten kann, was bedeutet das für die Lyrik? KI wird kein Fehler im Reim oder im Metrum unterlaufen. Außer sie will es. In der Konkurrenz mit der Künstlichen Intelligenz stellt sich die Frage nach dem, was unsere Menschlichkeit ausmacht, drängender denn je. Wohin zurück zieht sich der menschliche Lyriker?

HT: Ich habe schon um 1990 meinen ersten PC, der über einen riesigen Monitor, aber lediglich 40 MB (!) Speicherkapazität verfügte, mit einem einfachen Programm dazu gebracht, „Haiku“ aus Versatzstücken zu komponieren, mit denen ich ihn vorab gefüttert hatte. Natürlich handelte es sich dabei nicht um KI, sondern eher um eine Art Haiku-Generator. Rund neunzig Prozent der Ergebnisse waren Ausschuss, aber zehn bis fünfzehn Prozent (also in etwa die Quote, die der „Haijin“ an Brauchbarem produziert) waren akzeptabel, wenige sogar recht gelungen.

Hinter KI steht letztlich auch der Mensch in Gestalt ihrer zahllosen Entwickler, denn sie entsteht ja nicht, wie das Universum, durch den Urknall oder die Evolution molekularer Strukturen. Wenn ihr dann jemand die Texte aller bis dato geschriebenen „Haiku“ einflüstert, können sich deren Autorinnen und Autoren, fürchte ich, zur Ruhe setzen. Haiku schafft sie … Bei herkömmlichen Gedichten wird es möglicherweise schwieriger. Dann schlägt die Stunde des deutschen Langgedichts, der berüchtigten Laberlyrik – und ich werde mich weiterhangeln in die nächste Galaxie, zum nächsten habitablen Exoplaneten.

VF: Du bist schon lange mit dem Haiku unterwegs. Wann hast du das Haiku kennen gelernt? Und gleich selbst Haiku geschrieben?

HT: Das muss 1962 oder 1964 gewesen sein. Damals hatte ich eine Lesung von Manfred Hausmann besucht, in der er seine Übertragungen japanischer Haiku und Tanka rezitierte. Ich war, ohne dass ich den Grund zu benennen wüsste, davon regelrecht ergriffen und verbrachte etliche Wochen in einem eigenartigen Zustand, den man ohne weiteres als spirituellen Höhenflug, Rausch oder Ekstase bezeichnen könnte: Ich sah, dass die Welt ihre Gedichte vergessen hatte. Sie lagen als Kiesel am Wegrand, wuchsen dort als Gras.

Also beschaffte ich mir Hausmanns schmalen Band mit dem ziemlich reißerischen Titel Liebe, Tod und Vollmondnächte, blätterte beinahe täglich darin und begann irgendwann mit ersten Schreibversuchen. Greifbare Literatur oder Arbeitsanleitungen gab es damals in deutscher Sprache kaum. Du kannst dir vorstellen, wie meine ersten „Haiku“ mit ihren peinlich berührenden Rückgriffen auf literarische Klischees und verbrauchte „poetische“ Sprachmuster aussahen. Ich besaß nicht die geringste Vorstellung, auf welch langen und steinigen Weg ich mich begeben hatte.

VF: Wenn du das japanische Haiku und das westliche Kurzgedicht so wenig vergleichbar findest, lehnst du dann den Bezug auf die japanischen Klassiker ganz ab?

HT: Die japanischen Klassiker, u.a. Bashō, Buson, Issa, Kikaku, Onitsura und Shiki, nehme ich gern als Pioniere zur Kenntnis; näher stehen mir aber die Modernen, z.B. Ogiwara Seisensui mit seinem freien Metrum. Mit der vierbändigen Anthologie von R.H. Blyth (in englischer Sprache) steht eine umfangreiche Sammlung klassischer Haiku zur Verfügung; bei den späteren Autoren ist die Lage weniger übersichtlich. Hier zwei Beispiele von Seisensui, das erste davon sogar mit Überschrift:


An der heißen Quelle

Vom Rand des Badebeckens
da fließt die Stunde schweigend über


Weizen wächst
das Hüpfen eines Kinderballs


VF
: Ein augenfälliger Unterschied des Haiku zur etablierten Lyrik ist der große Einfluss von Gruppen und Gesellschaften für den Austausch zwischen den Dichtern. Was hältst du davon?

HT: Beim gemeinsamen Schreiben mit Gleichgesinnten stellt sich nach meinen Erkenntnissen bald Monotonie der Ergebnisse, manchmal sogar ein gewisses Maß an Selbstgefälligkeit ein. Das ist ein schleichender Prozess, der durch die Abschottung gegenüber Andersdenkenden und gegen Kritik begünstigt wird. Schreiben ist im Grund ein einsames Geschäft.

VF: Schließt das auch Lesen als Lernen mit ein? Was hältst du von Besprechungen oder Interpretationen ausgewählter Haiku?

HT: Die „richtigen“ Gedichte lesen, um sie zu goutieren und daraus zu lernen, ist ein guter Anfang, dem bekanntlich ein Zauber innewohnt. Aber welche sind die richtigen unter den vielen, die kursieren? Erkennt der Leser irgendwann auch die weniger guten, ist schon viel gewonnen. Er darf die guten sogar imitieren oder variieren, nur veröffentlichen sollte er diese Fingerübungen nicht. Damit würde er bei den Kennern der Szene nur Heiterkeit hervorrufen.

Besprechungen und Interpretationen, selbst wenn sie für den Verfasser günstig sind, kann ich mir allenfalls als seltene Ausnahmen und ausschließlich zu didaktischen Zwecken vorstellen. Das zwangsläufige Ergebnis dieser kopflastigen Zertrümmerung ist nämlich die vollständige Auslöschung des zerbrechlichen poetischen Gebildes „Haiku“, das ich gern mit den schwerelosen Mobiles des Künstlers Alexander Calder vergleiche. Das ist besonders bedauerlich, wenn es sich dabei um gelungene oder sogar herausragende Arbeiten handelt. Das „Haiku“ will in der Stille betrachtet, seine sprachlichen Bilder und die sich einstellenden Assoziationen wollen gesehen, empfunden, reflektiert und nicht öffentlich erörtert oder zerredet werden. Der kostbare Augenblick – in der „Besprechung“ wird er zur Stunde verwässert. Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass Gedichte nicht nur aus Wörtern gebildet, sondern auch dadurch zerstört werden können. Ich weiß, wovon ich rede, habe ich mich doch einige Male zu „Besprechungen“ verleiten lassen und war anschließend unglaublich beschämt, mich darauf eingelassen zu haben.

Und „Interpretationen“? Die Offenheit des Haiku, seine wenigen, am Rand des Schweigens gesprochenen Worte, können zu kuriosen Fehleinschätzungen führen. Neulich las ich irgendwo die Meinung, im Haiku

erster schnee
den ganzen morgen
kein wort

„menschele“ es. Was immer damit gemeint sein sollte: Ich habe traurig in die vorgehaltene Hand gelächelt; selten habe ich mich derart missverstanden gefühlt.

Das Beispiel zeigt klar die Gefahren, die in der Skizzenhaftigkeit des „Haiku“ und in der Vielfalt der Assoziationen liegen, die durch die Lebenserfahrung des Lesers mitgeprägt werden.

VF: Was darf jemand erwarten, der zu schreiben, der Verse zu schreiben beginnt?

HT: Als den größten persönlichen Gewinn bei der Beschäftigung mit dem Haiku sehe ich nicht die Verfassung überragender Kurzgedichte, sondern die allmähliche Entwicklung sprachlicher Kompetenz und literarischer Sensibilität. Zum „Dichter“ sind leider nur Wenige berufen, deshalb sollte mit diesem Begriff in Haiku-Kreisen viel behutsamer umgegangen werden. Deutschlehrern habe ich das Haiku hingegen immer wieder als geeigneten Unterrichtsstoff empfohlen, und diejenigen, die darauf eingegangen sind, haben damit beste Erfahrungen gemacht, schon in der vierten Grundschulklasse.

VF: In deinem Vortrag „Traumlieder“ zitierst du eine alte Indianerin: „Alle unsere Lieder kommen aus Träumen“. Und dass unser Weg alles zu heilen und für alles zu sorgen, darin liege, zu singen (Thum 2008, Seite 39). Ist Dichtung für dich damit auch ein Mittel zur Gesundung der Welt?

HT: Das ist eine großartige Vision, nicht wahr? Aldous Huxley oder H. G. Wells hätten sie in einem ihrer utopischen Romane aufgreifen können!

VF: Es gäbe noch viele interessante Themen der Dichtung, für dieses Mal wollen wir es aber mit dem Gesagten bewenden lassen. Vielleicht können wir das Gespräch später einmal fortsetzen. Ein Haiku zum Abschluss?

HT: Ja, ein Kurzgedicht:

Treibende Blätter
ein Mann
rudert gegen den Strom

 

Unter www.haikuscope.de findet sich ein weiteres Gespräch, das Dietmar Tauchner 2007 mit Hubertus Thum führte. Es wird als ergänzende Lektüre empfohlen.

 

Hubertus Thum lebt zurückgezogen in der Nähe von Hannover und lernte das Haiku vor annähernd sechzig Jahren kennen und schätzen. Seit mehr als fünfzig Jahren hat er – mit einigen Unterbrechungen – immer wieder Kurzgedichte verfasst; seit Ende der 1990er Jahre ist er mit seinen Arbeiten auch im Internet hervorgetreten. 2007 bis 2009 gab er die E-Zeitschrift Projekt Sperling heraus. Fünf Jahre hindurch war er Initiator und Mitherausgeber von Haikuscope (2010-2014). Für seine Kurzgedichte erhielt er verschiedene Auszeichnungen, u.a. den Ersten Preis der Jahresauswahl 2007 der japanischen Tageszeitung Mainichi Shimbun (Mainichi Daily News).

 

6 Haiku von Hubertus Thum, vom Autor ausgewählt

Geschlossene Lider
die Welt
eine Lerche

erste Schneeflocken
auf meinen Händen das Gewicht
des Himmels

dieses Rauschen im Regen
von dort
komme ich her

das Haus der Kindheit
mein Hauch
am kalten Spiegel

leere Kapelle
die Sperlinge fliegen
ein und aus

ein Regentropfen
fällt in die Teetasse
bewegt den Himmel

 

6 Haiku von Hubertus Thum, von Volker Friebel ausgewählt

Fliederduft
das vergessene Zimmer
in meinem Haus

Basar
die Augen des Mädchens
das seine Schuhe verkauft

Magnolienknospen
die Lider
der Auferstehenden

Bestirnter Himmel
ohne Ende dreht sich
die Töpferscheibe

Stringtheorie
im Raum zwischen zwei Formeln
Kammermusik

Immer länger
die Pausen zwischen den Worten.
Sonnenuntergang

 

Literatur

Thum, Hubertus (2003): Objektivität und Subjektivität im Haiku. http://www.haikuscope.de/pdf-dateien/Thum_ObjektiviaetSubjektivitaetHaiku.pdf

Thum, Hubertus (2004): Mond und Spiegel. Das Haiku im Werk von Jorge Luis Borges. Vierteljahresschrift der Deutschen Haikugesellschaft. 17. Jahrgang, Nr. 65 (Juliheft 2004).9-16. (Nicht im Internet).

Thum, Hubertus & Dietmar Tauchner (2007): Ein Fenster zum Meer. http://www.haikuscope.de/pdf-dateien/FensterZumMeer.pdf

Thum, Hubertus (2009): Am andern Ufer. Das Haiku in Spanien und Hispanoamerika. Sommergras. Vierteljahresschrift der Deutschen Haikugesellschaft. 22. Jahrgang, Nummer 84 (Märzheft 2009). 24-26.

Rezensionen von Hubertus Thum in den Ausgaben der Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft der Jahrgänge 16, Nr. 60 (Märzheft 2003). 28-30; 16, Nr. 61 (Juniheft 2003). 41-42; 16, Nr. 63 (Dezemberheft 2003). 29-31; 18, Nr. 70 (Oktoberheft 2005). 28.

Als ergänzende Lektüre zum hier vorliegenden Gespräch empfohlen.

Thum, Hubertus (2008): Traumlieder – Vom Haiku und seinen vergessenen Wurzeln. Vortrag beim Frankfurter Haiku-Kreis, 27. Oktober 2007. Sommergras. Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft. 21. Jahrgang, Nummer 81 (Juniheft 2008). 30-50. Auch: http://www.haikuscope.de/pdf-dateien/Thum_Traumlieder.pdf

Einige dieser und weitere Texte von Hubertus Thum finden sich auch auf: http://www.haikuscope.de/texte.htm

Haiku von ihm sind in den Haiku-Jahrbüchern 2003-2005, 2007-2008, 2010-2016 zu lesen: https://www.haiku-heute.de/jahrbuch/

 

Zur Übersichtsseite Autorenseiten